Degrowth bietet Antworten auf das Dilemma der Braunkohleregionen
Endlich tut sich etwas im allgemeinen Bewusstsein: In den letzten Wochen und Monaten erhält die Debatte um die Klimakatastrophe zunehmende Aufmerksamkeit, inzwischen ist sie dabei, dem seit Jahren die öffentliche Wahrnehmung bestimmenden Thema Migration den Rang abzulaufen. Anlass für diese verstärkte Aufmerksamkeit sind in erster Linie sicher die lauten Proteste von Fridays for Future, eine wichtige Rolle spielt aber auch die Diskussion um den notwendigen schnellen Kohleausstieg und die Perspektiven der bisherigen Braunkohleregionen. Auch bei breiteren Teilen der Bevölkerung kommt damit nach und nach der Gedanke an, dass das Ziel eines für den Planeten dauerhaft tragbaren und global gerechten Lebens in Zukunft drastische Veränderungen der gewohnten Praktiken und Strukturen hierzulande erfordern wird, und dass es dringend notwendig ist, hiermit so schnell wie möglich anzufangen. Was läge also näher, als im Hinblick auf die Kohleregionen, die sich so oder so auf gravierende Veränderungen einstellen müssen, gleich die Frage in den Blick zu nehmen, wie diese zu Kernen einer solchen künftigen global verallgemeinerbaren Lebensweise, und damit zu Ausgangspunkten einer weitreichenden sozial-ökologischen Transformation, werden können? In der Tat hat gerade die Degrowth-Bewegung einige Ansätze hierzu zu bieten, die die laufenden Diskussionen im Rheinland, der Lausitz oder der Leipziger Region um wichtige, bisher fehlende Aspekte bereichern könnten.
Zumindest in Ansätzen finden sich wachstumskritische oder wachstumsskeptische Überlegungen jetzt schon in den zivilgesellschaftlichen Diskussionen vor Ort wieder – und sie werden dort ja auch schon seit Jahren von Aktivist:innen der Klimacamps und verwandter Gruppen aktiv vertreten. Selbst eine Reportage der Süddeutschen Zeitung über die Lausitz endete kürzlich mit der Feststellung, dass Perspektiven eines besseren Lebens für die Menschen dieser Region unter dem Schlagwort „Wachstum“ wohl nicht mehr zu haben sein werden. Dennoch wollen die tonangebenden Kräfte in Wirtschaft und Politik hiervon nichts wissen und halten unbeirrt an der überkommenen Vorstellung fest, nur „Wachstum“ könne Perspektiven bringen. Selbst die Kommission zum Kohleausstieg musste „Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ heißen – als läge nicht der einzig gangbare Weg gerade darin, sich von den in diese Begriffe fest eingebackenen Steigerungszwängen zu emanzipieren.
Wie eine solche Emanzipation aussehen könnte, dazu haben sich Degrowth-Denker:innen und -aktivist:innen in den letzten Jahren ausgiebig Gedanken gemacht, und sie haben dabei eine ganze Reihe von Konzepten entwickelt, die einen Teil der nötigen Antworten auf die Frage nach einer lebenswerten, gerechten und ökologisch vertretbaren Zukunft für diese Gegenden geben könnten. Dem Degrowth-Spektrum mangelt es auch nicht an Experimenten mit der Umsetzung solcher Ideen – doch bisher ging es dabei vor allem um die Gestaltung kleinräumiger, von Unmittelbarkeit geprägter Situationen mit starkem Gemeinschaftscharakter (Gartenprojekte, Besetzungen, Camps). Eine neue politische Qualität gewönnen sie, wenn sie sich künftig in radikale, aber zugleich realistische Forderungen für die Gestaltung von Umbruchsituationen wie gegenwärtig im Rheinland oder der Lausitz umsetzen würden. Das Möglichkeitsfenster, das sich mit der allgemeinen Ratlosigkeit im Hinblick auf tragbare künftige Lebensmodelle und mit dem Bedarf an Konzepten für die Kohleregionen verbindet, könnte die Chance, aber auch die Herausforderung bringen, diese Erfahrungen in einen systematischen Transformationsprozess auf der Ebene einer ganzen Region einfließen zu lassen. Wie die kleinräumigen Experimente, die sich in ihm verdichten, sollte ein solcher Prozess einer regionalen Transformation über die Wachstumslogik hinaus von den drei Grundanliegen getragen sein, die den gemeinsamen Nenner des ansonsten in vielem heterogenen Degrowth-Spektrums ausmachen: Dem Bestreben, die extraktivistische Übernutzung von Ressourcen und die Überbelastung von Senken zu beenden, dem Bewusstsein, dass dies nur in einem umfassenden demokratischen Aushandlungsprozess möglich ist, der auch die bisher nicht demokratisch organisierten Kernbereiche des Wirtschaftens umfassen muss, sowie dem Ziel, hierüber kollektive Selbstbestimmung über das eigene Arbeiten zurückzugewinnen, hierarchisierte (etwa vergeschlechtlichte) Formen der Arbeitsteilung aufzubrechen und so erneuerte, starke und frei gewählte soziale Bindungen an die Stelle der bestehenden Herrschafts-, Eigentums- und Konkurrenzverhältnisse zu setzen.
Den Steigerungszwängen der herrschenden wirtschaftlichen und sozialen Ordnung und ihren zerstörerischen Wirkungen setzen die an Degrowth orientierten Bewegungen damit das entgegen, was vor über 20 Jahren mal mit dem Begriff der „postmodernen Aufstände“ belegt wurde. Diese, so Christoph Spehr damals,
„unterscheiden sich diametral von der modischen Politik des ‚Alternativen‘, des ‚Jeder kehre vor seiner eigenen Tür‘. Sie beharren darauf, daß die Probleme nur gemeinsam gelöst werden können. Sie gestalten nicht Nischen, sondern wollen ein Gesamtprogramm stoppen. Sie predigen nicht die individuelle alternative Verrenkung, sondern schaffen eine Situation, die die Verrenkung überflüssig macht. Sie formulieren keine individuelle Lebenshilfe, sondern einen alternativen Entwicklungsweg für eine ganze Region einschließlich der dafür notwendigen Rahmenbedingungen. Regionen in diesem Sinne sind nicht isolierte Landstriche oder kleine alternative Flecken. Die kritische Größe liegt in der Größenordnung von Bundesländern oder Bundesstaaten“ [1]
Auf dieser Ebene nun setzt die Diskussion um die Zukunft der Kohleregionen ja durchaus an. Wie aber wäre diese Diskussion aus Sicht des Degrowth-Spektrums und seiner Anliegen zu führen, und welche Perspektiven hätte Degrowth auf dieser Ebene anzubieten?
Regionale Autonomie und demokratisch-solidarisches Wirtschaften
Das erste Anliegen – das notwendige Ende der extraktivistischen Naturnutzung – ist im Hinblick auf die Kohle ja Ausgangspunkt der ganzen aktuellen Debatte. Aus einer Degrowth-Perspektive müssen neu zu schaffende regionale Strukturen in erster Linie auf dauerhafte Tragfähigkeit und Verallgemeinerbarkeit angelegt sein, also auf regional gewinn- und erneuerbaren Ressourcen beruhen und diese schonend nutzen. Die diversen Vorstellungen neuer industrieller Cluster oder Hightech-Entwicklungsprojekte, von denen manche träumen, scheiden damit angesichts ihres unvermeidbaren Ressourcen- und Energiebedarfs schon mal aus. Dagegen – und als diametraler politischer Gegenentwurf zu ihrer brutalen Ökonomisierung als Sonderwirtschaftszonen, wie sie wirtschaftsnahe Kräfte vorschlagen – gälte es, die Frage nach den Kriterien eines guten Lebens vor Ort von den dort lebenden – und zum Zuzug bereiten – Menschen selbst beantworten zu lassen. Das bedeutet, im Sinne des zweiten Anliegens eine weitgehende regionale Autonomie und wirtschaftliche Selbstverwaltung zu fordern, in deren Aushandlungs- und Diskussionsprozessen neue Strukturen offen diskutierbar wären. Das wäre kein ‚Wunschkonzert‘, sondern hätte sich – mit den ja bereits als Transformationsfonds in Aussicht gestellten Fördermitteln als ‚Anschub‘ – darauf zu richten, sich gemeinsam auf Formen des Lebens und Arbeitens zu verständigen, die Bedürfnisse nach persönlicher Sinngebung und individuelle Fähigkeiten ebenso berücksichtigen wie die Notwendigkeit, regionale Bedarfe künftig stärker aus regionalen Quellen zu decken. Statt in den Aufbau neuer kapitalintensiver und vielfache Abhängigkeiten schaffender Industrien müssten daher möglichst große Teile der erheblichen Gelder, die für den Strukturwandel vorgesehen sind, dem Aufbau eines dichten Netzes regionaler Genossenschaften, Kooperativen und anderer Formen basisdemokratisch organisierten, an der Deckung lokaler Bedarfe orientierten Wirtschaftens zugutekommen: lokal wirtschaftende Agrar- und Energiegenossenschaften, Handwerks- und Pflegekollektive, Food Coops usw. Hierbei ließe sich von den Erfahrungen der vielfältigen transformativen Projekte der Degrowth-Bewegungen – und verwandter Konzepte von der Commons-Bewegung bis zur Gemeinwohlökonomie – lernen, und diese bisher meist auf Nischen beschränkten Praktiken könnten auf größerem Maßstab einem Praxistest ausgesetzt werden. In einen solchen Rahmen demokratischen und auf Formen verteilten, kollektiv kontrollierbaren Eigentums beruhenden Wirtschaftens könnten dann auch viele der Überlegungen zu konkret auszubauenden Aktivitäten und Branchen in diesen Regionen, die vor allem die zivilgesellschaftlichen Diskussionsprozesse dort hervorgebracht haben, zu wichtigen Bausteinen der Transformation werden.
Entstehen würden damit sicher zunächst Experimentierräume, die erst mittel- bis langfristig in den Aufbau tragfähiger regionaler Wirtschaftskreisläufe münden könnten. Dennoch: konkrete, alternative Lebensweisen würden nicht als Nische, sondern als Normalität erfahrbar, neue Perspektiven könnten sich öffnen, „Zukunft“ auf ganz andere Weise denkbar werden.
[1] Spehr, Christoph: Die Ökofalle. Nachhaltigkeit und Krise, Wien 1996, S. 231