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Wie die Pandemie unseren Zeitwohlstand erhöht hat

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Was ist Zeitwohlstand und wie lässt er sich messen? 

Zeitwohlstand wird in der Literatur bereits seit längerem als wichtige Voraussetzung für Lebensqualität und eine nachhaltige Lebensführung diskutiert. Schließlich gilt Zeitwohlstand als immaterielle Form des Wohlstands und ist damit besonders ressourcenschonend. Im Forschungsprojekt ReZeitKon wurde erstmals eine Skala zur Messung von Zeitwohlstand entwickelt und validiert. Als wichtigster Aspekt wurde dabei ein angemessener Umfang frei verfügbarer Zeit identifiziert. Weitere Dimensionen von Zeitwohlstand umfassen ein angemessenes Tempo, Planbarkeit, Zeitsouveränität sowie die Vereinbarkeit verschiedener zeitlicher Anforderungen. (Eine genauere Beschreibung von Zeitwohlstand findet sich in diesem Blogbeitrag).  

Zeitnutzung und Arbeitsbedingungen während der Corona-Pandemie 

Der subjektiv empfundenen Zeitwohlstand stieg während des ersten Lockdowns in Deutschland an. Dies konnten wir anhand von Paneldaten von 786 Beschäftigten in Deutschland feststellen. Im Februar 2020, kurz vor Ausbruch der Pandemie, fand im Rahmen unseres Projekts eine erste repräsentative Erhebung statt. Im April 2020, während des ersten Lockdowns in Deutschland, wiederholten wir die Befragung.  

Unsere Daten zeigen, dass die tägliche Arbeitszeit im Durchschnitt um fast eine Stunde sank. Damit kamen viele Menschen ihrem Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten einen Schritt näher. Denn in Deutschland wollen 1,5 Millionen Beschäftigte ihre Arbeitszeit reduzieren, im Schnitt um 10,7 Stunden.[i] Gleichzeitig konnten viele Menschen ihr Schlafdefizit reduzieren. In den Jahrzehnten davor ist die Schlafdauer in Deutschland deutlich gesunken. Unsere Daten zeigen, dass die Menschen vor der Pandemie etwa 75 Minuten weniger schliefen als sie eigentlich wollten. Während des Lockdowns stieg die Schlafdauer dann um knapp 30 Minuten. Zusätzlich verbrachten die Menschen mehr Zeit mit Ausruhen und Auszeiten.  

Mehr Zeit floss auch in die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Erwachsenen, Hausarbeit sowie Medien- und Internetnutzung. Andere Tätigkeiten, wie Unterhaltung, Kultur oder Ausgehen, waren in dieser Zeit jedoch kaum möglich. 

Was die Arbeitsbedingungen betrifft, stellten wir wenig überraschend einen Anstieg von Home-Office fest. Gleichzeitig sank im Durchschnitt auch der Zeitdruck bei der Arbeit, während die Beschäftigten mehr Selbstbestimmung in der Einteilung ihrer Arbeitszeit sowie eine höhere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben erfuhren.  

Was hat die Zunahme des Zeitwohlstands ausgelöst? 

Anhand von Regressionsanalysen untersuchten wir, inwiefern sich die Veränderungen in Zeitnutzung und Arbeitsbedingungen auf den subjektiven Zeitwohlstand ausgewirkt haben. Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere kürzere Arbeitszeiten und mehr Zeit für Schlaf und Ausruhen den Zeitwohlstand begünstigten. Für andere Zeitnutzungskategorien, wie Betreuung, Hausarbeit oder Medien- und Internetnutzung fanden wir keine signifikanten Effekte. Der verminderte Zeitdruck und die stärkere Selbstbestimmung bei der Arbeit sowie die bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben wirkten sich hingegen deutlich positiv auf den Zeitwohlstand aus.  

Unterschiede nach systemrelevanter Beschäftigung und Geschlecht 

Menschen in systemrelevanten Berufen, wie im Gesundheits- und Pflegebereich, bei Polizei, Feuerwehr, im öffentlichen Nahverkehr, im Einzelhandel oder im Bildungs- und Erziehungssektor empfinden generell einen geringeren Zeitwohlstand als andere Beschäftigungsgruppen. Systemrelevant Beschäftigte arbeiten länger, wenden aber auch mehr Zeit für Betreuungstätigkeiten und Hausarbeit auf, während sie weniger schlafen als nicht systemrelevant Beschäftigte. Während des Lockdowns konnten sie weniger oft ins Home-Office wechseln und erfuhren auch kaum Verbesserungen bei Zeitdruck, selbstbestimmter Arbeitsorganisation oder Vereinbarkeit. 

Auch Frauen sind tendenziell benachteiligt, wenn es um zeitliche Bedingungen geht. Sie empfinden einen geringeren Zeitwohlstand als Männer, konnten aber etwas aufholen während des Lockdowns. Generell schlafen Frauen etwas länger als Männer, ruhen sich aber untertags weniger aus. Wie bereits durch zahlreiche Studien belegt, zeigen auch unsere Daten, dass Frauen deutlich mehr Zeit für unbezahlte Tätigkeiten wie Hausarbeit und Betreuung aufbringen als Männer. Während des Lockdowns hat sich dieser „Gender Care Gap“ sogar noch vergrößert. 

Fazit und Ausblick 

Unsere Studie zeigt, dass der Anstieg des subjektiv empfundenen Zeitwohlstands maßgeblich durch kürzere Arbeitszeiten, mehr Schlaf und Ausruhen beeinflusst wurde. Diese Ergebnisse sind auch aus ökologischer Perspektive positiv zu bewerten. Denn eine Reihe an Studien deutet darauf hin, dass eine Arbeitszeitverkürzung zu einer Umweltentlastung beitragen würde. Gleichzeitig sind Schlaf und Ausruhen jene Zeitnutzungskategorien mit dem geringsten ökologischen Fußabdruck. Weniger Erwerbsarbeit sowie mehr Zeit für Schlaf und Ausruhen tragen also nicht nur zu einem höheren Zeitwohlstand bei, sondern ermöglichen auch einen nachhaltigeren Lebensstil. Zusätzlich zeigen unsere Ergebnisse, dass bessere Arbeitsbedingungen den Zeitwohlstand von Beschäftigten erhöhen. 

Inwiefern die erzwungene Entschleunigung während des ersten Lockdowns längerfristig zu mehr Zeitwohlstand führte, bleibt offen. Ausschlaggebend ist, ob Menschen diese Erfahrungen mitgenommen haben in eine Zeit, in der wieder alles möglich ist. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass Zeitmangel kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem ist. Denn in unserer Zeitgestaltung sind wir nur bedingt selbstbestimmt. Auch die Reduktion der Arbeitszeit während des Lockdowns war in den meisten Fällen von außen herbeigeführt. Es braucht also politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, wie verstärkte Möglichkeiten der Arbeitszeitverkürzung sowie eine Umverteilung unbezahlter Care-Arbeit, um Zeitwohlstand für breite Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen.  

 

[i] Dabei handelt es sich vor allem um Vollzeitbeschäftigte mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 41,5 Stunden. Demgegenüber stehen 2,1 Mio. Menschen, vor allem Teilzeitbeschäftigte, die ihre Arbeitszeit erhöhen wollen. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/11/PD20_468_133.html  

 

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Bücker, Teresa (2022). Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Ullstein Verlag. 

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Fitzgerald, Jared B.; Schor, Juliet B.; Jorgenson, Andrew K. (2018): Working Hours and Carbon Dioxide Emissions in the United States, 2007–2013. In: Social Forces 96 (4), S. 1851–1874. https://doi.org/10.1080/09538259.2019.1592950.. 

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