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Überfällig? Thesen zur Postwachstumsplanung

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Im Sommer letzten Jahres legten Viola Schulze Dieckhoff und Christian Lamker sechs Thesen zur Postwachstumsplanung vor. Beide forschen und lehren im Bereich Raumplanung, Schulze Dieckhoff an der TU Dortmund, Lamker heute an der Universität Groningen/NL. Ihre Thesen fanden in der Fachöffentlichkeit bereits große Beachtung und wurden im Juni 2019 mit einem Sonderpreis des Förderkreises für Raum- und Umweltforschung e.V. (FRU) ausgezeichnet.

Schulze Dieckhoff und Lamker engagieren sich seit mehreren Jahren u. a. im Jungen Forum NRW der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) und gründeten das Kollektiv Postwachstumsplanung. Die Thesen sind somit auch ein Zwischenfazit ihrer bisherigen planungswissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Bei dem Papier handelt es sich nach meinem Kenntnisstand um den ersten ernsthaften Versuch, die jüngere Postwachstumsdebatte und ihre Bedeutung für die räumliche Planung in griffige Thesen zu überführen:

  1. Postwachstumsplanung braucht neue Erfolgskriterien als Handlungsgrundlage!
  2. Postwachstumsplanung bedeutet gerechte und demokratische Entscheidungen!
  3. Postwachstumsplanung stößt große Transformationen durch kleinteilige Veränderungen an!
  4. Postwachstumsplanung braucht experimentelles und künstlerisches Handeln!
  5. Postwachstumsplanung muss aus Scheitern lernen!
  6. Postwachstumsplaner*innen sind wir alle!

(Einen Vorspann zum Verhältnis zwischen Postwachstum und Planung sowie ausführliche Erläuterungen zu jeder der Thesen gibt es hier.)

Dieser Blog-Beitrag unternimmt den Versuch, die Thesen in der gebotenen Kürze zu kommentieren und in die übergeordnete Postwachstumsdebatte einzuordnen. Die erste These verweist auf die einseitige Fixierung der vorherrschenden Entwicklungsmodelle und Bewertungsmaßstäbe auf metrische Indikatoren wie BIP, Bevölkerungs- und Arbeitsplatzwachstum, Flächenbedarf usw. Stattdessen sollte sich eine postwachstumsorientierte Planung stärker auch auf Indikatoren und Bewertungssysteme stützen, die Fragen von Lebensqualität, Wohlergehen, sozialem Zusammenhalt und gesellschaftlicher Teilhabe abbilden. In der Tat spielen alternative Wohlstandsindikatoren in der bisherigen Planungspraxis kaum eine Rolle. Auch empfehlen die Verfasser*innen zu Recht „Mut für eine situationsbezogene Entwicklung von Erfolgskriterien“ und werben für die Einbeziehung jeweiliger räumlicher, sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Kontextbedingungen. In These 2 wird eingefordert, was schon lange als zentrales Anliegen der Postwachstumsbewegung gilt, nämlich Entscheidungsprozesse demokratisch und inklusiv zu gestalten, und dabei auch Fragen sozialer Gerechtigkeit zu adressieren. Dieses Desiderat gilt für Planungsprozesse in besonders augenfälliger Weise, hat räumliche Planung doch oft unmittelbare Relevanz für das Lebensumfeld einzelner.

Inkrementeller Natur, aber nicht minder ambitioniert, ist der Ansatz von These 3, über kleinteilige Veränderungen zu postwachstumsorientierten Transformationsprozessen beitragen zu wollen. Dabei sind nicht alle kleinen Schritte planbar bzw. mit den bisherigen Instrumenten und Rezepten gangbar. Vielmehr brauche Postwachstumsplanung, so die vierte These, explizit auch experimentelles und künstlerisches Handeln. Und dies durchaus in unkonventionellen Partnerschaften und Akteurskonstellationen. These 5 knüpft an diese Forderung nach Mut zum Experimentieren an. Auch wenn es zunächst wie eine Floskel klingt: „Aus Scheitern lernen“ scheint eine Grundvoraussetzung für die Schaffung von Möglichkeits- und Experimentierräumen zu sein, für das Zulassen von offenen Suchprozessen und misslungenen Strategien in einem komplexen und unübersichtlichen Kontext. Und schließlich fordert die sechste These („Postwachstumsplaner*innen sind wir alle!“) zu einer gemeinschaftlichen Verantwortung für das Verändern von Zielen und Motivlagen in Transformationsprozessen sowie zum individuellen Reflektieren etablierter Muster und Routinen auf.

Fazit: Die Thesen heben sich originell von üblichen Positionspapieren und Leitfäden ab, da sie experimentelles und künstlerisches Handeln einbeziehen, praktisches Scheitern (und das Lernen daraus) explizit vorsehen, und über formale Organisationsstrukturen und administrative Zuständigkeitsbereiche hinausdenken. Auch wenn ihr Konkretisierungsgrad in der vorliegenden Form variieren mag, ist den Thesen zu wünschen, dass sie Eingang in die breitere Debatte finden und auch jenseits der Fachzirkel der räumlichen Planung und der Aktivisten*innen-Szene der Postwachstumsbewegung intensiv diskutiert werden.

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