Der Beitrag umreißt die zentralen Ergebnisse der Studie „NWI 2.0 – Weiterentwicklung und Aktualisierung des Nationalen Wohlfahrtsindex“ von H. Diefenbacher, B. Held, D. Rodenhäuser (FEST) und R. Zieschank (FFU Berlin).
Die Diskussionen in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ haben es gezeigt: Die Erkenntnis, dass die traditionelle Messung der ökonomischen Entwicklung eines Landes mit dem BIP dringend ergänzungsbedürftig ist, setzt sich durch. Wie die Neuvermessung gesellschaftlicher Wohlfahrt aussehen soll, darauf allerdings können sich die politischen Akteure aktuell nicht verständigen. Der Auftrag, einen neuen Indikator vorzuschlagen, blieb unerledigt; nicht einmal die Einigung auf ein gemeinsames Indikatorenset gelang.
Weiterentwicklung des Nationalen Wohlfahrtsindex
Auch der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) von FEST Heidelberg und FFU Berlin konnte die Gunst der Enquete-Mitglieder nicht gewinnen. Davon lassen sich die AutorInnen jedoch nicht beeindrucken: Anfang 2013 veröffentlichten sie den überarbeiteten „NWI 2.0“ und liefern damit eine aktualisierte empirische Unterfütterung der Debatte um neue gesellschaftliche Berichtssysteme, die den Fokus auf soziale und ökologische Begleiterscheinungen der gegenwärtigen Produktions- und Konsummuster lenkt.
In die Berechnung fließen Komponenten ein, die Wohlfahrtsaspekte wie soziale Gerechtigkeit, unbezahlte gesellschaftliche Arbeit wie Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten, Umweltschäden und Ressourceninanspruchnahme zu erfassen suchen und die im BIP nicht berücksichtigt werden. Damit lenkt der NWI konzeptuell den Blick auf eine Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft in Richtung eines auch ökologisch tragfähigen Wirtschaftens.
Nach der ersten Veröffentlichung 2009[1] und einer Aktualisierung im Jahr 2011 konnte der weiterentwickelte NWI 2.0 nun für den Zeitraum 1991 bis 2010 berechnet werden. 20 Komponenten, unter anderem die neuaufgenommenen Kosten der Atomenergienutzung, fließen ein. An verschiedenen Stellen waren methodische Verbesserungen möglich, die – gemeinsam mit rückwirkenden Änderungen auch von Daten aus der amtlichen Statistik – im Vergleich zu früheren Versionen zu einigen Änderungen führen. Insgesamt bleibt der Trend der Entwicklung davon jedoch unberührt.
2009: Wirtschaft schrumpft – Wohlfahrt wächst?
Die Ergebnisse früherer Berechnungen finden sich damit bestätigt: Wirtschaftsleistung und am NWI gemessene Wohlfahrt können sich sehr unterschiedlich entwickeln.
Wie in der Grafik erkennbar wird, weisen die Kurven von NWI und BIP bereits seit 1999 deutlich unterschiedliche Verläufe auf, was besonders auf die zunehmende Einkommensungleichheit in Deutschland zurückzuführen ist. Die Aktualisierung des NWI weist nun auch für die jüngste Wirtschaftskrise Divergenzen zwischen Wirtschafts- und Wohlfahrtsentwicklung aus: 2009 kommt es zu einem Anstieg des NWI, der im Kontrast zum Sinken des BIP steht. Hauptgrund sind rückläufige Umweltkosten; vor allem Luftschadstoffkosten, Ersatzkosten für die Verwendung nicht erneuerbarer Ressourcen und Schäden durch Treibhausgasemissionen sind gesunken. Hinzu kommen Steigerungen des Wertes von Hausarbeit und Ehrenamt. Das erneute Anspringen der Konjunktur im Folgejahr führt zu einem Wiederanstieg der Schadens- und Ersatzkosten im Umweltbereich. Dennoch entwickelt sich der NWI auch 2010 positiv (allerdings weniger stark als das BIP), da es gleichzeitig zu einer deutlichen Steigerung der gewichteten Konsumausgaben sowie zu weiteren Zuwächsen beim Wert von Hausarbeit und Ehrenamt kommt.
Wissenschaftliche Impulse durch regionale Anwendung
Damit wird sichtbar, was eine Einbeziehung von Wohlfahrtsaspekten wie ökologischer Tragfähigkeit und sozialer Gerechtigkeit in ein volkswirtschaftliches Rechnungswesen quantitativ implizieren könnte. Deutlich wird auch, wie sehr der Kernindikator BIP mit seiner Fokussierung auf marktvermittelte Leistungen blind beziehungsweise fehlsichtig gegenüber grundlegenden Dimensionen individuell angestrebter und gesellschaftlich tragfähiger Entwicklung ist.
Eine politisch wirksame Ergänzung ist also dringend geboten. Von wissenschaftlicher Seite gilt es, die Diskussion voranzubringen, indem vorliegende Erkenntnisse kommuniziert und Alternativmaße sowohl methodisch als auch in Bezug auf die Datengrundlagen weiter verbessert werden. Ein Schritt in diese Richtung ist die Anwendung der NWI 2.0-Methodologie auf verschiedene Bundesländer: Nachdem 2011 ein erster Regionaler Wohlfahrtsindex für Schleswig-Holstein veröffentlicht werden konnte, werden 2013 Studien zu Bayern, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen erscheinen. Aus den Regionalentwicklungen des Wohlfahrtsindex sollen auch Impulse für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Umweltpolitik abgeleitet werden.
Das NWI-Team besteht aus Hans Diefenbacher, Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser (FEST Heidelberg) und Roland Zieschank (FFU Berlin). Die Original-Studie kann als Kurz- und Langfassung auf der Website der FEST heruntergeladen werden.
[1] Hans Diefenbacher und Roland Zieschank (unter Mitarbeit von D. Rodenhäuser) (2009): Wohlfahrtsmessung in Deutschland. Ein Vorschlag für einen nationalen Wohlfahrtsindex. Heidelberg/Berlin.
Ich empfinde den NWI als sehr guten Ansatz zu einer längst nötigen Reformation des BIP. Auf die Studie aus Bayern bin ich mal gespannt!
Weiter so! 🙂