Standpunkte

Rojava: Die Befreiung vom Staat

Schreibe einen Kommentar

Im vergangenen Blogartikel wurde ausgeführt, dass sich der liberale Nationalstaat nicht vom ökonomischen Wachstum trennen kann, da dies nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine explizite politische Frage darstellt. Die Aussicht auf zunehmenden Wohlstand stabilisiert eine Hegemonie, die auf Ausbeutung, Externalisierung und ungleichen Eigentumsverhältnissen beruht. Es ist berechtigt anzumerken, dass erst eine Alternative zum Nationalstaat existieren muss, wenn wir uns vom Wirtschaftswachstum und Kapitalismus befreien möchten. Können wir uns überhaupt ein Ende des Kapitalismus vorstellen? Die politische Praxis in Rojava kann uns eine Alternative und somit eine Antwort bieten.

Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, auch bekannt als Rojava (fortlaufend in diesem Artikel auch so genannt), liegt im Norden Syriens. Sie kann einerseits als autonome politische Einheit und andererseits als konkretes utopisches Projekt verstanden werden. Ersteres ergibt sich aus der Selbstverwaltung, die in gewissem Maße unabhängig von der syrischen Regierung ist. Letzteres ergibt sich aus dem Anspruch, eine herrschaftsfreie, emanzipierte und im Einklang mit der Natur stehende Gemeinschaft zu schaffen. Dies wird durch das grundlegende Motto von David Graeber (2016) veranschaulicht: „Man kann den Kapitalismus nicht loswerden, ohne den Staat abzuschaffen; man kann den Staat nicht abschaffen, ohne das Patriarchat loszuwerden“ – dazu später mehr.

Die Geschichte Rojavas, insbesondere die Entwicklung zu einem Gebiet der autonomen Selbstverwaltung, geht Hand in Hand mit der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung, die in der Region auch die ethnische Mehrheit bildet und nach eigenem Verständnis bis 2000 v. Chr. zurückreicht. Angesichts der Frage, wie eine selbstbestimmte Zukunft aussehen kann, hat sich der Kampf für Selbstbestimmung und Emanzipation durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) entwickelt, von einer stalinistisch ausgerichteten Strategie zu einer, die alle ungerechten und unfreiwilligen Herrschaftsstrukturen, insbesondere zwischen Menschen und Staat sowie verbunden damit Kapitalismus und Patriarchat, durchbrechen und auflösen möchte. Die Ideen wurden von Abdullah Öcalan entwickelt und lassen sich unter der Ideologie des Demokratischen Konföderalismus zusammenfassen.

Die theoretische Basis des Demokratischen Konföderalismus geht davon aus, dass der Sündenfall des Menschen das Patriarchat ist. Ausgehend vom primitiven Sozialismus, der auf egalitären Verhältnissen zwischen Menschen und zwischen Menschen und Natur beruht, entstand mit dem Priestertum die erste menschliche Hierarchie. Die anfängliche Unterdrückung von Frauen [1] markiert den ersten Schritt zur Etablierung von Staaten als konzentrierte und unterdrückende Machtstrukturen, die letztendlich auch den Kapitalismus hervorbringen. Die Herrschaft des Mannes über andere Geschlechter und die Natur ist dementsprechend untrennbar mit dem Staat verbunden. Auch realsozialistische Bemühungen, die auf Staaten basieren, sind abzulehnen, da auch dort patriarchale Logiken reproduziert werden: Hierarchien, Unterdrückung und ein ausbeuterisches Verständnis von Mensch und Natur. Der entscheidende Punkt ist, dass Kapitalismus, (National)Staaten und Patriarchat drei Seiten derselben Medaille sind. Der Kapitalismus wird jedoch nicht als inhärenter Bestandteil des Staates angesehen, sondern als sozial-ökonomisches Regime, das in Symbiose mit Staaten einhergeht und in dem das Gewaltmonopol des Staates Monopole über Eigentum und Produktionsmittel verteidigt und ermöglicht.

Gekennzeichnet von monopolistischen und unterdrückerischen Merkmalen können nach Öcalan weder kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse noch, unabhängig davon, Staaten als demokratisch bezeichnet werden. Es wird sogar so weit gegangen, den Staat als Antithese zur natürlichen Gesellschaft zu verstehen, was darauf hindeutet, dass Staaten und hierarchiefreie Gesellschaften nicht spannungsfrei koexistieren können und dass der Kapitalismus im Konflikt mit wirklicher Demokratie steht.

Wie soll aber nun eine Gesellschaft aussehen, die nicht von unterdrückerischen und monopolistischen Hierarchien geprägt ist? Der Kern jeder Gesellschaft soll die Dezentralisierung von Macht sein, da, nach deren Vorstellungen, die beste politische Repräsentation in der Selbstrepräsentation liegt. Daher ist es wichtig, sich basisdemokratisch zu organisieren und in lokalen Räten selbst zu regieren. Über größere Fragen können dann in größeren geografischen Zusammenschlüssen durch Repräsentant:innen, administrativ gesehen, von unten nach oben entschieden werden. Der Fokus des politischen Lebens sollte jedoch auf lokaler Ebene liegen, da dort die alltäglichen Aushandlungsprozesse angegangen und Nöte wahrgenommen werden können.

Ein durchziehendes Prinzip in der lokalen Selbstverwaltung und Basisdemokratie ist das Verständnis, dass das Patriarchat und die Ausbeutung der Umwelt zusammengehörige Phänomene sind und dass daher der Kampf um Geschlechtergerechtigkeit mit dem Kampf gegen Hierarchisierung, Ausbeutung und imperialistische Vorstellungen von Menschen über Natur verbunden ist. Dementsprechend ist es wichtig, explizite Frauenräte auf allen Ebenen einzurichten, die sich mit gender-spezifischen Fragestellungen und Belangen kollektiv befassen können – einschließlich Selbstverteidigung.

Durch Rojava wird eine neue Form der politischen Organisation und sozioökonomischen Struktur vorgestellt, die auf basisdemokratischen Prinzipien, Dezentralisierung von Macht und Geschlechtergerechtigkeit beruht. Rojava stellt somit eine herausfordernde Antwort auf die Frage dar, ob eine Alternative zum Nationalstaat möglich ist, die sich auch vom Wirtschaftswachstum und Kapitalismus emanzipiert. Die Frage, ob und inwieweit diese basisdemokratische Selbstorganisierung nachhaltig funktionieren und skalierbar sein kann, bleibt offen. Dennoch bietet Rojava einen realen Ankerpunkt für die Erforschung nachhaltiger Alternativen.

Was das für Degrowth bedeuten kann, wird im nächsten Artikel vorgestellt.

 

 

[1] Der Autor erkennt an, dass patriarchale Herrschaftsverhältnisse, trotz eines binären Geschlechterverständnisses, Geschlechter unterdrückt und diskriminiert, die jenseits und zwischen der Binarität liegen. In dem Blogartikel werden jedoch die Schriften Abdullah Öcalans rezitiert, weshalb der binäre Wortlaut verwendet wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.