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Zeitwohlstand und seine Folgen

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Zeitnot ist ein weit verbreitetes Phänomen. Rund ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland gibt an, generell viel zu wenig Zeit zu haben (Statista 2021), dieser Anteil steigt unter berufstätigen Eltern auf bis zu 62% (Destatis, 2016). Der aktuelle Stressreport (2019) zeigt weiterhin eine hohe Arbeitsintensität, bei der fast die Hälfte aller Arbeitnehmer*innen (48%) unter starkem Termin- und Leistungsdruck leidet und ein Drittel (34%) angibt, sehr schnell arbeiten zu müssen. Garhammer spricht in diesem Kontext sogar von „Zeitarmut“. Diese ist gegeben, wenn (analog zu materieller Armut) Menschen weniger als die Hälfte der Freizeit zur Verfügung haben, über die der Durchschnitt verfügt.

Zeitmangel hat verschiedene negative Folgen. So verfügen Menschen, die unter hohem Zeitdruck stehen, über einen schlechteren Gesundheitszustand, weniger Wohlbefinden und generell über eine niedrigere Lebensqualität (Zuzanek, 2004). Auf der anderen Seite berichten Menschen, die über mehr Zeit verfügen und ihr Leben in einem ungehetzten Tempo führen können, über ein höheres subjektives Wohlbefinden (Kasser & Sheldon, 2009).

Die Mehrzahl der Messinstrumente, die zur Untersuchung der Folgen eines fehlenden Zeitwohlstandes eingesetzt wurden, messen vor allem die relative Ausprägung von Zeitnot und den Eindruck von Gehetztsein und Eile. Aufbauend auf einer mittlerweile jahrzehntelangen, und zu Beginn eher politisch geführten Debatte um Zeitwohlstand, haben wir in dem Projekt ReZeitKon eine umfassende Definition von Zeitwohlstand erarbeitet, die über diese beiden – negativ erfassten – Aspekte hinausgeht.

Dimensionen von Zeitwohlstand

Nach unserer Definition umfasst Zeitwohlstand fünf Dimensionen und berücksichtigt auch qualitative Aspekte der Art und Weise, wie wir über unsere Zeit verfügen können (Geiger et al., 2021). Wir verstehen unter Zeitwohlstand demnach einen Zustand, in dem Menschen

[1] einen angemessenen Umfang frei zur Verfügung stehender Zeit (ausreichend Zeit) haben,

[2] der genügend Zeit pro Zeitverwendung (angemessenes Tempo) erlaubt bei

[3] ausreichend stabilen Erwartungshorizonten (Planbarkeit) und

[4] zufriedenstellender Abstimmung unterschiedlicher zeitlicher Anforderungen (Synchronisierung) unter

[5] hinreichend selbstbestimmten Bedingungen (Zeitsouveränität).

Als erste Dimension wird ein ausreichendes Ausmaß verfügbarer Zeit berücksichtigt. Dieser Aspekt spiegelt die quantitative Dimension von ausreichend freier Zeit wieder, um die bereits seit Jahrzehnten vornehmlich durch eine Verkürzung der Arbeitszeit gerungen wird. Damit verbunden ist auch der subjektive Eindruck, genügend Zeit für sich selbst und für all die Dinge zu haben, die einem wichtig sind. Eng verbunden mit diesem quantitativen Aspekt ist das Lebenstempo. Je mehr Aktivitäten wir in eine bestimmte Zeitspanne packen, desto höher wird das Tempo. Da das absolute Ausmaß verfügbarer Zeit begrenzt ist, wird sich Zeitwohlstand immer auch in einem ungehetzten Tempo ausdrücken.

Reisch (2001) argumentiert zudem für zwei weitere notwendige Bedingungen von Zeitwohlstand, nämlich Zeitsouveränität und gelungene Synchronisierung, die wir in unserer Definition ebenfalls aufgreifen. Mit Zeitsouveränität ist die Selbstbestimmung über die zeitliche Gestaltung des eigenen Lebens gemeint, z.B. selbst zu bestimmen, wann man aufsteht und den Tag beginnt, wie lange man sich einer Sache widmet oder wann man Pausen macht. Synchronisierung beschreibt die gelungene Abstimmung mit den zeitlichen Abläufen unserer Umwelt und uns wichtiger Personen. Neben der Vereinbarkeit von Kinderbetreuung mit einer beruflichen Tätigkeit, gehört zu dieser Dimension auch generell die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen Zeit zu verbringen. Diese Zeiten werden z.B. durch allgemein verbindliche Zeitinstitutionen wie Feiertage, freie Wochenenden und Feierabend geschützt (Mückenberger 2002). Darüber hinaus legt Garhammer (2002) Argumente vor, eine gewisse Verlässlichkeit von (zukünftigen) Tagesabläufen zu berücksichtigen, da diese die Voraussetzung für eine sinnvolle und zufriedenstellende Lebensplanung sei. Planbarkeit kann sowohl mittelfristige Zeithorizonte umfassen, wie z.B. vorhersehbare Arbeits- und Schichtpläne, als auch langfristige Horizonte, wie z.B. die Gesamtlaufzeit von Arbeitsverträgen oder Rentenabmachungen.

Zeitwohlstand und Nachhaltigkeit

Zeitnot hat nicht nur Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit von Menschen, sondern es werden auch Folgen für den Zustand der Umwelt diskutiert. Unter Zeitnot werden vor allem solche Dienstleistungen und Produkte attraktiver, die uns im Alltag Zeit sparen (wie z.B. Dinge neu zu kaufen anstatt zu reparieren oder das Transportmittel Auto im Vergleich zum ÖPNV). Diese sind allerdings auch meistens ressourcenintensiver und damit umweltschädlicher als ihre langsameren Alternativen (Reisch, 2001).

Weiterhin kann sich ein fehlender Zeitwohlstand nach Schor (2005) auch darin auswirken, dass Menschen mit dem Kauf von Konsumgütern versuchen, das durch Zeitnot entstehende oder zumindest verstärkte Gefühl des Unerfülltseins zu kompensieren. Um sich diese Kompensationskäufe leisten zu können, wird der Druck zu einem höheren Arbeitspensum stärker, was wiederum die Zeitnot erhöht. Der Teufelskreis, den Schor auch als „work & spend cycle“ bezeichnet, schließt sich und treibt das Konsumniveau vermeintlich unermüdlich höher.

In einer empirischen Untersuchung konnten wir allerdings nur schwache positive Zusammenhänge zwischen den Zeitwohlstandsdimensionen Tempo und Synchronisierung und nachhaltigem (z.B. durch den Kauf von Bioprodukten) und suffizientem Konsum (z.B. durch das Reparieren von Dingen) feststellen (Geiger, et al. 2021). Eine etwas stärkere Tendenz zeigt sich für den Zusammenhang von frei verfügbarer Zeit und ungenutzten Konsumgütern (Dasch, 2020). Je weniger Zeit Menschen zur Verfügung haben, desto mehr ungenutzte Güter befinden sich in ihren Haushalten, was zumindest indirekt die work & spend Hypothese von Schor unterstützt.

Zeitwohlstand ist also nicht nur ein für die psychische Gesundheit von Menschen erstrebenswerter Zustand, sondern auch ein tendenziell unterstützender Faktor für nachhaltigere Lebensweisen. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Anhäufung von ungenutzten Konsumgütern, für deren Produktion unnötigerweise sowohl Ressourcen als auch Energie verbraucht wird.

Wenn Sie sich dafür interessieren, wie ausgeprägt Ihr eigener Zeitwohlstand im Vergleich zur deutschen Bevölkerung ist, können Sie sich hier Ihren Zeitwohlstand ausrechnen lassen.

 

Zum Weiterlesen für interessierte Leser*innen:

Link zur Projektwebseite: www.zeit-rebound.de

Geiger, S., Gerold, S. (2022). Zeitwohlstand. Erkenntnisse aus den pandemiebedingten Einschränkungen als Chance für eine gesellschaftliche Entschleunigung. In Mundt, I., Sellig, J., Henkel, A. (Hg.) 10 Minuten Soziologie: Stress, Transcript.

Gerold, S; Geiger S.M. (2020). Arbeit, Zeitwohlstand und Nachhaltiger Konsum während der Corona-Pandemie. Arbeitspapier No. 2, TU Berlin, ISSN: 2702-1947 (2). http://www.rezeitkon.de/wordpress/wp-content/uploads/2020/11/WP_Gerold_Geiger_Corona.pdf


Literatur:

Dasch, T. (2020) Stehlen Besitztümer die Zeit? Der Effekt von ungenutzten Konsumgütern auf subjektive Zeitnot. Bachelorarbeit. Humboldt Universität zu Berlin.

Garhammer, M. (2000). Arbeitszeit und Zeitwohlstand im internationalen Vergleich – eine Schlüsselfrage für die Lebensqualität. Bamberger Beiträge Zur Europaforschung Und Zur Internationalen Politik, 5, 1-18.

Geiger, S. M., Freudenstein, J.-P., Jorck, G. von, Gerold, S., & Schrader, U. (2021). Time wealth: Measurement, drivers and consequences. Current Research in Ecological and Social Psychology, 2, 100015. https://doi.org/10.1016/j.cresp.2021.100015

Kasser, T., & Sheldon, K. M. (2009). Time affluence as a path toward personal happiness and ethical business practice: Empirical evidence from four studies. Journal of Business Ethics, 84(2), 243–255. https://doi.org/10.1007/s10551-008-9696-1

Mückenberger, U., 2002: Zeitwohlstand und Zeitpolitik. Überlegungen zur Zeitabstraktion. S. 117–142 in: J.P. Rinderspacher (Hrsg.), Zeitwohlstand. Ein Konzept für einen anderen Wohlstand der Nation. Berlin: Ed. Sigma

Reisch, L. A. (2001). Time and Wealth. Time & Society, 10(2-3), 367-385. https://doi.org/10.1177/0961463X01010002012

Zuzanek, J. (2004). Work, leisure, time pressure and stress. In J. T. Haworth & A. J. Veal (Eds.), Work and leisure (pp. 123-144). London: Routledge.

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