Standpunkte

Weitere 10 Jahre Wachstumskritik – was folgt?

Schreibe einen Kommentar

Im Jahr 2022 jährt sich der Bericht «Die Grenzen des Wachstums» (Meadows et al. 1972) zum 50sten Mal. Soweit möchten wir zwar hier nicht zurückschauen, jedoch auf die Zeit seit der Wirtschaftskrise von 2008 und die folgenden Jahre, die der Wachstumskritik einen neuen Schub gaben – und auch ein Impuls waren für unser Buch «Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft» (Seidl/Zahrnt 2010) und in der Folge für die Entstehung des Blogs Postwachstum.

Wie haben sich Diskussionen und Forschung zur Wachstumskritik in den mehr als 10 Jahren seit Erscheinen des Buches und dem Beginn der Debatte auf dem Blog weiterentwickelt?

Die Wachstumsdebatte des letzten Jahrzehnts im Überblick

a) Der Rebound-Effekt, den bis in die späten 2000er-Jahre lediglich wenige in Fachkreisen kannten, entfachte im letzten Jahrzehnt eine breite Debatte und gilt seither sowohl als Wachstumstreiber wie auch als Hemmnis für eine Entkopplung zwischen Wachstum und Umweltnutzung (Lange/Berner 2021). Gemäss den empirischen Hinweisen führt eine effizientere Nutzung von Energie und natürlichen Ressourcen nicht zwangsläufig dazu, dass sich der Energie- und Ressourcenverbrauch im Ausmass des technisch Möglichen reduziert, sondern meist geringer ausfällt (wegen zunehmender Nutzung der Ressourcen für Konsum oder Produktion). Damit wird die Hoffnung auf Effizienzverbesserungen, die die Umweltbelastung massiv auf das nötige Mass reduzieren könnten, gedämpft. Die Forderung, Ressourcenpreise mindestens im Ausmass der Effizienzsteigerungen zu erhöhen, und damit den Reboundeffekt zu bremsen, findet kaum Resonanz.

b) Auch die Erkenntnisse zum Thema Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch sind in den letzten Jahren weit vorangekommen – auch über die Rebound-Forschung hinaus. Mehrere Berichte zeigen – mit teils umfangreichen Literaturreviews -, dass bisher keine absolute Entkopplung (bei Wirtschaftswachstum sinkt der Ressourcenverbrauch) stattfindet und die Aussichten darauf minimal sind. Relative Entkopplung (bei Wirtschaftswachstum wächst der Ressourcenverbrauch weniger als das Wirtschaftswachstum) findet zwar teilweise statt (Parrique et al. 2019, Haberl et al. 2020). Damit ist die Vorstellung, „grünes Wachstum“ sei möglich und über Effizienz und technische Innovationen könnten die ökologischen Probleme gelöst werden, jedoch nicht weiter aufrecht zu erhalten. Dies wird in Wirtschaft und Politik verdrängt und damit auch die Debatte über suffizienzorientierte Konsummuster und Lebensweisen, stehen diese doch dem Wirtschaftswachstum entgegen.

c) Eine weitere Diskussion, die allerdings in der Umwelt- und Arbeitspolitik wenig wahrgenommen wird, betrifft die sog. «Produktivitätsfalle» (Jackson/Victor 2011, Mayrhofer/Wiese 2020). Sie besteht darin, dass technischer Fortschritt, der in der Regel die Arbeitsproduktivität erhöht, den Bedarf an Arbeit reduziert und Arbeitskräfte freigesetzt werden. In der Folge wird weiteres Wirtschaftswachstum gefordert und gefördert, um Arbeitsplätze zu schaffen. Bislang finden Politik und Gesellschaft keinen Weg aus dieser Falle. Dies liegt auch daran, dass dieser Zusammenhang – technischer Fortschritt –> Arbeitsplatzverlust –> Investition/weiteres Wachstum -> neue Arbeitsplätze – nicht als problematisch für die Umwelt, sondern als positiv für das Wachstum gilt. Als Ausweg aus dieser Dynamik empfehlen wachstumskritische Kreise, die Arbeitszeit zu reduzieren, Sektoren, die wenig Potential für Arbeitsproduktivitätssteigerungen haben, zu fördern, die Fixierung auf Erwerbsarbeit aufzugeben, die finanzielle Abgabenlast auf Erwerbsarbeit zu reduzieren und insgesamt ein umfassendes Tätigsein zu fördern (Seidl/Zahrnt 2019).

d) Die Forschung und Debatte um das Bruttoinlandsprodukt als Indikator für Wirtschaftswachstum und gesellschaftliches Wohlergehen blieb auch im letzten Jahrzehnt weitgehend folgenlos. Die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, 2008 vom französischen Präsident Sarkozy eingesetzt, sollte ermitteln, wie sich Wohlstand und sozialer Fortschritt anders als über das BIP messen ließen (Stiglitz et al. 2010). Auch die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestags (2013) widmete sich u.a. alternativen Wohlstandsindikatoren. Obwohl beide Schlussberichte breit wahrgenommen und diskutiert wurden, wurden die jeweiligen Empfehlungen nicht umgesetzt und das BIP als vorrangige politische Zielsetzung bisher nicht ersetzt. Eine Ausnahme unter den reichen Industrieländern ist Neuseeland, das seine Politik auf selbst definierte Indikatoren des Wohlergehens ausrichtet (Living Standards Framework). Abgesehen von dieser Ausnahme bleibt das BIP der gängige Indikator für wirtschaftliches und gesellschaftliches Wohlergehen und seine Erhöhung wird interpretiert als Zunahme dieses Wohlergehens – auch wenn nur noch wenige behaupten würden, das BIP sei ein geeigneter Indikator dafür!

e) Dass Wirtschaftswachstum in der internationalen politischen Debatte weiterhin zentral ist und der Grundwiderspruch zwischen Wachstum und Nachhaltiger Entwicklung verkannt wird, zeigt das Nachhaltigkeitsziel 8 der UN (Sustainable Development Goals, 2015), das lautet: «Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern«. Bislang gehen die UN und ihre Mitgliedsstaaten weiterhin davon aus, dass Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit vereinbar seien und Wachstum und Umweltnutzung sich ausreichend entkoppeln ließen.

f) Die Vertreter/innen von A-Growth/ „growth agnostic“ vertreten die Haltung, das Wachstum bräuchte nicht thematisiert werden, denn auch in einer Wachstumsgesellschaft könnten  verschiedenste Umweltschutzmassnahmen ergriffen werden, um die Umweltprobleme lösen. Diese Massnahmen könnten Wachstum hervorbringen oder auch nicht, zentral sei die Lösung der Umweltprobleme (auch die deutschen Grünen neigen zu dieser Position) (Kurz 2021). Doch könnte die Dramatik der Klimakrise die Prioritäten zugunsten von Umweltschutz zukünftig ändern und die Frage nach dem Wirtschaftwachstum nachrangig werden lassen.

g) Inzwischen gibt es vereinzelt Kritik daran, dass auch der Weltklimarat in seinen Szenarien von globalem Wirtschaftswachstum ausgeht (auch von Wachstum in Industriestaaten) und meint, den dadurch steigenden CO2-Ausstoß durch seine empfohlenen Absenkpfade in den Griff zu bekommen und v.a. dank Wirtschaftswachstum mehr Mittel für die Transformation zur Verfügung zu haben (Kuhlhenn 2018; Keysser/Lenzen 2021, Kurz et al. 2019).

h) Unterdessen bröckelt in wichtigen internationalen politischen Organisationen die Unantastbarkeit des Wirtschaftswachstums: Der OECD-Generalsekretär beauftragte den Bericht «Beyond Growth: Towards a New Economic Approach» OECD (2020). Die EEA (European Environmental Agency 2021) veröffentlichte zudem die Studie zu «Growth without economic growth», in der sie von einer unzureichenden Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch ausgeht und deshalb aufruft, das Verständnis von Wachstum zu überdenken.

i) Die Forderung nach einem Green New Deal (in den USA seit den 2000ern) findet inzwischen Eingang in die Politik, so auch in der EU. Auch wenn mit diesem Deal Wirtschaftswachstum angestossen werden soll, so gibt es doch aufgrund der sozialen und ökologischen Stossrichtungen vorsichtige Hoffnung, dass ernsthafte Massnahmen gegen die Klimaerhitzung und Biodiversitätszerstörung gleichzeitig eingeführt und diese vorrangig verfolgt werden könnten. Unterstützt werden diese politischen Initiativen, die stark von Klimazielen geprägt sind, von Wissenschaftler/innen und Politiker/innen, die in der CO2-Bepreisung den zentralen Hebel für die Lösung der Umweltprobleme sehen. Diese Position mag auf einem Negieren der Wachstumsfrage (A-Growth) basieren oder der Erwartung, dass mit problemadäquaten CO2-Preisen das Wachstum zurückgeht und dies eine Transformation hin zu einer Postwachstumsgesellschaft begünstigt.

j) Neu ist schließlich der öffentliche Druck, vor allem ausgelöst durch die junge Generation und Gerichtsurteile, der – zusammen mit der zunehmenden globalen Katastrophenerfahrung -, die Politik zugunsten von Klimaschutz und -anpassung unter Druck setzt. Die Ahnung wächst, dass sich damit Produktion und Konsum grundlegend ändern müssen, nicht zuletzt, weil dies auf einen gewissen Resonanzboden durch die COVID-Erfahrung fällt, die vielerorts zeigte, dass andere Konsummuster und Lebensweisen möglich sind. Insbesondere die Degrowth-Bewegung hat international viele Projekte zu lebenspraktischen Alternativen hervorgebracht (Burkhart et al. 2017) und auch schon lange Existierendes sichtbar gemacht (Kothari et al. 2019).

Fazit

Wieso blieb die jahrzehntelange Diskussion um den Indikator Bruttoinlandsprodukt politisch weitgehend wirkungslos? Wieso sind die Fortschritte in der wachstumskritischen Diskussion und die Entwicklung von Alternativen noch immer begrenzt? Wir sehen vor allem die politische Fixierung auf das Ziel Wirtschaftswachstum, die gesellschaftliche Unterstützung und die reale Abhängigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft vom Wirtschaftswachstum als Hauptgrund. Eine Folge daraus ist, dass die Forschungsmittel für wachstumskritische Themen und alternative wirtschaftliche Entwicklungen sehr gering sind und Postwachstumsforschung nur am Rande und fast ausschliesslich durch den wissenschaftlichen Nachwuchs – oft ohne fachliche und strukturelle Unterstützung – stattfindet.

Offen ist, wie sich die COVID-Krise auf wachstumskritische Diskurse bzw. gesellschaftliche Wachstumsorientierung auswirkt, welchen Einfluss die zunehmenden ökologischen Krisen haben und ob der aktuelle allgemeine gesellschaftliche Konsens für eine Transformation, aber auch die zunehmend deutlicher werdenden konkreten Konflikte die kritische Debatte zu Wachstum und Postwachstum stärkt oder stärken wird. Das Ziel der Klimaneutralität könnte hier erkenntnis- und handlungsbeschleunigend  wirken.

So mühsam die akademische und politische Debatte um Wachstum ist, so machen doch mentale und reale Veränderungsprozesse z.B. im Bereich von Konsum, Mobilität, Ernährung, bei Verbraucherinnen und Unternehmer/innen Mut, dass mit den immer stärker erkennbaren Grenzen des Wachstums sich praktische Alternativen auch von unten entwickeln, die eine Postwachstumsgesellschaft ein Stück weit konkret und attraktiv werden lassen.

 

 

Literatur:

Burkhart, C., Schmelzer, M., Treu, N. (2017). Degrowth in Bewegung(en). 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation. München, Oekom

Deutscher Bundestag (2013). Schlussbericht der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. Berlin

EEA (European Environment Agency) (2021). Growth without economic growth. Kopenhagen, EEA

Haberl, H., Wiedenhofer, D., Virág, D., Kalt, G., Plank, B., Brockway, P., Fishman, T., Hausknost, D., Krausmann, F., Leon-Gruchalski, B., Mayer, A., Pichler, M., Schaffartzik, A., Sousa, T., Streeck, J., Creutzig, F. (2020). „A systematic review of the evidence on decoupling of GDP, resource use and GHG emissions, part II: synthesizing the insights.“ Environmental Research Letters 15(6): 065003

Jackson, T., Victor, P. (2011). „Productivity and work in the ‘green economy’: Some theoretical reflections and empirical tests.“ Environmental Innovation and Societal Transitions 1(1): 101-108

Keyßer, L.T., Lenzen, M. (2021). „1.5?°C degrowth scenarios suggest the need for new mitigation pathways.“ Nature Communications 12(1): 2676

Kothari, A., Salleh, A., Escobar, A., Demaria, F., Acosta, A., Eds. (2019). Pluriverse. A Post-Development Dictionary. New Delhi, Tulika Books

Kuhnhenn, K. (2018). Wachstum in der Klimawissenschaft: Ein blinder Fleck. Globale Szenarien aus wachstumskritischer Perspektive. Berlin, Heinrich-Böll-Stiftung

Kurz, R. (2021). Alles ist drin – wenn die Wirtschaft wächst. Blogbeitrag auf postwachstum.de, 4. August 2021

Kurz, R., Spangenberg, J.H., Zahrnt, A. (2019). IPCC-Report Global Warming of 1.5 °C. Das fehlende Szenario „Klimaschutz ohne Wachstum. Ökologisches Wirtschaften 34(2): 35-39.

Lange, S., Berner, A. (2021). Rebounds und Wirtschaftswachstum. Ökologisches Wirtschaften 32 (1), 23–25

Meadows, D.H., Meadows, D.L., Randers, J., Behrens, W.W.III (1972). Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt

Mayrhofer, J., Wiese, K. (2020). Escaping the growth and jobs treadmill: a new policy agenda for post?coronavirus Europe. Brussels, European Environmental Bureau European Youth Forum

OECD (2020). Beyond Growth: Towards a New Economic Approach, New Approaches to Economic Challenges. Paris, OECD

Parrique, T., Barth, J., Briens, F., Kerschner, C., Kraus-Polk, A., Kuokkanen, A., Spangenberg, J.H. (2019). Decoupling Debunked. Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability. European Environmental Bureau

Seidl, I., Zahrnt, A.,Hg.  (2010). Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg, Metropolis-Verlag

l Seidl, I., Zahrnt, A.,Hg. (2019). Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Marburg, Metropolis-Verlag

Stiglitz, J.E., Sen, A., Fitoussi, J.P. (2010). Mismeasuring Our Lives. New York, The New Press

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.