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Es ist voll am Abend des 28. Oktober im Veranstaltungssaal der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin – so voll, dass die Stühle knapp werden und zusätzliche besorgt werden müssen. Das Publikum ist durchmischt, viele junge Menschen sind da, Diskussionsfreude liegt schon vor Beginn der Veranstaltung in der Luft. Die Herausgeberinnen des Buches „Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft“ Irmi Seidl und Angelika Zahrnt, stellen heute Abend zusammen mit einigen der Autor/innen ihr neues Buch vor.

Als schließlich alle einen Platz gefunden haben, begrüßt Jörg Haas, Referent für Internationale Politik der Böll-Stiftung, die Gäste und führt in den Abend ein. Die „unendliche Debatte der Umweltbewegung“, die Wachstumsfrage, wird seit 1972 leidenschaftlich geführt. Immer wieder prallen hier die Glaubenssätze aufeinander und selten, so Haas, seien daraus neue Argumente entstanden. Im letzten Jahr jedoch hat eine UBA-Studie des  Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung jenseits der Glaubenssätze die „bemerkenswert ehrliche Feststellung“ geleistet, dass die Wachstumsdebatte auf der Grundlage des Nichtwissens darüber stattfindet, ob Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum absolut voneinander entkoppelt werden können. Dieser Ehrlichkeit attestiert Haas das Potential, eine Debatte zu befrieden, die ansonsten eine Spaltung der Umweltbewegung vorantreiben könnte.

„Ich bin heute von der Arbeit hierhergekommen“, leitet Thomas Korbun, wissenschaftlicher Geschäftsführer des IÖW und Moderator des Abends, seine Begrüßung und das Thema der Veranstaltung ein. „Sie wissen, was ich damit meine: Ich komme aus dem Büro. Es hätte ja auch sein können, dass ich zu Hause trockene Wäsche gefaltet habe, aber davon sind Sie, zu Recht, wahrscheinlich nicht ausgegangen.“ Der Begriff der Arbeit sei zweifellos einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen, dennoch sei unser Arbeitsbegriff, unsere Vorstellung von „Arbeit“ auch heute noch sehr klassisch. Eine der zentralen Fragen, welche die von Jörg Haas bereits eingeführte Studie aufwirft, ist die nach der Möglichkeit, bisher wachstumsabhängige Gesellschaftsbereiche, beispielsweise das von der Erwerbsarbeit abhängige Sozialversicherungssystem, in Zukunft wachstumsunabhängig zu gestalten. Hier setze das Buch von Irmi Seidl und Angelika Zahrnt an und leiste einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach der Gestaltbarkeit einer Postwachstumsgesellschaft hinsichtlich Arbeit und Beschäftigung.

Die anschließende Einführung in die grundlegenden Argumentationslinien des Buches erfolgt durch die Herausgeberinnen Angelika Zahrnt, Ehrenvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und Irmi Seidl, Leiterin der Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Sie zeichnen die Debattenlinien um das Thema Postwachstum der letzten zehn Jahre nach und verorten das heute vorgestellte Buch als Antwort auf das häufig bemühte Argument, Wirtschaftswachstum sei unentbehrlich, um Arbeitsplätze zu schaffen und in weiterer Folge das Sozialversicherungssystem zu finanzieren. Dieses Argument, so Angelika Zahrnt, nehme der sozial-ökologischen Transformation in vielen Bereichen, so zum Beispiel bezüglich Mobilität, Energieversorgung oder Ernährung, den Wind aus den Segeln, während wiederum im Transformationsdiskurs das Thema (Erwerbs-) Arbeit und das Sozialsystem kaum eine Rolle spiele. Zeit, das zu ändern, und unseren Arbeitsbegriff gleich mit, finden die Herausgeberinnen.

Neben der wichtigen Rolle, die Erwerbsarbeit für ein erfülltes Leben der Menschen spielt und der großen Bedeutung derselben für das bestehende Sozialsystem und Steueraufkommen, müssen in der Debatte um die Neubewertung von Arbeit auch verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigt werden. Hierzu gehören die Digitalisierung, der Wertewandel bezüglich des Stellenwerts von Erwerbsarbeit, der Arbeitskräftemangel in einzelnen Bereichen, der ökologisch motivierte Strukturwandel oder die rückläufige Produktivitätsentwicklung.

Um den Wind in den Segeln der Transformation wieder auffrischen zu lassen und die Fixierung auf Wachstum und Erwerbsarbeitsplätze hinter uns zu lassen, brauchen wir einen neuen, erweiterten Arbeitsbegriff. Unter „Tätigsein“ verstehen die Herausgeberinnen neben Erwerbsarbeit auch Sorgearbeit, Arbeit zur Selbstversorgung, Freiwilligenarbeit und andere Formen der Nicht-Erwerbsarbeit. Irmi Seidl und Angelika Zahrnt kommen ebenso zu dem Schluss, dass noch große Wissenslücken über die tatsächliche Beziehung zwischen (Nicht-) Wachstum und sozialer Sicherung bestehen.

Im Anschluss gibt Stefanie Gerold, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Arbeitslehre/ Ökonomie und Nachhaltiger Konsum der TU Berlin, einen Überblick über bisher ausgearbeitete erweiterte Arbeitskonzepte, die einen wichtigen Beitrag zur Debatte leisten. Sie betont dabei, dass es neben neuen Konzeptionen auch stellenweise der Exnovation bedarf, also des Auflösens von Tätigkeiten, die dem Ziel der Befriedigung zentraler menschlicher Bedürfnisse, ohne Überschreitung biophysischer Grenzen, entgegenstehen. Ihre Kollegen Ulf Schrader und Gerrit von Jorck widmen sich dem Beitrag, den Unternehmen als Gestalter nachhaltiger Arbeit leisten können – eine Frage, der sie auch in ihrem Forschungsprojekt „Zeit-Rebound, Zeitwohlstand und Nachhaltiger Konsum“ nachgehen. Die von ihnen vorgestellten zeitpolitischen Instrumente, die diesem Zweck dienen sollen, zeigt das folgende Foto. Als Beispiel für die sogenannte „innere Arbeitszeitverkürzung“ dient ein Unternehmensprojekt, in dem die zusätzliche Zeit, die Mitarbeiter/innen benötigen, um mit dem Fahrrad zur Arbeit zu kommen, als Arbeitszeit angerechnet wird.

Schließlich gibt Norbert Reuter, Referatsleiter Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bereich Wirtschaftspolitik des Bundesvorstands der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, einen Einblick in die Sichtweise der Gewerkschaften auf die Debatte. Neben der sozialen Verantwortung der Gewerkschaften leisteten diese auch für die Umweltbewegung wichtige Beiträge. Beispielsweise sind seit 2006 in vielen Tarifverträgen in Deutschland Modelle zur Wahlarbeitszeit eingeführt, was konkret bedeutet, dass Beschäftigte sich anstatt für eine Lohnerhöhung auch für eine Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Monatsgehalt entscheiden können. Die Erfahrung zeige, dass viele Menschen dieser Option den Vorzug geben. Auch könnten Gewerkschaften ihren politischen Einfluss durchaus nutzen, um den ökologischen Umbau voranzubringen und tun dies teilweise auch. Norbert Reuter plädiert für eine verstärkte Zusammenarbeit der Umweltbewegung mit den Gewerkschaften und betont, dass dies sowohl den sozialen als auch den ökologischen Zielen der Interessensgruppen von Nutzen wäre.

Thomas Korbun schließt aus den Beiträgen, dass das Buch mitnichten eine direkte Anleitung zur Transformation der Gesellschaften hin zu sozial-ökologischer Nachhaltigkeit und Postwachstum enthalte, sondern vielmehr zeige, wie dringend es gesellschaftlicher Experimente und des Mutes zur Veränderung bedürfe.

Die Diskussion mit dem Publikum ist rege und facettenreich. Mehrmals kommt die Frage nach dem Nutzen eines Bedingungslosen Grundeinkommens auf, die Norbert Reuter mit entschiedener Gegnerschaft („größeres Sparprogramm als Agenda 2010“) beantwortet und sich stattdessen für einen starken Sozialstaat ausspricht. Neben dieser Frage werden in der Debatte die Themen Einkommens- und Vermögensverteilung sowie soziale Gerechtigkeit nachhaltigkeitsbezogener Politikinstrumente am häufigsten berührt. Irmi Seidl unterstreicht, dass das Buch einen starken Fokus auf genau diese Frage lege, indem es sich weniger mit der Individualebene befasse, sondern aus einer Makroperspektive vielmehr die Frage aufwerfe, wie der Staatshaushalt anders finanziert werden könnte als primär aus Erwerbsarbeit. „Es werden so viele wirtschaftspolitische Dummheiten begangen, wenn das Wachstum droht auszugehen“, ein aktuelles Beispiel dafür sei die blindwütige Förderung der Digitalisierung, ohne Beachtung der sozialen und ökologischen Folgen derselben.

„Das Buch ist doch utopisch“, wendet ein Zuhörer ein, und ja, das ist es, „ein schönes Kompliment“ gibt Thomas Korbun an das Podium weiter. Der offizielle Teil des Abends endet hier, die Debatte keineswegs – schon beim Apéro wird sie weitergeführt. Es ist schließlich die „unendliche Debatte der Umweltbewegung“ und sie hat, das wurde heute deutlich, durch das Buch „Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft“ einen neuen, spannenden Impuls erhalten.

Mehr Informationen zum Buch sind hier zu finden.

Fotos: © Richard Harnisch

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