Die politisch dominante Antwort auf die herrschende Krise in südeuropäischen Ländern – mit all ihren Verbindungen zu globalen multiplen Krisenerscheinungen – lautet bisher Austeritätspolitik: Mit harter Sparpolitik auf Seiten der „öffentlichen Hand“ sollen überschuldete Staatshaushalte saniert werden. Wie schon so oft in den letzten Jahrzehnten hat diese Strategie, in der Regel auf Druck der „Troika“ aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds unter starker Beteiligung der deutschen Regierung, die betroffenen Gesellschaften nur weiter in die Krise gestürzt und vermeidbare humanitäre Notlagen erzeugt. Extreme Armut nimmt in Griechenland wie Spanien stark zu, während soziale Infrastruktur zusammengestrichen wird. Insbesondere im griechischen Gesundheitssektor zeigen sich als direkte Konsequenz der Sparpolitik dramatische Entwicklungen.
Die AG für solidarisches Postwachstum von attac Berlin interessiert sich daher für Alternativen. Kann die Krise mit einer Kombination aus staatlichen Investitionen mit sozialem und ökologischem Anspruch überwunden und so die Konjunktur wieder angekurbelt werden, wie es Modelle vorsehen, die wahlweise als „Öko-Keynesianismus“, „sozial-ökologische Modernisierung“ oder „Green New Deal“ diskutiert werden? Oder stellt sie den geeigneten Moment dar, die Wachstumsspirale zu verlassen und von unten nach oben lokale, ökologische, sozial orientierte Wirtschaftsstrukturen aufzubauen – also die Idee einer Postwachstumsgesellschaft umzusetzen?
Am 15. Juli 2014 kamen rund 50 Interessierte zu einem attac-Berlin-Plenum im Haus der Demokratie und Menschenrechte zusammen, um diese Fragestellung mit zwei Referent_innen zu diskutieren. Ver.di-Wirtschaftsexpertin Sabine Reiner vertrat dabei einen keynesianistischen Ansatz, während Steffen Lange vom Leipziger Konzeptwerk Neue Ökonomie die Postwachstumsposition einnahm.
Sozial-ökologischer Umbau als Grundbedingung eines Guten Lebens
Sabine Reiner stellte zunächst Grundpfeiler der ökonomischen Theorie John Maynard Keynes‘ vor, bevor sie sich der Wachstumskritik widmete. Letztere übernimmt aus ihrer Sicht unter umgekehrten Vorzeichen die Schwächen des Bruttoinlandsprodukt-Konzepts: die inhaltlich völlig unbestimmten Aggregatszahlen, die das BIP ausmachen, würden im dominanten Diskurs fetischisiert, während die Wachstumskritik sie dämonisiere.
Reiner glaubt an die Möglichkeit der Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch – ein typischer Reibungspunkt zwischen den beiden hier vertretenen „Lagern“ – und fordert anstelle der bisherigen Austeritätspolitik einen sozial und ökologisch ausgerichteten staatlichen Wachstumspakt, der sich beispielsweise der Förderung erneuerbarer Energien in Südeuropa widmen könnte. Langfristig würde der daraus resultierende Wohlstand dann die Hinwendung zu immaterielleren Vorstellungen vom „guten Leben“ ermöglichen; die Suffizienz-Perspektive der Postwachstumsbefürworter_innen hält sie aus Sicht vieler prekär Beschäftigter, deren materielle Grundbedürfnisse nicht befriedigt seien, für lebensfern.
Degrowth by design – not by disaster
Steffen Lange betonte zunächst die relative Nähe beider Ansätze im Vergleich zur aktuellen politischen Realität – eine These, die später kontrovers diskutiert wurde. Er unterstrich, dass „kontrolliertes“ Postwachstum etwas anderes sei als eine durch neoliberale Politik verschlimmerte Rezession, nach dem Leitspruch „degrowth by design – not disaster“. Lange musste anerkennen, dass die Krise einerseits ein schlechter Moment sei, um über Postwachstum nachzudenken, angesichts des Vorwurfs der Elendsromantisierung. Andererseits müsse die Diskussion genau jetzt geführt werden, da die „andere Seite“ die Krise bereits hinlänglich im Sinne Naomi Kleins „Schockdoktrin“-Theorie für neoliberale Reformen genutzt habe.
Lange hält die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch unter Erreichung ökologischer Ziele (wie der Vermeidung eines katastrophalen Klimawandels) zumindest für sehr unwahrscheinlich. Aus globaler Perspektive wies er auf die Bringschuld westlicher Industrieländer hin, für deren Wachstum angesichts eklatanter Ungleichheit und ökologischer Grenzen kein Raum mehr sei. Er verwies auch auf aktuelle Erkenntnisse der Glücksforschung[1], die herausstellen, dass soziale Ungleichheit menschliche Zufriedenheit wesentlich stärker negativ beeinflusst als umgekehrt materielle Zuwächse auf hohem Niveau dies im positiven Sinne leisten können.
Wohlstand durch Umverteilung anstatt Wachstum
Der komplexe gesamtgesellschaftliche Ansatz einer Postwachstumsgesellschaft verfolge das übergreifende Ziel eines „guten Lebens“, definiert durch zwischenmenschliche Beziehungen und erfüllende Tätigkeiten anstatt durch materiellen Konsum. Zu diesem Zweck werde angestrebt, gesamtgesellschaftliche Umdenk- und Umverteilungsprozesse (in Bezug auf Wohlstand, aber auch Arbeit) mit der Entwicklung alternativer Wirtschaftsprojekte auf Mikroebene zu verbinden. Die Demokratisierung einer regionalisierten Wirtschaft und insbesondere des Finanzsektors seien hierfür zentral. Im Ergebnis müsste die Wirtschaftsleistung mindestens stagnieren, da die Steigerung der Arbeitsproduktivität bei Verzicht auf ressourcenintensive Automatisierung nicht wie bisher fortgeführt werden könne. Für die materielle Bedürfnisbefriedigung der gesamten Gesellschaft sei dabei Umverteilung der effektivste Mechanismus; Wachstum würde hierfür längst nicht mehr benötigt.
Gewerkschaften und Postwachstumsbewegung: kurzfristig einig?
Langes kurzfristige Ansätze für Südeuropa, wie eine sozial-ökologische Steuerreform und Arbeitszeitverkürzung für Gutverdienende, entfernten sich letztlich allerdings nicht allzu weit vom keynesianischen Modell, wie auch in der Diskussion kritisch bemerkt wurde. Auf Nachfrage bestätigte er jedoch, dass auch die sichtbarere Vernetzung zwischen alternativen Wirtschaftsprojekten insbesondere in Spanien in den vergangenen Jahren von erhöhter Aktivität im Bereich des sozial-ökologischen Wirtschaftens zeuge, die aus Postwachstumsperspektive optimistisch stimme.
Die anschließende Diskussion kann hier nicht vollständig wiedergegeben werden. Ein zentraler Diskussionspunkt waren allerdings die verschiedenen Strömungen innerhalb des Postwachstumsdiskurses – Reiners kritischer Standpunkt hierzu bezog sich vor allem auf diejenigen Vertreter_innen, denen sie soziale Blindheit vorwarf und die Postwachstum mehr als hedonistisches Öko-Mittelschichtsprojekt erscheinen ließen. Sie zeigte sich positiv angetan von Postwachstumspositionen wie der hier vorgestellten, die Umverteilung für zentral erklären. In den Gewerkschaften laufe derzeit nach langer Stille wieder eine Debatte über Wirtschaftsdemokratie und die Relativierung des Primärziels „Wettbewerbsfähigkeit“. Insofern seien Anknüpfungspunkte gegeben.
Lange zeigte sich interessiert an der weiteren Diskussion mit den Gewerkschaften, die bisher nicht sehr offen für den Postwachstumsdiskurs seien. Insbesondere sei in der Praxis nie die Bereitschaft sichtbar, die selektiven Schrumpfungsprozesse zu akzeptieren, die die sektoralen Wachstumserscheinungen nach der öko-keynesianischen Theorie begleiten müssten – was aber angesichts fehlender sozialer Auffangmechanismen auch verständlich sei.
Schließlich konnte auch die mehrfach angeschnittene Systemfrage – Postwachstum und Kapitalismus, ist das vereinbar? – nicht schlüssig beantwortet werden. Dass allerdings das gegenwärtige Eigentumsrecht zugunsten wirtschaftsdemokratischer Strukturen erheblicher Reformen bedarf, darüber waren sich die Diskutierenden einig.
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[1] Für einen Überblick siehe Jackson, Tim. Prosperity Without Growth. Economics for a Finite Planet. London: Earthscan 2009, Kapitel 3
[…] erhebliche Herausforderung für die Degrowth-Bewegung, die ich bereits an anderer Stelle angeschnitten habe, bildet Reichels Ausgangspunkt: Wie sähe eine angemessene Degrowth-Antwort auf […]