Welche Rolle kann und sollte kleinen und mittleren Unternehmen in den Wandelprozessen zur Postwachstumsgesellschaft zukommen? Wie sehen geeignete Unternehmensstrategien für eine nicht wachsende Wirtschaft aus? Ergeben sich aus den Transformationsprozessen gar neue Geschäftsmodelle? Im Rahmen des vom IÖW und der BTU Cottbus durchgeführten Projekts „Postwachstumspioniere – Kommunikationsprojekt zur Erweiterung des Postwachstumsdiskurses um die Rolle mittelständischer Unternehmen“ geben verschiedene postwachstumsorientierte Unternehmen Antwort auf diese Fragen. Wir setzen unsere Reihe fort mit einem Interview mit Rainer Engler, Geschäftsführer der Blumenschule.
Die Blumenschule in Schongau ist seit 1939 im Familienbetrieb. Sie ist eine Naturland-Gärtnerei, welche sich der Pflanzenkultur verschreiben hat. Ein Ziel der Gärtnerei ist es deshalb, alte Pflanzen und altes Pflanzenwissen zu beleben und mit den Gegebenheiten der heutigen Zeit zu verknüpfen.
Gerrit von Jorck: Wachstum wird in der öffentlichen Debatte noch immer häufig mit Wohlstand gleichgesetzt. Zuletzt im Europawahlkampf plakatierte die SPD „Für ein Europa des Wachstums“. Welche Bedeutung hat Wachstum Ihrer Meinung nach für unsere Gesellschaft?
Rainer Engler: Zuerst braucht es eine Klärung des Begriffs Wachstum. Während die Mehrheit unter Wachstum wahrscheinlich ein „Mehr desselben meint“, also lineares Wachstum, verstehe ich Wachstum als spiralige Entfaltung und Entwicklung von Mensch und Natur – Potenzialentfaltung!
Gerrit von Jorck: Auch Unternehmenserfolg wird häufig an Wachstum – an wachsenden Umsätzen, Mitarbeiterzahlen, Gewinnen usw. – gemessen. Was macht für Sie ein erfolgreiches Unternehmen aus und welche Rolle spielt unternehmerisches Wachstum dabei? Und: Wie definieren Sie Wachstum auf Unternehmensebene?
Rainer Engler: Unternehmen sind so verschieden wie die Menschen. Sie sind Produktionsstätten menschlichen Schaffens auf ein Ziel hin. Das erreichte Ziel ist der Unternehmenserfolg. Unser Ziel und Erfolg ist, wenn uns die Anzucht und Kultivierung von Pflanzen, die den Menschen heilen, erfreuen und nähren, gelingt und wir diese Pflanzen zum angemessenen Preis verkaufen können. Wachstum besteht darin, das Sortiment dem sich ändernden Bedarf anzupassen, die Anzucht und Kultivierung zu verbessern, dadurch die Qualität zu verbessern. Pflanzenpotenzial zu entdecken und zu entwickeln gehört ebenfalls dazu. Dabei sind die hier arbeitenden Menschen gleichzeitig mit ihrem persönlichen Wachstum, ihrer Potenzialentfaltung befasst.
Gerrit von Jorck: Es gibt verschiedene unternehmensinterne und unternehmensexterne Gründe, ein Unternehmen „wachstumsneutral“ aufzustellen, also die Unternehmensgröße nicht weiter zu steigern und/ oder die sozialen und ökologischen Wirkungen unternehmerischen Handelns immer weiter zu verbessern. Was hat Sie als kleines Familienunternehmen dazu bewogen, Ihr Unternehmen wachstumsneutral aufzustellen? Was gilt es für Sie dabei zu begrenzen oder zu reduzieren – was soll gleichwohl gesteigert werden? Was kann man hierbei von der Natur lernen?
Rainer Engler: Nach Jahren des intensiven Strebens nach „Mehr“, mehr Erfolg, mehr Gewinn, brachten Unfälle einen Lebenseinschnitt, Zeit für Reflektion. Daraus wurde die Vision der Blumenschule; die sich daraus ergebenden Ziele wurden mit vielen Umwegen erreicht. Dieser „Jakobsweg als Unternehmer“ bestätigte die Vision und brachte reiche Erfahrung sowie Potenzialentfaltung für alle hier, Mensch und Pflanze. Da das Ziel eng begrenzt ist, braucht es kein Wachstum in Menge, wohl aber in Qualität und Schönheit. Wie in der Natur ist auch unser Wachstum zyklisch, von den Samen keimen und wachsen nur die, die am besten in die Nische angepasst sind, wenn die Zeit für sie richtig ist, für die auch genügend Bedarf besteht. Es ist auch Spiel, hat Sieger und Verlierer und dennoch Leichtigkeit.
Gerrit von Jorck: Ihr Unternehmen ist in einer am Wachstum orientierten Gesellschaft tätig und steht im Wettbewerb mit anderen Unternehmen, die weiterhin an ihren Wachstumsstrategien festhalten. Wie (gut) gelingt es Ihnen, Ihr Unternehmen in diesem Umfeld so aufzustellen, dass es unabhängig von einer Orientierung am Wachstum wirtschaften kann? Welche Hürden mussten Sie nehmen und welche Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft für Ihr Unternehmen?
Rainer Engler: Ich erinnere an die Definition von Wachstum. Wachstum an Menge interessiert uns nicht. Wir sehen uns als Spezialisten, sind in unserer Nische, auf unsere Art besonders. Dabei verbunden und vernetzt mit art- und sinngleichen Unternehmen. Dies befreit uns weitgehend von Marktzwängen. Die größten Hürden waren die Selbstfindung: Welche Stärke und Unverwechselbarkeit haben wir, welchen Nutzen bieten wir? Und die kontinuierliche Weiterentfaltung und Entwicklung als dynamischer Prozess. Diese Herausforderungen begleiten uns und sind als konstanter Prozess täglich spürbar.
Gerrit von Jorck: Ein Unternehmen, das sich wachstumskritisch positioniert, stößt sicherlich auf geteilte Reaktionen. Wie gehen Sie in der Öffentlichkeit mit Ihrer Unternehmensstrategie um? Wie reagieren Ihre Geschäftspartner/innen und Kund/innen darauf, dass Sie sich wachstumsneutral aufgestellt haben? Halten Sie es für wichtig, dass Postwachstumsorientierungen von Unternehmen breit kommuniziert werden?
Rainer Engler: Unsere Positionierung entwickelt auch Anziehungskraft für Menschen, die unsere Kund/innen sind. Sie ist auch ein Unterscheidungsmerkmal, wir haben ein Profil, sind berechenbar – das mögen viele Menschen. Für unsere Geschäftspartner und Kund/innen ist unser Angebot wichtig – die Wachstumsorientierung interessiert sie nicht. Beispiele wie wir könnten Schule machen! Jedoch sind Postwachstumsorientierungen wenig sexy, haben keinen Glamour sind allenfalls bemerkenswerte Ausnahmen. Wie viele Unternehmen haben den Mut, zuerst ihre persönliche und private Potenzialentfaltung anzustreben und ihre Unternehmensvision danach auszurichten?
Gerrit von Jorck: Welchen Beitrag können kleine und mittlere Unternehmen Ihrer Meinung nach auf dem Weg in eine sozial und ökologisch nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft leisten? Glauben Sie, dass Ihre Unternehmensstrategie dabei auch auf andere Unternehmen übertragbar wäre? Wünschen Sie sich Unterstützung oder weitere Freiheiten z.B. von der Politik? Haben Sie konkrete Forderungen?
Rainer Engler: Kleine Unternehmen sind überschaubar und entsprechende persönliche Verantwortung jedes Mitarbeiters kommt zu tragen und ist ständig sichtbar und fühlbar. Für die Fortentwicklung wird ein Konsens gesucht und gefunden. In so gestalteter Betriebsform sind auch große Unternehmen denkbar, zusammengesetzt durch solche Bausteine; selbst ganze Volkswirtschaften sind so denkbar. Es ist eine Frage der Bewusstheit von Potenzialentfaltung und Entwicklung. Diese Bewusstheit wird nur von einem Teil der Bevölkerung getragen und als Wert an sich wahrgenommen. Die Mehrheit hat vermutlich ein anderes menschliches Entwicklungsziel. Aufgabe der Politik ist es Visionen zu bewerben, Ziele zu entwickeln, um in einer Gesellschaft die Lust zu mehr Bewusstheit anzuregen und Schüchternen und Zögerlichen Mut zu machen. Insofern ist Ihre Arbeit, Herr von Jorck, ein Teil davon – ein Teil der Menschheitsentwicklung, Gesellschaftsentwicklung, Menschwerdung.
Das Interview fand am 9. September 2014 im Rahmen des IÖW-Projekts Postwachstumspioniere statt.