Der Begriff „Degrowth“ hat in den letzten zehn Jahren eine erstaunliche Karriere erlebt. Dass er einen Nerv trifft, zeigt sich nicht nur an den Hunderten von wissenschaftlichen Publikationen zum Thema, die inzwischen erschienen sind, sondern auch an der Ausstrahlung der mit diesem Feld verknüpften gesellschaftspolitischen Kontroversen.
Was ist Degrowth?
Wissenschaftlich hat sich um das Konzept von Degrowth ein neues analytisch-kritisches Paradigma entwickelt, das für die Erneuerung der Wachstumskritik und die Suche nach Alternativen zu Wachstum, Kapitalismus und Industrialismus steht. Als neues Paradigma firmiert Degrowth aber auch für viele Akteure in der Zivilgesellschaft und in sozialen Bewegungen. Meilensteine hierfür waren in Deutschland vor allem die Degrowth-Sommerschulen auf den Klimacamps im Rheinland (2015-17) und im Leipziger Land (2018), die teils in enger Verbindung mit Aktionen wie «Ende Gelände» stattfanden. Daneben gibt es intensive Vernetzungen in andere soziale Bewegungen hinein, die sich auch für eine sozial-ökologische Transformation einsetzen. Auf aktivistischen Konferenzen wurden zudem Anknüpfungspunkte zu wie Reibungsflächen gegenüber aktuellen Kämpfen um Migration und Care ausgelotet.
Degrowth hat als Dachbegriff oder „frame“ in den letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen, Nachhaltigkeits- und Entwicklungsdiskussionen zu politisieren, wachstums- und technikfokussierte Zukunftsnarrative zu hinterfragen und die Suche nach Systemalternativen zu intensivieren.
Vor diesem Hintergrund nehmen die Beiträge des in diesen Tagen erscheinenden Schwerpunkthefts des Forschungsjournals Soziale Bewegungen Degrowth in erster Linie als im Entstehen begriffene soziale Bewegung und als Feld politischer Praxen in den Blick. Sie gehen der Frage nach, wie der Stand der Diskussion und der Aktivitäten rund um Degrowth nach 10 Jahren aus bewegungspolitischer Perspektive einzuschätzen ist. Die Besonderheit des gemeinsamen Gegenstands, aber auch die Schwierigkeit seiner Bestandsaufnahme liegen dabei wohl nicht zuletzt in der spezifischen Struktur des Degrowth-bezogenen Aktivismus zwischen politischer Aktion, kritischer Reflexion und bewusster Veränderung von Alltagspraxen.
Degrowth und Postwachstum
Wie schon in den bisherigen Forschungen erscheint „Degrowth“ auch in der Zusammenschau der Beiträge dieses Hefts weniger als einheitliche Bewegung denn als heterogenes, vielfältiges, aber auch von Konflikten durchzogenes Spektrum. Die Differenzen beginnen schon bei der Frage, ob jeweils von „Degrowth“ oder von „Postwachstum“ die Rede ist. „Postwachstum“ umfasst alle fünf der von Matthias Schmelzer unterschiedenen „Spielarten der Wachstumskritik“ und weist darüber hinaus auch offene Flanken gegenüber verschiedenen Formen der Vereinnahmung auf, wie die Beiträge von Dorothea Schoppek mit Blick auf systemimmanente „neoliberale“ Logiken und von Dennis Eversberg in Bezug auf rassistisch-nationalistische Diskurse aufzeigen.
Diese Ambivalenzen haben wohl auch damit zu tun, dass der Postwachstumsbegriff nicht notwendigerweise im selben Maße wie der des Degrowth eine aktive, gewollte Infragestellung herrschender Logiken impliziert. Oft wird er zur Beschreibung von Gesellschaften verwendet, in denen Wirtschaftswachstum (ungewollt) ausbleibt, oder als Aufruf verstanden, nach Bedeutung und Auswirkungen der gesellschaftlichen Steigerungsfixierung gar nicht mehr zu fragen und sich stattdessen vor allem dem Erproben kleinmaßstäblicher „Alternativen“ zu widmen.
Degrowth dagegen hat einen offensiveren Charakter und betont die Notwendigkeit eines klaren Bruchs mit den ökonomischen Zwängen wie den kulturellen Logiken gegenwärtiger Wachstumsgesellschaften – kann aber auch leicht als Forderung nach einer einfachen Umkehrung der Steigerungs- in eine ebenso eindimensionale Schrumpfungslogik verstanden werden. Zentral ist dagegen für viele Degrowth-Befürworter*innen die Frage des Verhältnisses nicht nur zur bestehenden wachstumsabhängigen ökonomischen Ordnung, sondern auch zum ökonomischen Denken als einer historisch wie logisch eng mit dieser Ordnung verquickten Wissensform.
Die Beiträge des Schwerpunkthefts
Der Schwerpunkt eröffnen Ulrich Brand und Matthias Krams mit einer Zwischenbilanz der bewegungspolitischen Rolle von Degrowth zehn Jahre nach der ersten internationalen Konferenz in Paris. Als aktivistisches Paradigma, so ihr Argument, habe sich Degrowth auch heute durchaus nicht überlebt, müsse sich aber einer Reihe von Schlüsselherausforderungen stellen, die am Beispiel der Konvergenz von Degrowth- und Anti-Kohle-Bewegung exemplifiziert werden.
Der Beitrag der Gastherausgeber Dennis Eversberg und Matthias Schmelzer basiert auf einer Befragung von Teilnehmenden der Leipziger Degrowth-Konferenz und analysiert Zusammenhänge zwischen den Einstellungen der Befragten und ihrer Praxis. Dabei zeigen sich Gegensätze, die neben dem Ausmaß des Aktivismus das Spannungsfeld zwischen einer emotional-identifikatorisch aufgeladenen und einer eher rational-kognitiv motivierten Form des Aktivismus sowie zwischen traditionell-organisationsbasierten und netzwerkförmigen Typen des Bewegungshandelns betreffen.
Andreas Heilmann und Sylka Scholz plädieren für eine stärkere Befassung mit Männlichkeitskonzepten in der Degrowth-Debatte. Sie greifen den Begriff der „imperialen Lebensweise“ auf und argumentieren für eine Weitung des Blicks auf dieselbe als „imperial-androzentrische Lebensweise“. Dies ermögliche eine tiefergehende Reflexion auf die eigenen Anliegen als Kämpfe für De-Privilegierung und könne hierüber auch Akteure im Feld gleichstellungsorientierter Männerpolitiken in die Suche nach „solidarischen Lebensweisen“ einbinden helfen.
An einer Schwäche insbesondere von Postwachstums-Ansätzen, die sich als „jenseits von links und rechts“ verstehen oder sich im Feld des Politischen lieber gar nicht verorten wollen, setzen die Beiträge von Dorothea Schoppek und Dennis Eversberg an. Beide problematisieren ein teilweise nur schwach ausgeprägtes Bewusstsein für die Notwendigkeit politischer Abgrenzungen, das eine Vereinnahmung oder Unterwanderung durch Akteure mit ganz anderen Zielen möglich machen kann. Dies wird mit Blick auf völkisch-rassistische Rechte diskutiert, die versuchen, Postwachstumsakteure für die eigene menschenfeindliche Politik zu kooptieren (Eversberg), sowie an den Gefahren der Indienstnahme für neoliberale ideologische Projekte (Schoppek).
Frank Adler interveniert in die Debatte um Strategien einer Postwachstumstransformation. Er problematisiert die oft einseitige Orientierung vieler Bewegungsakteure auf individuelle und kleinräumige Veränderungen der Praxis und plädiert für eine transformative Reformpolitik, die auf die Schaffung der Voraussetzungen für breit geteilte alternative Erfahrungen zielt. Diese Reformen müssten zuallererst eine alternative, auf dauerhaft verallgemeinerbare Lebensweisen gerichtete Vorstellung von Wohlstand denk- und erlebbar machen.
Anna Holthaus und Hauke Dannemann analysieren eine wichtige Leerstelle in Teilen der deutschsprachigen Debatte um Postwachstum: Die Bedeutung von Geschlechtervehältnissen, die trotz sehr ausgeprägter Potentiale feministischer Forschung und Praxis für Degrowthkonzepte und -bewegung oft ausgeblendet würden, wie sie am Beispiel Niko Paechs zeigen.
Im Online-Supplement FJSB+ plädiert Ulrich Demmer für eine plural verstandene „Aktivistische Forschung“, die ihre Wissensgenerierung als kollektiven, dem Bewegungshandeln selbst eingeschriebenen Prozess versteht – eine auch innerhalb des Degrowth-Spektrums durchaus umstrittene Position. Jana Holz schließlich geht auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen Akteuren der Postwachstumsdebatte und der institutionalisierten Politik ein, identifiziert Hürden für eine stärkere politische Wahrnehmung und Wirksamkeit wachstumskritischer Positionen, benennt aber auch die jüngst erreichten Fortschritte.
Herausforderungen der Bewegung
Es bleibt noch ein weiter Weg, bis die Degrowth-Hypothese – dass es möglich sei, in einem anderen Gesellschaftssystem ohne Wachstum gut zu leben – im mainstream unterschiedlichster Fachdisziplinen angekommen ist. Auf bewegungspolitischer Ebene steht vor allem an, diese Debatten statt in individualisierende Verzichtsdiskussionen stärker auch in gesellschaftspolitische und dadurch politisierende Auseinandersetzungen zu überführen. Degrowth- und Postwachstumsakteure sollten sich der erheblichen politischen Herausforderung bewusst sein, die es bedeutet, angesichts von Rechtsruck, verstärkter Abschottung und ungebrochener exportorientierter Wachstumsfixierung gesellschaftliche Mehrheiten für ein universalistisches, auf globale Solidarität ausgerichtetes Projekt zu organisieren, das herrschenden Interessen diametral entgegensteht.
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des Editorials aus dem Schwerpunktheft zu „Degrowth“ des Forschungsjournals Soziale Bewegungen. Die Artikel-Reihe zum Schwerpunktheft auf dem Blog Postwachstum ist in Zusammenarbeit mit dem Degrowth-Webportal des Konzeptwerk Neue Ökonomie entstanden.
Alle Beiträge zu dieser Reihe finden Sie unter dem Schlagwort „Schwerpunkt Entwachstum“.
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