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Tätig sein trotz Corona?

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Seit langem halten Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an ihrer Orientierung am Wirtschaftswachstum fest trotz zahlreicher wachstumskritischer Stimmen. Nachhaltige Entwicklung wird als Nachhaltiges Wachstum vereinnahmt, der Schutz der Umwelt steht unter Wachstumsvorbehalt. Offen ist, ob und wie sich diese Positionierungen nach der Coronakrise entwickeln werden.

Leider ist es schwer zu erfassen, was exponentielles Wachstum bedeutet. Die Ausbreitung des Corona-Virus folgt einem exponentiellen Verlauf (solange R0 > 1). Ein Artikel der Süddeutschen Zeitung über die exponentielle Ausbreitung des Virus („Die Wucht der großen Zahl“, 10.3.20) führt die Dramatik der Entwicklung vor Augen. Die Autorinnen Endt, Mainka und Müller-Hansen erklären exponentielles Wachstum wie folgt:

„Der Mensch ist an lineare Prozesse gewöhnt, die kann er begreifen. Beim linearen Wachstum kommt in festen Zeitabständen eine feste Anzahl an Fällen hinzu, beispielsweise Tausend pro Woche. Beim exponentiellen Wachstum dagegen findet in einem festen Zeitraum jeweils eine Verdopplung der Fallzahl statt. Exponentielles Wachstum ist gefährlich, weil man es am Anfang leicht unterschätzt. Denn zu Beginn läuft die Kurve gemächlich vor sich hin. Dann wird sie immer steiler und schießt bald nahezu senkrecht nach oben.“

Exponentiell haben sich auch Naturverbrauch und Emissionen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt. Und noch immer ist exponentielles Wachstum der wirtschaftlichen Leistung das vorrangige wirtschaftspolitische Ziel. Drei Prozent jährlich sollten europäische Länder gemäß Lissabon-Strategie in den 2000er Jahren erreichen. Das bedeutet eine Verdoppelung der Wirtschaftsleistung in 23 Jahren: Doppelt so viele Produkte und Dienstleistungen, aber auch doppelt so viel Emissionen und Umweltverschmutzung. Weil die Umweltprobleme inzwischen krisenhaft sind, stellen nationale und internationale Wirtschaftsorganisationen sogenanntes „Grünes Wachstum“ in Aussicht. Es gibt aber bislang keine Hinweise, dass sich Wachstum und Umweltverbrauch sowie -belastung absolut entkoppeln lassen, d.h. dass das Wachstum weiter wachsen kann bei gleichzeitig zurückgehendem Umweltverbrauch.

Bislang brauchen wir Wachstum, um ausreichend Erwerbsarbeit mit guten Löhnen zu sichern, damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Existenz sichern können, damit sie in die Sozialversicherung einzahlen und Renten sowie Gesundheitsleistungen beziehen können, damit sie Steuern zahlen und so die öffentlichen Haushalte mitfinanzieren können. Um wachstumsunabhängig zu werden, müssen diese Zusammenhänge aufgelöst werden.

Erwerbsarbeit wird zwar weiterhin wichtig bleiben, soll aber kein so großes Gewicht mehr haben – für die individuelle und familiäre Existenz, die soziale Sicherung, die öffentlichen Haushalte und den und die Einzelnen. Vielmehr muss mehr Platz neben Erwerbsarbeit sein für andere Tätigkeiten – wir (Seidl/Zahrnt 2019) nennen solch erweitertes Arbeiten „Tätigsein“.

Tätigsein ist ein Oberbegriff für die Vielfalt möglicher Arbeiten, inkl. Erwerbsarbeit, für verschiedene Formen von Arbeit, die Menschen nach- oder nebeneinander realisieren (im Sinne von Mischarbeit) und generell für Arbeit, die tätigen Menschen und Gesellschaft als sinnvoll erscheint.

Damit diese Tätigkeiten eine größere Bedeutung bekommen können, braucht es verschiedenste umfassende Änderungen im Bereich der Arbeit (Seidl/Zahrnt 2019).

Können Praktiken, die während der Corona-Pandemie entstehen, relevant sein für die Entwicklung hin zu einer „Tätigkeitsgesellschaft“? Möglicherweise ja:

  1. Viele „testen“ nun Home-Office-Lösungen. Home-Office spart CO2 und Zeit, indem Pendeln wegfällt. Diese Zeit gewinnen wir und können sie für andere Tätigkeiten und Muße einsetzen. Insgesamt hat die Digitalisierung Potenziale, die Erwerbsarbeit humaner, selbstbestimmter zu gestalten und Spielräume zu öffnen für Tätigsein (siehe Nierling und Krings in Seidl/Zahrnt 2019).
  2. Die Arbeitswelt umzugestalten, sodass Tätigsein vermehrt möglich wird, erfordert viel Selbstorganisation und Kreativität seitens der Zivilgesellschaft. Die aktuelle Pandemie zeigt uns, dass solche Qualitäten schnell entstehen. Die Selbst-Ermächtigung, die wir aktuell beobachten, ist eine wichtige Erfahrung für eine sozio-ökologische Transformation inkl. der Arbeitswelt.
  3. Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft bedeutet auch, dass verschiedene Leistungen dekommodifiziert werden – das heißt, in überschaubaren Räumen erbracht und nicht über den Markt koordiniert und gehandelt werden. Leitprinzipien sind Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit, Nachbarschaft, Subsistenz.
    Dazu ein Beispiel aus dem Nahrungsmittelbereich: Heute sind es die großen Multis wie Nestlé, die einen Großteil des Convenience-Foods verkaufen. In diesem Bereich lässt sich gut dekommodifizieren: sich regional und verstärkt selbst versorgen, vielleicht gar durch solidarische Landwirtschaft. Dies schafft ein Stück Sicherheit ­– gerade in Zeiten wie den jetzigen und es verringert unsere Abhängigkeit von globalen Lieferketten, die inzwischen sogar höchste politische Ebenen als problematisch erkennen.
  4. Tätigsein steht auch dafür, dass Alltagsfähigkeiten entwickelt und praktiziert werden: Dinge selbst reparieren zu können, sich zu helfen wissen, wenn mal etwas im Haus ausfällt, eine eigene Hausapotheke unterhalten: solche Fähigkeiten sind nützlich in Krisensituationen wie der jetzigen und sind vielleicht auch bei Nachbarn gefragt.
  5. Tätigsein hilft uns auch jetzt, unseren Alltag zu strukturieren. Kochen, Nähen (Masken!), Handwerken, Balkon und Garten bepflanzen, soziales Engagement wie Einkaufen gehen können dem Tag Struktur und Sinn geben.

Tätigsein in einer Postwachstumsgesellschaft fragt auch nach der Arbeit im Globalen Süden. Stoll stellt in seinem Beitrag in Seidl/Zahrnt (2019) anschaulich dar, dass 70 Prozent der Weltbevölkerung informell arbeitet, das bedeutet, keinen Vertrag und keinerlei Schutz bei Krankheit, Alter oder Arbeitsverlust hat. Diese Menschen sind von der Corona-Krise besonders betroffen angesichts ihrer prekären Situation, der dort schwachen Infrastruktur und dem Zusammenbruch der dortigen Exportmärkte. Deshalb muss es nach einer Hilfe zur Bewältigung der Pandemie Ziel der sozio-ökologischen Transformation sein, die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Menschen zu verbessern, und gleichzeitig auch die aktuelle globale Abhängigkeit und Interdependenz auf ein Maß zu verringern, das die gesellschaftliche und ökonomische Resilienz der Systeme sowohl im Globalen Norden wie Süden erhöht.

Auch Resilienz unserer Gesellschaften gegenüber Krankheiten und Pandemien hat mit wirtschaftlicher Entwicklung zu tun, denn die zunehmende Zerstörung natürlicher Lebensräume – auch eine Folge des Wirtschaftswachstums – senkt den Puffer zwischen Mensch und Tier und damit auch den Schutz vor Viren aus der Tierwelt wie Shan (2020) anschaulich argumentiert.

Die CO2-Emissionen werden jetzt sinken wie schon in der Wirtschaftskrise von 2008. Doch damals stiegen sie nach der Krise wieder an. Auch aus dieser Erfahrung heraus müssen wir darüber nachdenken, welche neuen Praktiken – auch des Tätigseins –, die wir jetzt in der Krise entwickeln, wir beibehalten sollten. Dies könnte ein Schritt auf dem Weg in eine Postwachstumsgesellschaft sein.

 

Quellen:

Endt, C., Mainka M., Müller-Hansen, S. 10.3.2020. Die Wucht der großen Zahl, Süddeutsche Zeitung. https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/wissen/coronavirus-die-wucht-der-grossen-zahl-e575082/

Nierling, L., B.-J. Krings. 2019. Digitalisierung und erweiterte Arbeit. In: Seidl, I., A. Zahrnt (Hrsg.). Ta?tigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Marburg: Metropolis-Verlag. 175-190.

Seidl, I., A. Zahrnt. (Hrsg.) 2010. Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg: Metropolis-Verlag.

Seidl, I., A. Zahrnt. (Hrsg.) 2019. Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Marburg: Metropolis-Verlag.

Shan, S. 2020. Woher kommt das Coronavirus? LE MONDE diplomatique, März, S. 8.

Stoll, G. 2019. Arbeit in Entwicklungs- und Schwellenla?ndern. In: Ta?tigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Herausgegeben von I. Seidl, A. Zahrnt. Marburg: Metropolis-Verlag. 227-253.

Leiterin der Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und Lehre zu Ökologischer Ökonomik an der Universität Zürich und der ETH Zürich, schwerpunktmäßig inter- und z.T. transdisziplinäre Umweltforschung. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Ökonomik der Flächennutzung und Siedlungsentwicklung, Naturschutz und Biodiversität, umweltökonomische Instrumente, Nutzung und Entwicklung peripherer Gebiete der Schweiz; zusammen mit Angelika Zahrnt Herausgeberin des Buches Postwachstumsgesellschaft - Konzepte für die Zukunft und Initiatorin des Blogs Postwachstumsgesellschaft

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