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Degrowth als designtes Desaster?

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Die Entwicklung der Degrowth-Bewegung erfolgte als Reaktion auf neoliberale Realität, auf das absurd reduktive neoliberale Verständnis menschlicher Natur, auf die ökologische Blindheit des Neoliberalismus und auf den Anstieg sozialer Ungleichheit, den er mit sich gebracht hat. Austeritätspolitik ist eine der aggressivsten Ausprägungen des Neoliberalismus, und viele Degrowth-Aktivist/innen bemühen sich angesichts häufiger Kritik aus der (sowohl liberalen als auch marxistischen) Linken, die ihr Projekt mit Austerität in Verbindung bringt, zu betonen: „Eure Austerität ist nicht unser Postwachstum.

Trotz der ideologischen Breite und der gelegentlichen intellektuellen Querschläger in der Bewegung hielt ich dies für so selbstverständlich, dass ich etwas verwundert war, einen tatsächlichen Befürworter von Degrowth ganz unverhohlen mehr oder weniger das Gegenteil behaupten zu sehen. In seinem Artikel über „Austerity and Degrowth“ versucht André Reichel die Konzepte des Neoliberalismus und der Austerität aus einer Degrowth-Perspektive zu rehabilitieren und suggeriert, die entsprechende ökonomische Denkweise erleichtere den Übergang ins Postwachstum. Ich möchte dies zum Anlass nehmen für eine Reflexion über die Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, Austeritätspolitik und Degrowth.

Die Krise als Dilemma für die Degrowth-Bewegung

Eine erhebliche Herausforderung für die Degrowth-Bewegung, die ich bereits an anderer Stelle angeschnitten habe, bildet Reichels Ausgangspunkt: Wie sähe eine angemessene Degrowth-Antwort auf die Wirtschaftskrise in Griechenland aus? Könnte Griechenland sich nun sinnvollerweise auf einen Postwachstumspfad bewegen – oder müssen wir zähneknirschend die Notwendigkeit wachstumsorientierter keynesianischer Maßnahmen hinnehmen, um weiteres ökonomisches Notleiden der griechischen Bevölkerung zu vermeiden?

Reichel stört sich an der Bereitschaft von Degrowth-Vertreter/innen, die Syriza-Regierung in ihrem keynesianischen Ansatz zu unterstützen und beschwert sich, dass „plötzlich wachstumsorientierte Politik in Ordnung ist, wenn sie sich irgendwie gegen ‚Austerität‘ oder ‚Neoliberalismus‘ wendet. Geht es intellektuell noch irgend seichter?“ [alle Zitate aus Reichels englischsprachigem Artikel übersetzt durch den Autor] Ich sehe über diese letzte Bemerkung wie auch über seine Behauptung, dass die Degrowth-Bewegung „intellektuelle Aufrichtigkeit“ in der Austeritätsdebatte vermissen lasse, hinweg – möge dieser Beitrag auch als Antwort darauf dienen. Wenngleich er keine kompromisslos neoliberale Linie vertritt, behauptet er: „Die ursprüngliche Idee des Neoliberalismus war, alles Regierungshandeln ökonomisch rechenschaftspflichtig zu machen und allen totalitären Ideologien von links und rechts den Boden unter den Füßen wegzuziehen“ und „Austerität sollte dazu dienen, ökonomisches Denken (vulgo ‚Neoliberalismus‘) auf öffentliche Ausgaben anzuwenden und zu fragen: ‚Welchen wirtschaftlichen Ertrag schafft dieser Ausgabenposten?’“ Sein Argument lautet schließlich, dass „keine Politik der Konjunkturanreize in einem Degrowth-Rahmen funktionieren“ kann, während einige Austeritätsmaßnahmen, so auf die Reduzierung von Ressourcenverbrauch ausgelegt, der Degrowth-Agenda förderlich sein könnten – einschließlich der Deregulierung von Märkten und Wirtschaftssektoren außerhalb des Marktes.

Welches und wessen Degrowth?

Nun frage ich mich, um das Argument nachvollziehen zu können, was ist hier mit Degrowth gemeint? Zwei Aspekte des Konzeptes kommen mir in den Sinn und keiner scheint sich so recht in Reichels Argument zu fügen:

a) Technisch betrachtet bezieht sich der Begriff in der Regel auf Schrumpfung des BIP, also die Reduzierung des Volumens an geldwerten Transaktionen in einer bestimmten („Volks-“)Wirtschaft mit erhoffter positiver ökologischer Auswirkung. Dies ist ein quantitatives Verständnis von Degrowth.

Diesbezüglich behauptet Reichel, die von ihm vorgeschlagene „Form von ‚ökologischer Austerität‘ senkt, zumindest kurzfristig, das BIP noch stärker, während sie das Preisniveau erhöht“ [Hervorhebung durch den Autor]. Der hervorgehobene Teil ist entscheidend: Austeritätspolitik nimmt eine kurzfristige makroökonomische Schrumpfung in Kauf, eine vermeintlich heilsame Diät, bei der das „unproduktive“ Gewebe der Ökonomie weggefastet wird.

Danach jedoch geht, aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive, die Völlerei weiter – das ist Sinn und Zweck der ganzen Operation. Austeritätspolitik wird im Kontext einer kapitalistischen Ökonomie betrieben; das sine qua non des Kapitalismus ist die Akkumulation von Kapital, oder zumindest die Gelegenheit dazu. Ohne diese würde die Maschinerie bald aufhören zu funktionieren. Langfristig geht es bei Austeritätspolitik darum, einen schlankeren, fitteren Kapitalismus zu schaffen, der grundsätzlich „gesunde“ Renditen für private Investitionen ermöglicht (um endlich mit der Gesundheitsmetapher abzuschließen) – in einem Wort, Wachstum.

Keynesianismus und Austeritätspolitik sind letztlich nur zwei unterschiedliche Strategien zur Gewährleistung kapitalistischer Investitionen und ebenjenes Wachstums. Der Hauptunterschied ist, dass auf dem Weg dorthin die Verfechter/innen von Austeritätspolitik noch stärker dazu bereit sind, die ökonomischen Interessen einkommensschwächerer Gruppen den Kapitalinteressen zu opfern, was beiläufig einen positiven Effekt auf (kurzfristige!) Kohlendioxidemissionen und andere ökologische Indikatoren haben kann.

b) Abstrakter ausgedrückt stellt Degrowth eine Vision von sozialer Transformation dar – es wird qualitativer Wandel angestrebt. Degrowth strebt so das „gute Leben“ für alle – und sicherlich nicht mehr Elend im Kapitalismus – an.

Im Neoliberalismus, im Gegensatz dazu, geht es um Vermarktlichung und puren Ökonomismus, basierend auf der Annahme, alle menschliche Interaktion sei durch individuelle Nutzenmaximierung motiviert. (In diesem Sinne ist er übrigens selbst eine „totalitäre“ Ideologie.) Er ist Degrowth diametral entgegengesetzt: Ein besseres Leben für alle kann hier nur durch Wachstum konzeptualisiert werden. Auf den Punkt gebracht wird dies in der Vorstellung, selbst durch die Geschichte widerlegt, dass Wachstum letztlich automatisch allen zugutekommen werde („a rising tide lifts all boats“).

Zudem betrachten Degrowth-Verfechter/innen zumeist kollektive Selbstbestimmung, häufig auf lokaler Ebene, als festen Bestandteil des „guten Lebens“: Communities sollen selbst über ihre wirtschaftlichen Strukturen entscheiden. Austeritätsregime, wie im Falle Griechenlands verdeutlicht, werden in der Regel von oben verordnet – nicht einmal von gewählten nationalen Regierungen (zumindest nicht von denen jener Länder, in denen die Politik zum Tragen kommt), sondern durch gar nicht demokratisch legitimierte supranationale Institutionen.

Vor diesem Hintergrund entlarvt sich Reichels oben zitierte Definition von Austerität mitsamt der Verbindung zu Degrowth selbst: Durch seine Gleichsetzung von ökonomischem mit neoliberalem Denken suggeriert er ein sehr enges Verständnis von Ökonomie, das dann zum Maßstab aller Politik erklärt wird (so viel zum „Anti-Totalitären“ des Neoliberalismus). Wie würde schließlich aus dieser Perspektive „ökonomischer Ertrag“ verbindlich bemessen, wenn nicht durchs BIP? Die Kluft zwischen diesem Denkgebäude und der Degrowth-Idee erscheint trotz Reichels dahingehender Bemühungen immer noch unüberbrückbar.

Klassenunterschiede sollen nicht übersehen werden

In diesem Licht betrachtet überrascht es wenig, dass Reichel nicht viele Ideen anbietet, was seine „ökologische Austerität“ denn beinhalten könnte. Sicherlich, viele öffentliche Ausgaben sind aus Postwachstumsperspektive völlig verzichtbar (das Militärbudget wäre der größte und offensichtlichste Brocken, aber Subventionen für Autobahnen, Flughäfen, Atom- und Kohlekraft, Tierfabriken etc. sind ebenfalls massive Posten) und viele keynesianische Programme in der jüngeren Vergangenheit waren ökologischer Irrsinn. Es gibt also viel zu kürzen, aber das hat wenig mit der Idee von Austerität oder ihrer praktischen Anwendung zu tun, die beide noch nie ökologisch oder sozial orientiert waren. Treffenderweise sind die Ressourcensteuern, die Reichels Kernvorschlag für „ökologische Austerität“ darstellen, nicht unbedingt dem üblichen Repertoire an Austeritätsmaßnahmen entnommen. Vielmehr spricht daraus ein keynesianischer Ansatz zur Nachfragesteuerung, nur dass dieser in Griechenland nun eben gerade zeitlich genau falsch platziert wäre. (Prozyklische Anwendung allein macht aus einer Maßnahme eben kein Austeritätsprogramm, und schon gar kein ökologisches.) Dafür den Begriff der Austerität zu verwenden wäre irgendwo zwischen faktisch falsch, ungeschickt betitelt und gefährlich irreführend (insofern es „echte“ Austeritätspolitik mittels Greenwashing legitimer erscheinen lassen könnte).

Was aber schwerer wiegt: Reichels Blick auf Austerität, Neoliberalismus und Postwachstum bleibt bemerkenswert „klassenlos“. Sogar die kritischeren Passagen zum Neoliberalismus, die durchaus in seinem Artikel Platz finden, verorten dessen Nachteile im vernachlässigten „gesellschaftlichen Wohl“ und fragen rhetorisch: „Wer ist denn glücklich, wenn Einkommens- und Mehrwertsteuer steigen und Löhne sinken?“ Die Gesellschaft erscheint hier als eine amorphe Mittelschichtsmasse, doch es lässt sich kaum bestreiten, dass in den Auswirkungen des „real existierenden“ Neoliberalismus klare Klassenunterschiede sichtbar sind – wer auf dem Arbeitsmarkt mithalten kann, wird bevorteilt, während die ökonomische Sicherheit der Mehrheit gefährdet wird. [1] Austerität wurde stets eingesetzt, um Wohlstand und Einkommen von ärmeren an wohlhabendere Teile der Bevölkerung umzuverteilen. Nach dem gleichen Prinzip würde Reichels vorgeschlagene Ressourcensteuer, wenngleich keine klassische Austeritätspolitik, insbesondere die Ärmeren treffen.

Ich betone diesen Punkt, da ein ähnlicher Mittelschichtsbias charakteristisch für große Teile des Degrowth-Diskurses ist, in dem häufig Mittelschichtsanliegen wie die Work-Life-Balance hervorgehoben werden und das gesellschaftliche „Gemeinwohl“ ohne Rücksicht auf existierende Klassenunterschiede bemüht wird. Das in diesem Beitrag behandelte Beispiel verdeutlicht, welches politische Risiko darin verborgen liegt. Degrowth ist keine rein technische Angelegenheit und der „neutrale“, makroökonomische Blick der Ökonom/innen ist trügerisch. Ohne Bewusstsein für soziale Ungleichheit wird das „gute Leben“ für alle unerreichbar bleiben. Diejenigen in der Degrowth-Bewegung, die sich zu Reichels Missfallen lieber mit der keynesianischen Linken als mit der neoliberalen Rechten in Griechenland verbünden, scheinen dies sehr gut verstanden zu haben.

Wie dann ins Postwachstum?

Natürlich muss der Ressourcenverbrauch gesenkt werden, aber wenn wir unser „ökonomisches Denken“ hier auf Marktlösungen beschränken, werden wir nicht weit kommen, zumal in einer kapitalistischen Marktwirtschaft langfristig immer von Wachstum auszugehen ist. Produktion in einer Marktwirtschaft wird ökologisch ineffizient bleiben, da sie von Profitaussichten bestimmt wird, während die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse ein sekundärer Effekt bleibt. Reichels „ökologische Austerität“, auch wenn er betont, dass sie nur moderat anzuwenden sei, wäre ein Versuch, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Wie betont, sie soll „das BIP noch stärker senken, während sie das Preisniveau erhöht“: Nur indem es vielen Menschen unmöglich gemacht wird, ihre Bedürfnisse am Markt zu erfüllen, lässt sich auf diese Weise eine Senkung des Ressourcenverbrauchs erhoffen. Mögen naive Umweltaktivist/innen sich auch wünschen, dass das erste unerfüllte „Bedürfnis“ irgendjemandes überflüssiger SUV oder überdimensionierter Flachbildfernseher sei – wie das Beispiel Griechenlands zeigt, könnte es in „real existierender“ Austerität genauso gut die medizinische Versorgung der eigenen Großmutter sein (oder ihre Lebensmittel, falls ihre nutzenmaximierende Entscheidung als Marktteilnehmerin diejenige ist, lieber zu hungern als zu erkranken). Von solchem Elend, derzeit in Griechenland zu beobachten, erscheint kein Wort in Reichels Beitrag.

Gleichzeitig hat Reichel Recht darin, dass der Keynesianismus keine wirklichen Antworten auf die multiplen Krisen des Kapitalismus zu bieten hat, kaum eine Spur einer transformativen Vision. Erhebliche Teile der Linken reproduzieren schlicht die dualen Kategorien des Mainstreamdenkens, das zwischen den Alternativen des neoliberalen Fiskalkonservatismus und der keynesianischen Sozialdemokratie mäandert – die beide gemeinsam die gegenwärtigen Krisen herbeigeführt haben, die beide kein „gutes Leben“ für alle gewährleisten und die auch beide nicht ökologisch nachhaltig sind. [2] Abstrakter gesprochen bietet uns diese Perspektive eine falsche Dichotomie zwischen Markt und Staat – falsch, weil beide Ansätze tatsächlich auf beiden Institutionen beruhen, und falsch, weil unsere Möglichkeiten nicht auf diese beiden beschränkt sind. Die einzige Aussicht auf Degrowth im qualitativen Sinne besteht darin, über Markt und Staat hinauszublicken – und es mit beiden aufzunehmen.

Das bedeutet, dass nicht-marktförmige Mittel zur Befriedigung materieller Bedürfnisse politisch zu unterstützen sind, wie es die Degrowth-Bewegung stets fordert. Reichel erkennt das an und fordert auch eine „Deregulierung“ von Sektoren außerhalb des Marktes wie solidarischer Landwirtschaft, offener Werkstätten, Repaircafés und lokaler Alternativwährungen. Ich gehe davon aus, dass mit „Deregulierung“ hier eine Verbesserung des rechtlichen Status solcher Einrichtungen gemeint ist, die Haftungsfragen und ähnliches umfasst, durch die solche Projekte häufig gegenüber kommerziellen Betrieben benachteiligt werden. Doch wie schon Marx berühmterweise bemerkte, entscheidet zwischen gleichen Rechten die Gewalt. Wenn solche Projekte gezwungen sind, mit Marktakteur/innen auf deren Terrain zu konkurrieren (insbesondere dort, wo dieses „dereguliert“ wurde), werden sie stets marginalisiert und laufen jederzeit Gefahr, von Marktkräften erdrückt zu werden – oder, was nicht viel besser ist, vereinnahmt und pervertiert (mensch denke hier etwa an die Kommerzialisierung von einst gemeinschaftlich orientierten Ideen einer „Share Economy“ – wie aus Couchsurfing „Airbnb“ wurde). Der totalitäre Aspekt des Marktes liegt in seiner steten Tendenz zur Expansion. Es gibt keine gemütliche Koexistenz zwischen neoliberaler Praxis und alternativen ökonomischen Strukturen. Solche Alternativen können nur etabliert werden in einer Auseinandersetzung, die den Kapitalismus zurückdrängt. Und da die Prinzipien von Selbstorganisierung und Empowerment, die den meisten dieser Initiativen inhärent sind, zumeist auch mit der Top-Down-Logik des Staates, auch des keynesianischen Wohlfahrtsstaates, in Konflikt geraten, müssen solche alternativen Strukturen letzten Endes auch gegen den Staat etabliert werden.

Für Degrowth kämpfen in Zeiten der Krise

Sicherlich wird Austerität langfristig kein Degrowth bewirken, außer wenn sie scheitert – und auch dann nur im quantitativen Sinne, durch eine anhaltende Rezession, eine tiefe Krise des Kapitalismus, unter der große Teile der Bevölkerung leiden müssen. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass uns dies auch nur ein Stückchen näher in Richtung Degrowth im qualitativen Sinne bringt, und eine vielversprechende Werbestrategie für die Bewegung ist es auch nicht gerade. („Du wirst leiden, aber dein Chef und Mutter Natur werden es dir danken!“)

Aus all diesen Gründen sollte sich die Degrowth-Bewegung vorsehen, nicht mit Austeritätspolitik assoziiert zu werden. Eine solche Vereinnahmung, so bizarr wie die bloße Idee auch scheinen mag, könnte sie zur hippen, kreativen, grünen Fassade von politischen Kräften machen, die mit ihren sozialen und ökologischen Zielen nichts am Hut haben. „Degrowth by design, not disaster“ lautet ein häufig bemühter Slogan. Wenn überhaupt, bietet Austerität Degrowth durch designtes Desaster, und nach meiner Erfahrung ist dies sicher nicht das, worauf die Bewegung abzielt.

In welchem Maße es nun sinnvoll ist, sich kurzfristig mit keynesianischen Ansätzen anzufreunden, ist eine andere Frage. Zunächst erscheint es völlig legitim für Degrowth-Aktivist/innen, sich gegen Armut produzierende Kürzungen in Sozialprogrammen zu stellen, und manche Konjunkturprogramme könnten wenigstens Infrastrukturen verbessern, die auch für eine Postwachstumsgesellschaft benötigt würden (etwa im Bereich öffentlicher Verkehrsmittel). Solange Menschen immer noch auf Versorgung durch den Markt angewiesen sind (mensch bedenke, dass kapitalistische Ökonomien es auch denjenigen, die es möchten, extrem schwer macht, sich ohne Weiteres vom Markt zurückzuziehen), sind wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen ohnehin essentiell zur Vermeidung humanitärer Katastrophen. Natürlich bringt es uns nicht sehr weit, uns einfach die Rosinen aus dem keynesianischen Sortiment herauszupicken – wie es Reichel mit Austeritätspolitik versucht – doch angesichts der gegenwärtigen Situation in Griechenland wäre es zynisch, Menschenleben für einen vermeintlichen ökologischen Nutzen zu opfern und zuzusehen, wie Konservative die falsche Art von „Postwachstum“ zum falschen Zeitpunkt den falschen Menschen aufzwingen.

Aus jeglicher Perspektive (politisch, moralisch, ökologisch,…) ist es Unsinn, sich mit der Rechten gemein zu machen. Wenn wir uns in dieser Situation, wie auch in jeder anderen, für Postwachstum einsetzen, sollte es die sozialtransformative Art sein. In der Linken können wir zumindest hoffen, den Mainstream davon zu überzeugen, dass Degrowth die Aussicht auf eine sehr reale ökonomische Sicherheit für alle bietet. In Griechenland wie in Spanien hat die Krise bereits viele Projekte hervorgebracht, die sich selbstorganisierter und ökologischer Versorgung jenseits von Markt und Staat widmen. Wenn wir solche vielversprechenden Initiativen vor dem Druck des Marktes schützen und die Aussicht auf einen echten Übergang zum Postwachstum fördern wollen, wird es nicht nur notwendig sein, das linke Establishment von seiner sozialdemokratischen Nostalgie abzubringen. Wir müssen auch mit Entschlossenheit dem europäischen Austeritätsregime entgegentreten, das, während es ihnen die brutale Logik des Kapitalismus aufzwingt, derzeit sogar linken Regierungen wenig Spielraum gibt, irgendwen oder irgendetwas vor Marktkräften zu schützen. [3]

 


 

[1] Obwohl drastische Austeritätsmaßnahmen, wie im Falle Griechenlands, auch dazu neigen, gesicherte Mittelschichtsfamilien über Nacht in Armut und Obdachlosigkeit zu katapultieren und so die Mittelschicht effektiv zu verkleinern. Die Effekte sind also offensichtlich nicht sauber nach vorheriger Klassenzugehörigkeit getrennt.

[2] Aus globaler Perspektive hat keynesianische Sozialdemokratie stets nur einem Teil der globalen Bevölkerung auf Kosten anderer gedient, was Bestandteil seiner politökonomischen DNA ist – die Arbeiter- und Mittelschichten westlicher Ökonomien haben ihre Zustimmung zum globalen Kapitalismus eingetauscht für das relative ökonomische Privileg gegenüber den verarmten Massen des globalen „Südens“. Selbst wenn es politisch möglich wäre, den Keynesianismus global zu verallgemeinern, würde der Versuch schnell an planetarische Grenzen stoßen.

[3] Dass die EU gegenwärtig Griechenland unter Druck setzt, die sogenannte europäische „Flüchtlingskrise“ mehr oder weniger alleine unter Bedingungen von Austerität zu lösen, macht die Sache offensichtlich noch komplizierter, aber das ist eine andere Geschichte.

2 Kommentare

  1. Lasse Thiele sagt am 7. April 2016

    Vielen Dank für Ihre prompte Replik. Wie bereits in meinem Artikel anerkannt, stimme ich völlig zu, dass Keynesianismus in seiner Wachtsumsfixiertheit keine echten Lösungen bietet.

    Doch nach Alternativen in supply-side economics zu suchen erschließt sich mir nach wie vor nicht. In Ihrem Modell wird stillschweigend davon ausgegangen, dass die Marktakteur*innen sich im Wesentlichen mit der vertrauten Anreizstruktur konfrontiert sehen. Wie würden bei sinkendem Gesamtoutput da langfristig rentable Investitionsmöglichkeiten für gigantische Kapitalmassen bereitgestellt? Müsste nicht die „durchschnittliche“ Investition negative Rendite erzielen? Wie wäre da ein Kapitalstreik zu verhindern? Bedürfte es zum politischen Ansteuern eines Output-Punktes weiter links auf der Y-Achse nicht so drastischer Interventionen in Marktprozesse, dass ein marktbasiertes Analyseinstrumentarium im Grunde wertlos würde?

    So oder so halte ich es im Grunde nicht für erstrebenswert, die Transformation am makroökonomischen Reißbrett zu planen. Sie sollte dezentral und in bottom-up-Prozessen angestoßen werden. Innerhalb des Rahmens einer kapitalistischen Ökonomie aber erscheint mir die Steuerung von oben in diese Richtung ohnehin unmöglich – besagter Rahmen müsste im Laufe des Prozesses bis zur Unkenntlichkeit verbogen werden. Wachstum ist hier schließlich nicht bloß eine Frage der politischen Zielsetzung, sondern ergibt sich schon aus der Dynamik der Marktprozesse, deren Unterbindung wiederum Sinn und Zweck des ganzen Systems pervertieren würde.

    Sie schreiben: „[W]e should not forget everything we know about economics in order to manage the transition towards an economy beyond growth.“ Doch jenseits der Notwendigkeit eines Verständnisses gegenwärtiger Wachstumsdynamiken (das im Degrowth-Diskurs ja häufig unausgereift ist) geht es im Hinblick auf eine Postwachstumsgesellschaft in einem gewissen Sinne genau darum: Zu vergessen, was wir über Ökonomie wissen. Denn der größte Teil dieses Wissens wurde im Kontext zwangsläufig wachstumsorientierter kapitalistischer Ökonomien entwickelt und ist in deren quantitativem Blick verhaftet. Qualitativer Wandel ist in diesen Kategorien kaum erfassbar, eine Versorgungs- bzw. Fürsorgeperspektive unmöglich einzunehmen. Sich für Vorstellungen einer qualitativ anderen Ökonomie „freizumachen“, darin müsste m.E. die von Ihnen eingeforderte Offenheit bestehen.

  2. Vielen Dank für diesen Beitrag! Mein Ausgangsbeitrag war eigentlich eine Kontinuiierung einiger Gedanken, die ich zum Thema ‚Degrowth und Makroökonomik‘ angestellt habe. Sie finden sich hier:
    http://www.andrereichel.de/2015/02/07/degrowth-macroeconomics/

    Darin ging es mir um die Frage, ob klassisch ‚linke‘ oder ‚rechte‘ Wirtschaftspolitik besser für eine Wirtschaft unter Postwachstumsbedingungen funktionieren würde – das alles unter einem sehr groben, hoch aggregierten ökonomischen Blick. Dabei ging ich einmal von einer gewollten Kontraktion aus, zum anderen von einem empirisch bereits vorliegenden Postwachstumsumfeld. Mein Hauptanliegen war, eine Lanze für eine möglichst unbefangene Betrachtung verschiedener wirtschaftspolitischer ‚Werkzeuge‘ zu brechen. Denn wie Sie ja sehr recht anmerken, scheint es Konsens in Teilen der Degrowth-Szene zu sein, dass es Unsinns sei „sich mit der Rechten gemein zu machen.“ – Was immer auch mit „der Rechten“ gemeint sein mag (vielleicht ist das ja schon die SPD). Den zentralen Absatz zitiere ich hier:

    „This little exercise here was intended to show that we should not forget everything we know about economics in order to manage the transition towards an economy beyond growth. True, this is really a very simple picture of economic knowledge and background. It omits a lot: effects on employment, government spending, trade, non-traditional labor markets, shadow economy, household economy, interest and money, non-monetary means of economic exchange, not to mention the natural environment and so forth. That is however always how science tries to make sense of something. Abstract from reality as much as possible and reduce to the minimum that is just about feasible. Maybe this was too reductive, granted. But it should caution all of us involved in the degrowth movement to side too easily with certain economic recipes and carelessly abandon others.“

    Einige Zeit später kam es dann zu dem kurzen Beitrag über Syriza bzw. wie aus der Degrowth-Bewegung heraus in diesem Zusammenhang neokeynesianische Rezepte (die auf Wachstum aus sind) für gut befunden wurden. Das Beispiel mit dem steigenden Preisniveau aufgrund der Einführung einer Ressourcensteuer, welches Sie oben beschrieben haben, lehnt sich dabei an den ersten Artikel an, und zwar an die Betrachtung einer absichtsvoll herbeigeführten Kontraktion. Verteilungsaspekte mal bei Seite gelassen – die ich in der Tat nicht berücksichtige, dafür taugt auch das Modell, welches ich im ersten Artikel heranziehe überhaupt nicht – komme ich dann zu folgendem Schluss (im Original zitiert):

    „In order to tackle prices, deregulating product markets could help ease inflation. Under a degrowth framework this ‘deregulation’ would have to be extended to non-market sectors like community farming, makerspaces and repair initiatives, as well as LETS. In an earlier blog article I wrote (with some technical language) that “lessening the slope of [the supply curve] becomes imperative.” Moreover, if productivity cannot (and should not) be increased anymore – i.e. if output per labor hours goes down e.g. by reducing work hours – then markets have to be made more flexible and red tape cut back extensively.“

    Das alles folgt aus einem sehr einfachen Angebots-Nachfrage-System, sowohl unter neokeynesianischen, als auch neoklassischen Annahmen. Ich stimme Ihnen uneingeschränkt zu, dass für eine ‚richtige‘ Degrowth-Wirtschaftspolitik das Verteilungsthema zwingend berücksichtigt werden muss – z.B. über eine Entlastung unterer Einkommen und der Bezieher von Transfereinkommen durch die die Einnahmen aus Ressourcen- und Vermögenssteuern. Auch die Einführung eines BGE wäre denkbar.

    Darum ging es mir aber weder bei meinem ersten, noch bei meinem zweiten Artikel. Mir ging und geht es darum, dass es in der Degrowth-Bewegung Teile gibt, die automatisch wirtschaftspolitisch nach ‚links‘ schauen, obwohl linke Wirtschaftspolitik genauso Wachstum als Ziel hat wie rechte. Es geht mir um einen unvoreingenommenen Blink auf den gesamten Instrumentekasten, den wir in der Wirtschaftspolitik haben. Wir wissen nämlich nicht, wie eine Degrowth-Wirtschaft oder eine Degrowth-Gesellschaft wirklich aussehen und funktionieren kann. Deswegen mein Plädoyer für mehr Offenheit.

    Mit den Besten Grüßen
    AR

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