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Bürger*innen fordern Suffizienz und Regulierung

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Ein Vergleich der Suffizienzmaßnahmen in den Empfehlungen europäischer Bürger*innenräte mit den Nationalen Energie- und Klimaplänen (NECPs) 

Dieser Beitrag basiert auf einer wissenschaftlichen Veröffentlichung, die bei Energy Research and Social Science erschienen ist (open access): https://doi.org/10.1016/j.erss.2023.103254  

 

„Die Bürger*innen wollen das nicht“, „das ist nicht mehrheitsfähig“ oder vergleichbare Aussagen hört man häufig, wenn man Politiker*innen fragt, wieso so wenig suffizienzpolitische Maßnahmen umgesetzt werden. Mit Suffizienzpolitik beschreiben wir Maßnahmen, die auf die absolute Reduktion von Konsum- und Produktionsmengen abzielen und die dafür notwenigen kollektiven Verhaltensänderungen adressieren. Wir haben uns gefragt: Stimmt das eigentlich? Sind wirklich „die Bürger*innen“ das oder zumindest ein entscheidendes Hemmnis bei der Umsetzung von Suffizienzpolitik? Ist Suffizienzpolitik wirklich nicht breit anschluss- und mehrheitsfähig? 

Um diesen Fragen nachzugehen, haben wir die Empfehlungen von Bürger*innenräten untersucht. Bürger*innenräte sind eine vergleichsweise junge Form der Bürger*innenbeteiligung und Politikberatung. In der Regel bestehen Bürger*innenräte aus 30-200 Bürger*innen, die nach gewissen sozio-ökonomischen Daten gewichtet zufällig gelost werden. Ziel ist es, eine für die Bevölkerung möglichst repräsentative „Mini-Öffentlichkeit“ zusammenzustellen. Dadurch genießen die Empfehlungen dieser Bürger*innenräte in der Regel eine deutlich höhere Legitimation als Ergebnisse von klassischen Formen der Bürger*innenbeteiligung, bei denen Menschen mit überdurchschnittlichem Bildungsniveau, Einkommen oder ähnlichem in der Regel deutlich überrepräsentiert sind.  

Empfehlungen der Bürger*innenräte enthalten 5x so viel Suffizienz wie die Nationalen Klima- und Energiepläne  

Für unsere Untersuchung haben wir alle Empfehlungen von Bürger*innenräten, die es in der EU und Großbrittanien auf nationalstaatlicher Ebene sowie auf EU-Ebene zum Thema Klimaschutz gab, ausgewertet: Deutschland (DE), Dänemark (DK), Finnland (FI), Frankreich (FR), Großbritannien (GB), Irland (IE), Luxemburg (LU), Österreich (AT), Schottland (SC), Spanien (ES) und von der EU. Dabei haben wir zunächst die Suffizienzmaßnahmen identifiziert und diese dann nach unterschiedlichen Gesichtspunkten wie Sektor (z.B. Mobilität. Gebäude oder Landwirtschaft und Ernährung), Instrumententyp (z.B. fiskalisch, ökonomisch oder regulatorisch) oder Zustimmungsrate ausgewertet. Diese Ergebnisse haben wir anschließend für alle Länder, die auch Mitglied der EU sind, mit einer analogen Analyse der Nationalen Klima- und Energiepläne verglichen. Die EU-Staaten sind dazu verpflichtet, in diesen Plänen ihre Maßnahmen zur Erreichung der Klimaziele bis 2030 darzulegen. Durch dieses Vorgehen konnten wir die Ergebnisse von vergleichsweise repräsentativen Bürger*innenbeteiligungen mit den Plänen der Nationalstaaten vergleichen. 

In den Dokumenten der Bürger*innenräte finden sich insgesamt 860 Empfehlungen zur Klimaschutzpolitik, von denen 332 (39 %) als Suffizienzmaßnahmen gezählt werden können. Das ist an sich schon eher als hoch einzuschätzen, da die restlichen 61 % sowohl Maßnahmen der technischen Nachhaltigkeitsstrategien der Effizienz und Konsistenz als auch allgemeine Nachhaltigkeitsmaßnahmen, die sich keiner Strategie zuordnen lassen, umfassen. Besonders deutlich wird der vergleichsweise hohe Zuspruch der Bürger*innenräte zur Suffizenzstrategie jedoch im Vergleich mit dem Suffizienzanteil der Nationalen Klima- und Energiepläne: Hier liegt der Anteil von Suffizienzmaßnahmen an den insgesamt 812 geplanten Maßnahmen bei gerade mal bei 8 %. 

In Bezug auf die sektorale Verteilung der Maßnahmen gibt es einen deutlichen Überhang beim Mobilitätssektor, wobei die Empfehlungen der Bürger*innenräte insgesamt etwas ausgeglichener sind. Am wenigsten Maßnahmen gibt es im Gebäudebereich.  

Abbildung 1: Anteil der Suffizienzmaßnahmen an allen Klimaschutzmaßnahmen in den Empfehlungen der Bürger*innenräte (CA, citizen assemblies) und in den Nationalen Klima- und Energieplänen (NECP) nach Ländern (Großbritannien und Schottland sind nicht Teil der EU, sodass hier kein NECP existiert).

Abbildung 2: Suffizienzmaßnahmen in den Empfehlungen der Bürger*innenräte (CA, citizen assemblies) und in den Nationalen Klima- und Energieplänen (NECP) nach Sektor.

Bürger*innenräte fordern regulatorische Suffizienz

Interessant ist auch die Verteilung nach Instrumententyp und der Zustimmungsraten. Die Pläne der Nationalstaaten setzen vor allem auf fiskalische (29 %) und ökonomische (19 %) Suffizienzmaßnahmen, also Infrastrukturausbau, Förderungen, Steuern oder ähnliches. Gerade mal 11 % aller Suffizienzmaßnahmen sind regulatorischer Art. In den Empfehlungen der Bürger*innenräte zeigt sich ein ganz anderes Bild: Regulatorische Maßnahmen haben einen Anteil von über einem Drittel an allen Suffizienzmaßnahmen (34 %), wohingegen auf fiskalische (22 %) und ökonomische (11 %) Instrumententypen ein geringerer Anteil entfällt.

Besonders bemerkenswert ist die Wahl der Instrumententypen, wenn man diese mit den Zustimmungsraten der Bürger*innenräte zu den einzelnen Maßnahmen verknüpft. In den meisten Bürger*innenräten wurde über jede Maßnahme einzeln abgestimmt, sodass maßnahmenspezifische Zustimmungsraten vorliegen. Hier zeigt sich, dass regulatorische Maßnahmen, die bei den Empfehlungen der Bürger*innenräte auch eine zentrale Rolle spielen, zu den Instrumententypen mit den höchsten Zustimmungsraten zählt. Die niedrigsten Zustimmungsraten entfallen hingegen auf ökonomische Instrumente, die bei den Plänen der Nationalstaaten eine größere Rolle spielen. Insgesamt ist die Zustimmungsrate zu Suffizienzmaßnahmen mit durchschnittlich 93 % sehr hoch.

Abbildung 3: Suffizienzmaßnahmen in den Empfehlungen der Bürger*innenräte (CA, citizen assemblies) und in den Nationalen Klima- und Energieplänen (NECP) nach Instrumententyp.

Suffizienzpolitik ist breit anschluss- und mehrheitsfähig

Die Ergebnisse zeigen, dass die Annahme, Suffizienzpolitik sei nicht mehrheits- und breit anschlussfähig, schlichtweg falsch ist. Darauf deuten auch repräsentative Umfragen in Deutschland und der Schweiz hin, in denen suffizienzpolitische Maßnahmen hohe Zustimmungswerte bekommen.[1] Wenn Suffizienzpolitik und noch dazu in regulatorischer Form jedoch breit anschlussfähig sein kann, woran liegt es dann, dass sie in den nationalen Klima- und Energieplänen nahezu keine Rolle spielt? Wir können hier nur Vermutungen anstellen. Die Tatsache, dass die gelosten Mitglieder der Bürger*innnräte um keine Wiederwahl bangen müssen und nur Empfehlungen und keine bindenden Entscheidungen treffen mussten, macht sie deutlich weniger anfällig für Lobbyeinflüsse, Medienberichterstattung oder Kampagnen, durch die einflussreiche Minderheiten politische Entscheidungen zu ihren Gunsten versuchen zu beeinflussen. Die Struktur von Bürger*innenräten, in denen sich eine vergleichsweise kleine, heterogene Gruppe regelmäßig zu gemeinsamen Diskussionen trifft, ermöglicht eine andere Debattenkultur als sie sonst in der großen Gesellschaft stattfindet. Dadurch werden Wähler*innen zu Bürger*innen. Interessant ist, dass diese Freiheiten und Möglichkeiten eines geschützten politischen Diskurses von den Bürger*innenräte für eine deutliche Forderung nach mehr (regulatorischer) Suffizienz genutzt wurde. Damit erhöhen die Bürger*innenräte den Druck auf die Politiker*innen mehr Suffizienzpolitik umzusetzen.

[1] S. 23 – 24: https://fr.boell.org/sites/default/files/2023-01/umfrage-ipsos_hbs-fep-60-jahre-elysee-vertrag.pdf

 

 

Jonas Lage ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Norbert Elias Center for Transformation Design and Research der Europa-Universität Flensburg und Teil des I.L.A. Kollektivs. In diesen Rahmen beschäftigt er sich vor allem mit Fragen der Suffizienzpolitik, sozial-ökologischer Transformation, Stadtentwicklung sowie der imperialen und soildarischen Lebensweise. Aktuell promoviert er in der Umweltsoziologie im Rahmen der Nachwuchsforschungsgruppe "Die Rolle von Energiesuffizienz in Energiewende und Gesellschaft".

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