Lasse Thiele vergleicht in seiner Beitragsreihe den Post-Development-Diskurs mit der Degrowth-Bewegung. In seinem ersten Beitrag stellt er die Wachstumsorientierung der dominierenden Entwicklungspolitik heraus.
Ist Degrowth nur im Kontext „übersättigter“ Industriegesellschaften denkbar, während der „globale Süden“ weiterhin auf Wachstum angewiesen ist? In den beiden Teilen dieses Beitrags sollen derartige Annahmen hinterfragt werden: Zunächst werden entwicklungskritische Positionen vorgestellt, die das westliche Wohlstandsmodell nicht übernehmen wollen; im nächsten Schritt werden diese Beiträge auf ihre Relevanz für die europäische Postwachstumsbewegung und die hiesige Wachstumsdebatte untersucht.
Ein häufiger Einwand gegen Postwachstumsvisionen bezieht sich auf die materiellen Bedürfnisse des großen Teils der Weltbevölkerung, der in sogenannten „Entwicklungs-“ oder „unterentwickelten“ Ländern unter Bedingungen extremer materieller Armut lebt. Diese Gruppen, so das Argument, seien dringend auf Wachstum angewiesen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
Interessanterweise wird dieses Argument gerne bemüht, um weiteres Wachstum im globalen Norden zu rechtfertigen, Wachstum also, das zunächst einmal wesentlich privilegierteren Gruppen zu Gute käme
Interessanterweise wird dieses Argument gerne bemüht, um weiteres Wachstum im globalen Norden zu rechtfertigen, Wachstum also, das zunächst einmal wesentlich privilegierteren Gruppen zu Gute käme. Eine solche Argumentation widerlegt die Degrowth-Bewegung leicht mit der Feststellung, dass weiteres materielles Wachstum in reicheren Industrieländern angesichts immer knapperer Ressourcen die Entwicklungsaussichten in ärmeren Regionen eher schwinden lässt. Die Behauptung, der im „Norden“ generierte Wohlstand käme dann mittelbar auch im „Süden“ an – letztlich die klassische Argumentation marktradikaler „trickle down“-Theoretiker_innen auf die globale Ebene übertragen – ist nach jahrzehntelanger Erfahrung so gründlich diskreditiert, dass sie hier keine größere Beachtung mehr verdient.
Doch auch wachstumskritische Stimmen mahnen oft mit dem berechtigten Ziel globaler Gerechtigkeit an, dass im globalen „Süden“ weiteres Wachstum zur wirtschaftlichen Entwicklung benötigt werde, und begründen ihre Forderung nach dem Ende des Wachstums in den OECD-Ländern häufig auch mit der Ermöglichung „nachhaltiger Entwicklung“ in ärmeren Regionen. Wer sich jedoch mit der Tradition entwicklungskritischer Theorie beschäftigt, wird schnell feststellen, dass auch solche Forderungen oft auf Grundannahmen basieren, die fest im westlichen Fortschritts- und Wachstumsdenken verankert sind.
Entwicklungskritik: Wer entwickelt sich wozu?
Auch wenn Entwicklungskritik bis in die 1960er und 1970er Jahre zurück verfolgbar ist (vgl. Esteva 1992, Tévoédjrè 1979), fand die Formation einer „post-development“-Schule insbesondere seit den frühen 1990er Jahren statt (siehe v.a. Sachs 1992), nicht zuletzt vor dem Hintergrund des immer stärker etablierten Felds postkolonialer Studien (siehe Ashcroft et al. 1998, Young 1995 ). Hier fanden sich diverse Autor_innen aus dem Trikont (Asien, Afrika und Lateinamerika), aber auch „Entwicklungshilfe“-Erfahrene aus nördlichen Industrieländern zusammen, um das jahrzehntelang wenig hinterfragte Paradigma wirtschaftlicher „Entwicklung“ gründlich zu dekonstruieren.
Diese Kritiker_innen stellten den Ethnozentrismus des dominanten Entwicklungskonzepts heraus: Westliche Industrieländer werden als Maßstab definiert, an dem der Rest der Welt sich zu orientieren hat – je weniger eine Gesellschaft diesem Bild entspricht, desto größer das Defizit, das ihr attestiert werden muss. „Entwicklung“ suggeriert einen vorgegebenen, linearen Pfad, an dessen Ende der Segen einer modernen westlichen Konsumgesellschaft steht. Moderne Naturverständnisse (Natur als Ressource, die nur auf Unterwerfung und Ausbeutung durch den Menschen wartet) und kulturelle Muster (individueller materieller Konsum als zentraler Wohlstandsfaktor) werden im „Paket“ mitgekauft. Abweichende „traditionelle“ Weltansichten werden zu entwicklungshemmenden Faktoren umdefiniert, die es zu überwinden gilt.
Die simple „aufholende“ Nachahmung historischer westlicher Entwicklungsmuster wird aus geopolitischen, ökonomisch-technischen und ökologischen Gründen als unmöglich angesehen.
Diese Entwicklung findet zudem unter historisch spezifischen Bedingungen statt: Sie ist zu verstehen als kapitalistische Entwicklung. Deren Dynamik ist unvermeidlich eine ungleiche – sie produziert und verstärkt die soziale Ungleichheit, deren Bekämpfung das erklärte Ziel von Entwicklungspolitik ist (vgl. Lummis 1992). Die simple „aufholende“ Nachahmung historischer westlicher Entwicklungsmuster wird aus geopolitischen, ökonomisch-technischen und ökologischen Gründen als unmöglich angesehen. Dass der Mainstream an diesem Leitbild dennoch festhält, hat den bequemen Effekt, globale Verteilungs- und Machtfragen in den Hintergrund zu rücken: Die Bringschuld liegt auf Seiten der „Unterentwickelten“. Die „Entwickelten“ – sprich: die ehemaligen Kolonialmächte – sind die Vorbilder, die Leitsterne auf dem Pfad der „Entwicklung“.
Entwicklung = Wachstum
Schnell wird die Parallele zur Wachstumsdebatte deutlich: Entwicklung wird zumeist in erster Linie durch Wirtschaftswachstum definiert. Ein anerkannter Indikator für Entwicklungserfolg ist das im Postwachstumsdiskurs hinreichend kritisierte Bruttoinlandsprodukt. Doch selbst wenn dieser fragwürdige Maßstab präzisiert und das durchschnittliche Einkommen breiter Bevölkerungsschichten zu Rate gezogen wird, bleibt die Aussagekraft solcher Zahlen sehr begrenzt. (Nicht zuletzt als Reaktion auf diese Kritik finden mittlerweile zunehmend auch Gesundheits- und andere Indikatoren Berücksichtigung, dennoch bleibt die ökonomische Entwicklungsdiskussion im Mainstream wachstumsfixiert.)
Kapitalistische Modernisierung bedeutet schließlich die Ausweitung marktvermittelter Beziehungen. Je größer der Umfang, in dem dies passiert, desto mehr Wachstum wird generiert. Aus westlicher Perspektive wird jedoch gerne übersehen, dass dieser marktvermittelte Austausch im globalen „Süden“ nicht einfach in einem Vakuum entsteht – er tritt in vielen Fällen an die Stelle anderer Formen wirtschaftlicher Aktivität, die ein rein geldbezogener Indikator wie das BIP nicht erfassen kann. Insbesondere familiäre oder gemeinschaftliche Subsistenzversorgung, die durch marktorientierte Reformen und Privatisierung von Land oft unmöglich gemacht und durch Lohnarbeitsverhältnisse ersetzt wird, fällt hier schnell unter den Tisch, spielt aber eine wichtige Rolle. So mögen monetäre Familien- oder Dorfeinkommen in einer Region in einem bestimmten Jahrzehnt spürbar ansteigen – was die Entwicklungsökonomie sogleich als Erfolg verbuchen würde – während der tatsächliche materielle Lebensstandard dieser Menschen möglicherweise sinkt, da die wegfallenden Subsistenzmöglichkeiten bisweilen ein größeres Loch hinterlassen als die zusätzlichen Einkommen aus Lohnarbeit zu stopfen vermögen.
Insbesondere feministische Autor_innen haben wiederholt auf diese Zusammenhänge hingewiesen und dabei zudem das Problem unbezahlter, zumeist weiblicher, Sorgearbeit in den Vordergrund gerückt, die weder in Industrie- noch in „Entwicklungsländern“ angemessene Berücksichtigung findet (vgl. Bennholdt-Thomsen 2013, Gibson-Graham 2007, Mellor 2009, O’Hara 2009, Rahnema 1992). Kritisiert wird, dass Entwicklungs- wie Wachstumsdiskurs nach männlichen Normen geprägt sind, in denen formale Erwerbsarbeit im Mittelpunkt steht. Dies reproduziert nicht nur soziale Unterschiede entlang von Geschlechterlinien durch die systematische Abwertung derjenigen Typen von Arbeit, die zumeist Frauen aufgebürdet werden, sondern führt auch zu einer krassen Fehlanalyse ökonomischer Strukturen insbesondere in Gesellschaften, die noch nicht vollständig „vermarktet“ sind.
Wie oben angedeutet ist es die Metapher des „wachsenden Kuchens“, mit der in der Entwicklungsdebatte wie im alltäglichen politischen Diskurs in den OECD-Ländern unangenehme Fragen nach sozialer Gerechtigkeit umschifft werden (vgl. Sachs 2002). Niemand muss etwas abgeben, es muss einfach mehr für alle her. Dieses Motto stößt nicht nur längst an ökologische Grenzen (die Feststellung, dass ein durchschnittlicher US-amerikanischer oder europäischer Mittelschichtslebensstil nicht globalisierbar ist, ist längst zum Allgemeinplatz geworden; mit allen verteilungspolitischen Implikationen wird dies gut herausgestellt von Thie 2013). Es übersieht auch die Relativität von Armut: Individuelle Zufriedenheit hängt nicht so sehr von absolutem materiellem Wohlstand ab, sondern vor allem vom gesellschaftlichen Kontext, in dem das eigene Konsumniveau wahrgenommen wird und der die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten verschiedener Einkommensgruppen beeinflusst. Solange es obszönen Reichtum gibt, stellt relative Armut auf jedem Niveau ein soziales Problem dar.
Der zweite Teil dieses Beitrags wird auf die Parallelen zwischen der hier vorgestellten Entwicklungskritik und aktuellen europäischen Beiträgen zur Wachstumskritik eingehen.
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Literaturverzeichnis
Ashcroft, Bill, Gareth Griffiths and Helen Tiffin (1998). Post-colonialism/Postcolonialism. In: Key Concepts in Post-Colonial Studies. London: Routledge, 186-92
Bennholdt-Thomsen, Veronika (2013). Subsistence: Perspective for a Society Based on Commons. In: Helfrich/Bollier (Hrsg.). The Wealth of the Commons. A World Beyond Market and State. Levellers Press.
Esteva, Gustavo (1992). Development. In: Sachs (Hrsg.). The Development Dictionary. A Guide to Knowledge as Power. London/Atlantic Highlands: Zed Books, 6-25
Gibson-Graham, J.K. (2007). Surplus Possibilities: Post-development and Community Economies. In: Ziai (Hrsg.). Exploring Post-development. Theory and Practice, Problems and Perspectives. Abingdon and New York: Routledge, 145-62
Lummis, C. Douglas (1992). Equality. In: Sachs (Hrsg.). The Development Dictionary. A Guide to Knowledge as Power. London/Atlantic Highlands: Zed Books, 38-52
Mellor, Mary (2009). Ecofeminist Political Economy and the Politics of Money. In: Salleh (Hrsg.). Eco-Sufficiency and Global Justice. Women Write Political Ecology. London and New York: Pluto Press, 251-67
O’Hara, Sabine (2009). Feminist Ecological Economics in Theory and Practice. In: Salleh (Hrsg.). Eco-Sufficiency and Global Justice. Women Write Political Ecology. London and New York: Pluto Press, 180-96
Rahnema, Majid (1992). Poverty. In: Sachs (Hrsg.). The Development Dictionary. A Guide to Knowledge as Power. London/Atlantic Highlands: Zed Books, 158-76
Sachs, Wolfgang [Hrsg.] (1992). The Development Dictionary. A Guide to Knowledge as Power. London/Atlantic Highlands: Zed Books
Sachs, Wolfgang (2002). Ecology, Justice, and the End of Development. In: Byrne/Martinez/Glover (Hrsg.). Environmental Justice. International Discourses in Political Economy, Energy and Environmental Policy. New Brunswick: Transaction Publishers, 19-36
Tévoédjrè, Albert (1979). Poverty. Wealth of Mankind. Oxford: Pergamon Press
Thie, Hans (2013). Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft. Hamburg: VSA
Young, Robert J.C. (2001). Colonialism and the Politics of Postcolonial Critique. In: Postcolonialism. An Historical Introduction. Oxford: Blackwell, 1-12
[…] und sozialen Bewegungen aus dem Globalen Süden. Es wird zwar teilweise Bezug auf Bewegungen wie Post-Development oder Buen Vivir genommen und diese als beispielhafte Konzepte hervorgehoben, dabei bleibt jedoch […]