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Raus aus der Nische (Teil II)

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Teilhabe solidarisch: Eine bedingungslose Grundausstattung

Die im ersten Teil dieses Artikels entwickelten Überlegungen zu einer weitreichenden Demokratisierung und auf die Bedürfnisse der Menschen vor Ort ausgerichteten Neuausrichtung der regionalen Wirtschaft  wären sicherlich nicht ohne umfangreiche und langwierige Diskussionen um die Ausgestaltung des gemeinsamen Wirtschaftens und Lebens realisierbar, die immer wieder auch zu Streit und zu Zerreißproben für lokale Gemeinschaften führen würden. Dies schon allein deshalb, weil die Formen, in denen dieses sich organisiert, sich in vielen Fällen kaum dem arbeitsgesellschaftlichen Korsett formaler Beschäftigungsverhältnisse würden einpassen können – und dies im Sinne des dritten Degrowth-Anliegens im Grunde auch gar nicht wünschenswert ist. Für sehr viele Menschen, die unter den Bedingungen der bestehenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufgewachsen sind, wäre gerade das besonders schwer zu akzeptieren, weil es allem, was heute als normal und erstrebenswert gilt, völlig zuwiderläuft. Hieraus würden handfeste Konflikte entstehen, und es wäre auch nicht realistisch zu hoffen, dass sich auf einem solchen Weg alle Menschen der Region kurz- bis mittelfristig ‚mitnehmen‘ ließen, wenn sie erst einmal sähen, dass es doch geht. Deshalb müsste ein Teil der zur Bewältigung der Transformation zur Verfügung stehenden Mittel auch darauf verwendet werden, Leuten, für die es nicht in Frage kommt, sich auf den gemeinsamen Prozess einzulassen, Zuschüsse zu zahlen, damit sie anderswo – etwa in angrenzenden Regionen – einen „richtigen Job“ finden können.

Auch für alle anderen aber wäre eine Form sozialer Absicherung nötig, die es ermöglicht, sich den unvermeidlichen Aushandlungsprozessen und Konflikten ohne Angst zu stellen – und diese wäre neben den neu zu schaffenden demokratisch-solidarischen Wirtschaftsstrukturen das zweite institutionelle Standbein der regionalen Alternativökonomie. Auch hierfür kommt ein entscheidender Vorschlag aus der Degrowth-Debatte, und zwar in Form der sogenannten „bedingungslosen Autonomie-Grundausstattung“ (Dotation Inconditionelle d‘Autonomie), die als Kombination verschiedener im Degrowth-Kontext vorgeschlagener Instrumente seit einigen Jahren diskutiert wird. Auf den ersten Blick einem Grundeinkommen nicht unähnlich, unterscheidet sie sich von diesem zentral dadurch, dass sie nur zu einem möglichst kleinen – und im Laufe der Zeit weiter zu verkleinernden – Anteil in Geld ausgezahlt werden soll. Im Kern ginge es darum, allen, die sich entschließen, in der Region ihren festen Wohnsitz zu nehmen, ein nicht monetarisiertes, garantiertes Grundauskommen an Notwendigkeiten des täglichen Bedarfs – etwa Nahrung, Wohnung, Kleidung, Mobilität, Bildung, Gesundheitsleistungen, Wasser und Heizenergie in angemessener Menge, ein Anteil an einer Energiegenossenschaft – als garantiertes soziales Recht zu gewähren. Hierzu würden eine Reihe von Dingen gehören, die bereits heute ganz oder teilweise in öffentlicher Trägerschaft gewährt werden (Bildung, Gesundheitsversorgung, Nahverkehr, Schutz gegen Gefahren, Information, Energie, Wasser), aber auch eine Grundausstattung mit Gütern des täglichen Bedarfs (Wohnraum, Nahrung, Kleidung). Für diese Bedarfe – und nicht in erster Linie für den Markt – würden denn auch die gleichzeitig aufgebauten neuen demokratischen Wirtschaftsstrukturen arbeiten.

Wie und in welchem Ausmaß all dies den Einzelnen zur Verfügung gestellt würde, wäre selbst Gegenstand demokratischer Aushandlung – vor dem Hintergrund der in der Region selbst vorhandenen Möglichkeiten und des für den Übergang zur Verfügung stehenden, sich nach und nach verringernden Budgets der Transformationsmittel – und es müsste auch immer wieder neu verhandelt werden können. Weil und solange sich nicht alle täglichen Bedarfe aus regionalen Mitteln decken lassen, müsste es dazu übergangsweise auch einen in Geld ausgezahlten Anteil geben, der sich im Zuge des Aufbaus der entsprechenden Versorgungsstrukturen schrittweise durch nicht-monetäre Leistungen ersetzen ließe. Eben durch diesen heterogenen (aus ganz unterschiedlichen Bestandteilen zusammengesetzten) und dynamischen Charakter wäre die Autonomie-Grundausstattung weit mehr als eine Form der sozialen Absicherung: Anhand der Fragen, die sich dann unweigerlich stellen – was sie umfassen soll und was nicht, wie das zu gewährleisten ist, ob unterschiedliche Gruppen dabei unterschiedlich behandelt werden müssen usw. – und die eben nicht ein für allemal bürokratisch geregelt, sondern immer wieder neu aushandelbar sein sollen, wäre ihre Ausgestaltung zugleich der konkrete Anker, an dem die anstehenden weitreichenden Diskussionen um die Kriterien eines guten Lebens, das Verhältnis zwischen individuellen Wünschen und kollektiven Möglichkeiten, Autonomie und Verantwortung in einer für alle zugänglichen und relevanten Form geführt, also das eigene Leben politisiert werden würde.

Wie schon der Name sagt, soll eine solche Grundausstattung vor allem Autonomie ermöglichen – im Sinne der selbstbestimmten gemeinsamen Ausgestaltung des eigenen Lebens unabhängig von den Steigerungszwängen und Abhängigkeiten einer wachstumsfixierten Produktionsweise, aber auch in dem Sinne, dass sie verlangt, die dabei zu findenden Formen des Zusammenlebens und -arbeitens so auszugestalten, dass niemand zur Mitwirkung an ihnen gezwungen werden muss. Denn mit ihr wären die Menschen – ohne existenziellen Druck und bei verminderter Statuskonkurrenz – in neuartiger Weise frei, sich einer oder mehreren der entstehenden Kooperationen der lokalen/regionalen Ökonomie anzuschließen, selbst eine zu gründen oder sich erst einmal ganz den eigenen persönlichen Interessen zu widmen.

Auch wenn das Ziel der Grundausstattung wäre, den Einzelnen die Freiheit zu ermöglichen, sich selbst zu entscheiden, was sie tun möchten und was nicht, birgt eine solche Konstruktion durchaus Gefahren. Um auszuschließen, dass sie – ganz gegen den Grundgedanken – zu einer von Mangel, Entbehrung und autoritärer Bevormundung geprägten Situation für die Einzelnen führen könnte, wäre es unerlässlich, dass die inneren Beziehungen einer solchen selbstverwalteten Region auf Prinzipien beruhen müssten, die die Beziehungen zwischen den Einzelnen und den Gemeinschaften, an die sie sich binden, sowie zwischen diesen Gemeinschaften verbindlich regeln. Eine gute Richtschnur für die Formulierung solcher Prinzipien bietet der Gedanke der freien Kooperation, die im wesentlichen drei Voraussetzungen hat: In einer Kooperation müssen die geltenden Regeln jederzeit von allen infrage gestellt und neu verhandelt werden können, als Machtmittel darf hierbei nur die Bereitschaft zur Fortsetzung der Kooperation selbst eingesetzt werden können, was allen Beteiligten zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis möglich gemacht werden muss, und die Politik des Umgangs miteinander muss darin bestehen, dass dies auch tatsächlich praktiziert wird.

Ein solches Experiment wäre eine gewaltige Herausforderung für die Degrowth-Bewegungen und alle anderen Beteiligten, und sein Erfolg wäre unter den gegebenen Bedingungen alles andere als garantiert – aber es wäre schon als Denkmodell eine konsequente Fortschreibung der bisherigen theoretischen und praktischen Lernprozesse des Degrowth-Spektrums. Wie alles, was mit Menschen zu tun hat, würde das ganz sicher nicht ohne erhebliche Probleme ablaufen – aber es täte das auf einer erheblich weniger zerstörerischen Basis, es ginge nicht auf Kosten anderer, und die Menschen wären imstande, diese Probleme autonom miteinander zu bearbeiten.

Jenseits der falschen Alternative von verbal radikalem, aber inhaltlich leerem Beharren auf „Systemüberwindung“ auf der einen und kleinteiligem, oft kaum noch politischem Feilen an der eigenen Lebenspraxis auf der anderen Seite, in der sich wachstumskritische Akteure oft gefangen sehen, wäre eine solche nicht-reformistische regionale Strukturpolitik ein Weg hinaus aus der Nische.

Dr. Dennis Eversberg hat Soziologie, Sozialpsychologie, Politik- und Rechtswissenschaften studiert. 2013 promovierte er zum Thema „Dividuell aktiviert. Zur dividualisierenden Dynamik 'aktivierender' Arbeitsmarktpolitik und ihren subjektiven Auswirkungen am Beispiel von Jugendlichen in einer Pilotmaßnahme". Von 2012-2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena und forschte unter anderem zur Degrowth-Bewegung. Ab 1.3.2019 leitet er die Nachwuchsgruppe "Mentalitäten im Fluss. Vorstellungswelten in modernen bio-kreislaufbasierten Gesellschaften" am Institut für Soziologie der FSU Jena.

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