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Postwachstum und Suffizienz in Stadt- und Raumplanung

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Bericht aus einer Fachsitzung auf dem Deutschen Kongress für Geographie 2019

Ein Trend zum Postwachstum erfasst im Jahr 2019 viele wissenschaftliche Veranstaltungen. Fast parallel zur Konferenz „Great Transformation: Die Zukunft moderner Gesellschaften“ in Jena fand vom 25. bis 30. September der Deutsche Kongress für Geographie in Kiel statt. In der traditionell breit gefächerten Veranstaltung widmeten sich fünf Fachsitzungen explizit dem Thema Postwachstum. Zahlreiche weitere Vorträge diskutierten Fragen und Ansätze von Postwachstum, wie etwa im Kontext gesellschaftlicher Transformationen und der Reflexion eines Anthropozän. Die Anzahl und Vielfalt der Beiträge verdeutlichten den Stellenwert, der Postwachstums-Debatten in den Raum- und Sozialwissenschaften gegenwärtig zukommt. Hierunter finden zunehmend auch planerische Fragen in Theorie und Praxis Resonanz.

Starten wir mit offenen Gedanken: Der Begriff der Nachhaltigkeit ist in Politik und Verwaltung zwar tief verankert, aber in bestehenden Praktiken zu oft zu einer Floskel verkommen. Er verfügt nicht (oder nicht mehr überall) über die Wirksamkeit einer sozial-ökologisch begründeten Handlungsmaxime. Ein Grund hierfür ist, dass im Nachhaltigkeitsdiskurs die Ökonomie entweder explizit oder latent vorangestellt wird oder in jeder Entscheidung mindestens gleichberechtigte Säule bleibt. Die Wirkbeziehungen verschiedener – individuell ökologisch und sozial nachhaltiger – Projekte kumulieren diese Vorrangstellung der Ökonomie. Postwachstum geht insofern weiter als Nachhaltigkeit und strebt eine grundlegende Neuorientierung aller gesellschaftlichen Bereiche unter veränderten Formen des Wirtschaftens an, die nicht dem Wachstumsimperativ folgen.

Die Fachsitzung „Praktiken und Infrastrukturen zur Ermöglichung einer postwachstumsorientierten Transformation“ griff diese Fragen auf und richtete einen planerisch motivierten Blick auf Postwachstum im Sinne einer Postwachstumsplanung. In diesem Beitrag wird darüber berichtet und mit Hilfe von Gedanken zur Suffizienz weitergedacht.

Rückblick

Der Begriff Postwachstumsplanung – in Anlehnung an beispielsweise das Kollektiv Postwachstumsplanung – transportiert mindestens auf zweierlei Weise den Leitgedanken einer veränderten Planung. Einerseits Ziele einer ressourcensparenden, sozial-ökologisch verantwortungsvollen Entwicklung in der Praxis (etwa in der Entwicklung von Wirtschaftsräumen, Siedlungsgebieten oder im Feld der Verkehrsplanung). Andererseits zugleich die Herausforderung, durch planerische Lösungen sozial-ökologisch verantwortungsvolle gesellschaftliche Praktiken zu ermöglichen und zu lenken (etwa durch die Förderung emissionsarmer Formen der Mobilität).

Auf theoretischer Ebene stellte Jana Kühl einführend vor, inwiefern das Konzept der Suffizienz dabei behilflich sein kann, veränderte Selbstverständnisse einer Postwachstumsplanung auszuformen. Hierbei blickte sie auf die Potentiale der Infrastrukturplanung, gesellschaftliche Praxis gelebter Suffizienz positiv zu beeinflussen. Christian Lamker präsentierte gemeinsam mit Viola Schulze Dieckhoff Ansätze, mit denen sich die Rolle der Planerinnen und Planer schärfen ließe. Dazu sehen sie vor allem die Suche nach motivierenden und inspirierenden Rollenverständnissen als wichtigen Impuls für die Debatte. Positive Zukunftsvisionen müssen mit den konkreten Handlungsmöglichkeiten verbunden und so kollektive Raumgestaltung heute angeführt werden.

Viola Schulze Dieckhoff (Die Urbanisten e.V.)

In ihrer Rolle als aktives Mitglied des Vereins Die Urbanisten e.V. aus Dortmund zeigte Viola Schulze Dieckhoff am Beispiel der Aktionen „Tag des guten Lebens für alle“ mögliche Impulse für eine wachstumsunabhängige Stadt- und Raumentwicklung. Temporäre gemeinschaftliche Aktionen sind damit ein Element, um Gemeinschaft zu fördern und Raum langfristig neu zu denken.

Oliver Hasemann (ZZZ Bremen) und Robin Chang (TU Dortmund)

Robin Chang (TU Dortmund) und Oliver Hasemann (ZZZ ZwischenZeitZentrale Bremen) brachten Einblicke in Bremer Initiativen zur Zwischennutzung von Gewerbeimmobilien und beleuchteten die Potentiale dieser Initiativen in Hinblick auf eine resiliente Quartiersentwicklung im Postwachstumskontext. Ein großes Potenzial liegt in der temporären Nutzung von Gebäudebeständen: als Erprobung für eine längerfristige Umnutzung im Bestand und in der gemeinsamen Nutzung der vorhandenen Flächen als niedrigschwelliger Möglichkeit mit neuen, nachbarschaftlichen und kollaborativen Nutzungsweisen zu experimentieren.

Brüche, Logiken und Anpassungsversuche

Aus den Vorträgen der Fachsitzung sind Diskussionslinien hervorgegangen, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden.

Sichtbare Brüche zwischen Wertsteigerungszwang und Postwachstum

Trotz oder gerade aufgrund der Brüche zwischen bestehenden Strukturen von Wirtschaft, öffentlicher Hand und Gesellschaft gegenüber Postwachstumsbestrebungen braucht es Initiativen, Aktionen und Projekte, die den Postwachstumsgedanken konkretisieren und kommunizierbar machen. Projekte und Initiativen erlauben Akteuren zu lernen und zu adaptieren. Lebensweltliche Dimensionen von Postwachstum werden im Experimentieren und Handeln deutlich.

Mithilfe der Praxisbeispiele treten Brüche zwischen den vorherrschenden Logiken von öffentlichen Akteuren und Wirtschaftsakteuren und den offenen kollektiven Handlungsweisen einer Postwachstumsplanung hervor. Zwischennutzungen zielen darauf ab, bestehende materielle Ressourcen zu nutzen und zugleich durch die Förderung kleiner Unternehmen und Innovationen hin zu einer Postwachstumsgesellschaft anzustoßen. Diese Intentionen der Zwischennutzungsinitiativen werden in der Praxis noch zu oft der Logik ökonomischer Inwertsetzung untergeordnet. Zwischennutzungen dienen aber auch dem Werterhalt von Immobilien und erfahren aus diesem Grund Unterstützung. Auch müssen Start-Ups, die in Zwischennutzungen einen Freiraum finden, perspektivisch im Markt funktionieren, dem sie sich nicht entziehen können.

Adaption einer Postwachstumsplanung in der (kommunalen) Planungspraxis

Gegenwärtig scheinen die (in den Wissenschaften geführten) Postwachstumsdebatten wie ein Paralleldiskurs zu Debatten, wie sie sich in Regionen, Kreisen und Kommunen ereignen. Von Postwachstum ist hier selten die Rede: es geht in unseren Städten um Wachstum, um Wohnungsmangel, um Konflikte und Verdrängung. Wie lässt sich eine Postwachstumsplanung, so wie sie in der Wissenschaft diskutiert wird, in die Praxis der räumlichen Planung bringen? Die Diskussion hat sehr kritisch aufgezeigt, wie schwer es ist, die Frage nach einer räumlichen Übersetzung mit wirklich guten Beispielen zu hinterlegen, die auch in größerer Zahl oder in größeren räumlichen Zusammenhängen heute bereits vorstellbar sind. Postwachstumsorientierte räumliche Praktiken sind für viele entweder Kompromisse, oder sie setzen radikalere Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik voraus.

Gesellschaftliche Adaption

Diese Frage ist eng geknüpft an Rollenverständnisse in der Wissenschaft und der Planungspraxis. Die Suche nach geeigneten Umgangsformen mit dem Klimawandel wird beispielsweise trotz wachsender Sicherheit über Ursachen und Auswirkungen zu einem immer stärker politisierten Themenfeld. Hier stellt sich die Herausforderung, wissenschaftlich begründete Standpunkte klar zu kommunizieren und in politische Entscheidungsprozesse einzubringen. Postwachstum fordert hierbei heraus, über enge Zuständigkeiten hinweg Verantwortung zu denken, mutig zu handeln und gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse zu organisieren.

Postwachstum erscheint also auf den ersten Blick unbequem. Durch Infrastrukturmaßnahmen werden Praktiken auf eine Weise initiiert und gelenkt, die auf Protest stoßen kann und auch bereits stößt, etwa wenn es um Restriktionen gegenüber dem Autoverkehr geht. Auch Neuerungen – in diesem Jahr vor allem die Einführung von E-Scootern – helfen oft nicht bei der nachhaltigen Lösung städtischer Probleme. Planerinnen und Planer sind hier mehr denn je in der Rolle, voranzugehen und potenzielle Konfliktfelder zu öffnen. Eine wichtige Klammer für räumliches Handeln im Sinne einer Postwachstumsplanung ist die Suffizienz, mit der auch eine enge Anknüpfung an die Nachhaltigkeitsdebatte möglich ist.

Suffizienz als Klammer neuer Infrastrukturen

Unter den Zielen des Klimaschutzes ist eine Senkung des Ressourcenverbrauchs in der alltäglichen Lebenspraxis unumgänglich. Einer Postwachstums-Logik folgend lässt sich eine solche Reduktion nur realisieren, wenn wir von der ökologischen Maßlosigkeit kapitalistisch orientierter Lebensformen Abstand nehmen. Mit dem Konzept der Suffizienz im Sinne eines „Genug“ oder „Genügend“ lässt sich ein Gegenentwurf zu etablierten Selbstverständnissen einer auf Wachstum und Nutzenmaximierung gepolten kapitalistischen Gesellschaft zeichnen. Angewandt auf den Postwachstumskontext greift das Konzept ein Weniger an Ressourcenverbrauch als positiven Ansatz der Lebensgestaltung auf. Ebenso tritt anstelle des kapitalistisch verankerten Dogmas einer persönlichen Nutzenmaximierung ein verantwortungsvoller Umgang mit natürlichen Ressourcen sinnstiftend hervor.

Räumlich oder zeitlich begrenzte Beispiele wie die ZwischenZeitZentrale aus Bremen oder der deutschlandwandweiten „Tag des guten Lebens für alle“ greifen deutlich auf: Suffizienz ist eng an Deutungen einer erfüllten Lebensgestaltung geknüpft. Frei nach dem Motto „alles was Du brauchst, ist weniger“ wird ein erfülltes Leben nicht durch maximale Erwerbsarbeiterreicht, durch die wiederum ein maximaler materieller Wohlstand erlangt wird. Im Sinne einer Befreiung von Überfluss und materiellen Zwängen stehen auf dem Weg zu einer persönlichen Erfülltheit immaterielle Werte im Vordergrund, wie Selbstbestimmtheit, Zeitwohlstand und soziale Beziehungen.

Ausgehend von dem Konzept der Suffizienz lassen sich gesellschaftliche Lebensformen als kollektives Muster der „normalen“ Lebensführung denken, die einer sozial-ökologisch verantwortungsvollen Lebenspraxis folgen. Dies setzt jedoch einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel voraus, hin zu einer Lebensform, in der gelebte Suffizienz eine unhinterfragte Normalität erlangt, wie heute jene Lebensformen, die auf wachstumsbasierten kapitalistischen Logiken und Anreizen basieren. Erhebt man eine auf Suffizienz ausgerichtete Praxis als Orientierungsrahmen zur Etablierung nachhaltiger ressourcenschonender Lebensformen, so lässt sich Planerinnen und Planern die Aufgabe zuschreiben, ebene jene Lebensformen zu ermöglichen. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei die Gestaltung von Infrastrukturen ein. Infrastrukturen sind das Handwerkszeug zur Konkretisierung planerischer Intentionen und Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Praxis hin zu einer gelebten Suffizienz.

Eine auf Suffizienz gerichtete Planung erfordert einen Wandel von Praktiken und Selbstverständnissen der Infrastrukturplanung selbst. Im Wachstums-Kontext dienen Infrastrukturen der Daseinsvorsorge zur Gewährleistung einer funktionierenden Gesellschaft sowie der aktiven Förderung wirtschaftlicher Entwicklungen – gemessen insbesondere am Bruttoinlandsprodukt. Teils erfahren Infrastrukturen zudem eine Privatisierung und werden somit schon in ihrer Bereitstellung dem Markt unterworfen. Infrastrukturplanung heißt in der Regel Infrastrukturausbau. Nach Maßgaben von Suffizienz hingegen tritt nun vor allem eine Abwägung sozialer und ökologischer Belange in den Vordergrund. Damit sind ökonomische Belange nicht obsolet, sie werden jedoch nicht vorangestellt. Im ersten Schritt müssen Infrastrukturen demnach ein anderes Agieren ermöglichen, im Sinne alternativer nachhaltiger Lebenspraktiken, um perspektivisch nachhaltige Lebenspraktiken zur Normalität werden zu lassen. In der Konsequenz wird ein Rückbau oder Umbau bestehender Infrastrukturen relevant, um alternative, nachhaltige soziale Praktiken zu fördern.

Handlungsebenen einer Infrastrukturplanung zur Förderung von Suffizienz als gelebte Praxis

 

Ein Beispiel hierfür ist der Umbau von Straßenräumen zugunsten des Umweltverbundes. Ziel ist es dabei, durch öffentliche Infrastrukturen ein „Weniger“ an Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen zu fördern. Dabei gestalten Infrastrukturen als materialisierte Umwelt immer auch gesellschaftliche Realitäten und Selbstverständnisse mit aus. Für einen Wandel hin zu Postwachstum bedarf es einer Infrastrukturplanung, die Praktiken gelebter Suffizienz in verschiedensten Lebensbereichen forciert und diese so allmählich zur Selbstverständlichkeit werden lässt. Hierzu gehört etwa, in der Verkehrsplanung nachhaltige Formen der Mobilität zu privilegieren und auszubauen – und in der Praxis auch mit Konflikten wie um ein ‚Menschenrecht auf einen Parkplatz‘ konstruktiv umzugehen. Dazu braucht es die Bereitstellung von Alternativen und Anreizen, aber auch mutige Handlungen im Bestand. Konzeptionell lassen sich vor allem drei Handlungsebenen verfolgen (vgl. Grafik). Hierzu zählen Maßnahmen in der materiell-funktionalen Infrastrukturgestaltung zur praktischen Realisierbarkeit von Suffizienz, formal-institutionelle Regularien zur Unterstützung von Suffizienz sowie auf symbolisch-kommunikativer Ebene zur Schaffung von Orientierungsrahmen zur praktischen Aneignung von Suffizienz als selbstverständliche Lebenspraxis.

Ausblick

Der Umbau von Stadt- und Raumstrukturen für eine wachstumsunabhängige Gesellschaft, in der die Suffizienz im Mittelpunkt steht, bleibt herausfordernd. Die Diskussion in der Fachsitzung hat aufgezeigt, dass es eine wichtige Schnittstelle bleibt, radikal andere Gesellschafts- und Wirtschaftsformen auf ihre langfristigen räumlichen Potenziale zu untersuchen. Verschiedene Zeithorizonte müssen dafür viel selbstverständlicher gemeinsam gedacht werden: unser Mobilitätsverhalten ist jederzeit veränderbar. Bestehende Infrastruktur kann mindestens temporär unmittelbar anders genutzt werden. Die Veränderung von baulichen Infrastrukturen selbst dauert lange – kann aber mit mutigem Handeln heute gelingen. Wir brauchen dazu die vielen motivierenden kleinen Beispiele, die verantwortungsvoll zusammengefügt und in neue Haltung von Planenden, als Rahmenbedingung für technische und ökonomische Entwicklungen, übersetzt werden müssen. Eine Aufgabe, die im Zentrum einer Postwachstumsplanung liegen kann, die ihr Ziel immer klar im Blick behält und umgehend alles ermöglicht, was in diese Richtung führt – damit wir langfristig genau die hierfür geeigneten Infrastrukturen für alle haben.

Dr. Jana Kühl forscht und lehrt am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zu Fragen nachhaltiger Mobilität im Überschneidungsbereich von Raumplanung und Kulturgeographie. Ihre Arbeit widmet sich dem gesellschaftlichen Umgang mit alternativen Mobilitätsformen, wie autonom fahrenden Bussen und Praktiken der Mitnahme und des Mitfahrens, speziell in ländlich und kleinstädtisch geprägten Räumen. Parallel erforscht sie gesellschaftliche Transformationsprozesse im Wirkungsfeld städtischer Infrastrukturen. // Dr. Christian Lamker ist Raumplaner und als Assistant Professor für Sustainable Transformation & Regional Planning an der Universität Groningen (Niederlande) tätig. In Dortmund, Auckland, Detroit und Melbourne hat er studiert und gearbeitet und ist Mitbegründer des Kollektivs Postwachstumsplanung. Er forscht und lehrt zu Rollen in der Planung, Postwachstumsplanung, Planungstheorie, Regionalplanung und Leadership in nachhaltiger Transformation.

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