„Entschulung ist die Grundvoraussetzung jeder Bewegung für die Befreiung des Menschen“, schrieb der heute fast vergessene, einst weltberühmte Querdenker Ivan Illich 1971. Illich wurde in den 1970er Jahren mit Büchern wie Entschulung der Gesellschaft und Die so genannte Energiekrise zu einem der Vordenker sowohl der Freilerner- als auch der Postwachstums-Bewegung. Aber welche Verbindungen gibt es zwischen der Kritik an der Wachstumsgesellschaft und der Kritik am schulischen Lernen? Und wie könnte eine Welt jenseits entfremdeten Lernens und jenseits aller Wachstumszwänge aussehen?
Wachstum, heißt es immer wieder aus dem Mund von Politikern und Wirtschaftsvertretern, sei unabdingbar, um Wohlstand, Frieden und Freiheit zu garantieren. Doch immer weniger Menschen glauben diesen Beschwörungen. Zu offensichtlich ist, dass das Wachstum nicht allen nützt, sondern vor allem einer kleinen Schicht von Reichen und Superreichen. In vielen Ländern überwiegen die Schäden des Wachstums längst den Nutzen: Umweltzerstörung, Stress, Lärm, Einsamkeit, soziale Spaltung. Im globalen Wettkampf um die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts kommt vieles von dem, was das Leben lebenswert macht, unter die Räder. Mehr noch: Das wirtschaftliche Wachstum zerstört inzwischen die Regenerationsfähigkeit globaler Ökosysteme – und bedroht damit auch das langfristige Überleben der Menschheit. Angesichts der destruktiven Folgen des Wachstums gab es bereits in den 1970er Jahren eine intensive Suche nach Alternativen zur Wachstumsgesellschaft, die in den letzten Jahren in Deutschland unter dem Stichwort „Postwachstum“ eine bemerkenswerte Renaissance erlebt hat.
Postwachstum ist dabei kein fester Entwurf für ein anderes System, den sich ein einzelner kluger Denker ausgedacht hat, sondern ein Dachbegriff für eine Sammlung von unzähligen Initiativen von Menschen, die im Alltag etwas verändern wollen; von politisch Aktiven, die sich gegen das Fortschreiten der Zerstörung von Umwelt und Gesellschaften stellen, und von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die darüber nachdenken, wie einzelne Bereiche der Wirtschaft und Infrastruktur, zum Beispiel das Transportwesen oder die Gesundheitsversorgung, ökologisch und sozial verträglich gestaltet werden könnten. Gemeinsam ist diesen Überlegungen, dass sie nicht auf eine technische Lösbarkeit der Probleme setzen, sondern Potenziale eher in anderen gesellschaftlichen Organisationsformen sehen. Das Thema Lernen und Schule allerdings ist in diesem Zusammenhang bisher wenig thematisiert worden. Dabei ist es eng mit der Wachstumsfrage verbunden.
Was wird in der Schule gelernt?
Das heutige Schulsystem hat sich zusammen mit der Wachstumsgesellschaft entwickelt. Mit der Expansion einer arbeitsteiligen, kapitalistischen Weltwirtschaft seit dem 18. Jahrhundert wuchs die Notwendigkeit, die Menschen für den Einsatz in diesem Wirtschaftsgetriebe zu optimieren. Da der übergeordnete Zweck dieses Wirtschaftssystems nicht die Befriedigung von Bedürfnissen oder die Entfaltung von Persönlichkeiten ist, sondern die endlose Akkumulation von Kapital, kann auch ein Schulsystem, das diesem Getriebe zuarbeitet, weder die Lernbedürfnisse von Kindern noch die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellen.
Einer der häufigsten Vorwürfe gegen das heutige Schulsystem lautet, dass nicht genügend gelernt wird. Tatsächlich ist seit langem bekannt, dass Menschen am besten durch Neugier lernen und nicht durch Angst, durch Interesse und nicht durch die fremdbestimmte Vorgabe von Aufgaben, deren Sinn die Schüler nicht verstehen. Doch trotz dieser Kritik hat sich an den Grundpfeilern des Schulsystems – von oben vorgeschriebene Lehrpläne, Zerlegung des Stoffs in Fächer und Stunden, Notengebung usw. – seit den Zeiten des deutschen Kaiserreichs wenig geändert. Warum? Sind Bildungspolitiker, Schuldirektoren und Pädagogen zu stur, um die elementarsten Erkenntnisse der Lernpsychologie in die Praxis umzusetzen? Oder gibt es vielleicht systemische Zwänge, die sie daran hindern? Geht es in der Schule vielleicht gar nicht in erster Linie um das Erlernen von Stoff, sondern um ein ganz anderes Lernziel?
Wer die Schule einmal nicht als dysfunktionales System betrachtet, sondern sich fragt, was sie, so wie sie ist, tatsächlich leistet, und zwar sehr gut leistet, erhält einige interessante Antworten auf diese Fragen.
Der Modus der Entfremdung
Die Schule übt einen Modus ein, der für die spätere Funktion im Wirtschaftsgetriebe unabdingbar ist: den Modus der Entfremdung. Sie bereitet Schüler darauf vor, austauschbare Aufgaben zu erledigen und dafür Punkte in einem abstrakten System von Strafen und Belohnungen zu sammeln, anstatt ihren eigenen Interessen zu folgen und Fertigkeiten zu entwickeln, die unmittelbar dabei helfen, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Spätestens in den höheren Klassen durchschauen praktisch alle Schüler, dass es überhaupt nicht um die Inhalte des Lernens, sondern um das Vorankommen in diesem Punktesystem geht – und genau das ist der entscheidende Lernerfolg. Denn die Einübung dieses Entfremdungs-Modus ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen später bereit sind, ihren Platz in einer entfremdeten Ökonomie einzunehmen, ob als Kassiererin bei Lidl oder in einer höheren Etage der sozialen Pyramide.
Nur wenn Menschen verlernen, ihren eigenen Impulsen nachzugehen, wenn sie es für unabänderlich und selbstverständlich halten, dass Arbeit darin besteht, Aufgaben auszufüllen, die sich andere ausgedacht haben, wenn sie ihr Leben an den Punkten, die ihnen zugesprochen oder abgezogen werden, orientieren, können sie in einer globalen Ökonomie, die jeden Arbeitsablauf nach den Kriterien der Effizienz und Nutzenmaximierung zerlegt, funktionieren. Die Wachstumsökonomie braucht den entfremdeten Menschen. An die Stelle von Interesse und Sinnerfahrung tritt in ihr der Lohn, ein abstrakter Geldwert, der für die oft als sinnlos oder zermürbend empfundene Arbeit entschädigen soll – genau wie in der Schule die Note an die Stelle der erfüllenden Lernerfahrung tritt.
Die Veränderung der Lernwelt und die Überwindung der Wachstumsökonomie hängen daher eng miteinander zusammen. Die Befreiung von entfremdeten Tätigkeiten in der Arbeitswelt und die Schaffung von Lernumgebungen, die es Menschen ermöglichen, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten, sind zwei Seiten einer Medaille.
Lernen und Aufwachsen in einer Postwachstumsgesellschaft
Wie aber könnte so eine Veränderung der Wirtschafts- und Lernwelten aussehen? Dazu gibt es im Rahmen der Diskussion um eine Postwachstumsgesellschaft viele verschiedene Vorschläge; die meisten sind sich jedoch darin einig, dass die Ökonomie vielfältiger werden wird – neben Formen der Lohnarbeit treten Produktions- und Konsumgenossenschaften, solidarisch verwaltete Betriebe, Eigenarbeit in Haus, Werkstatt und Garten, die Produktion in lokalen Werkstätten und quelloffenes Wissen. Das erfordert großes technisches, handwerkliches und praktisches Können von sehr vielen Menschen – dafür braucht es Neugierde jenseits von vorfabriziertem Konsum und ein völlig anderes lebenslanges Lernen.
In einer solchen Gesellschaft verbringen Menschen nicht 40 Stunden pro Woche an einem hochtechnisierten keimfreien Arbeitsplatz, an dem Kinder weder dabei sein noch etwas lernen können. Statt dessen – davon gehen fast alle Postwachstums-Vorschläge aus – reduziert sich die Lohnarbeitszeit radikal auf beispielsweise zwanzig Stunden. Das bedeutet, dass Menschen weniger spezialisiert sein werden und Zeit haben, sich immer wieder neue Fertigkeiten anzueignen. In lokalen Gemeinschaftsgärten, offenen Werkstätten und Nachbarschaftszentren mischen sich die Generationen, und Kinder können ganz selbstverständlich wieder lernen, indem sie einfach dabei sind und mithelfen können, wenn sie dazu Lust haben.
Für eine solche Gesellschaft ist vor allem eine Einstellung notwendig, die direkt das aufgreift, was Ivan Illich mit „Entschulung“ meint: Vertrauen in die Fähigkeiten meiner Nachbarn und nicht so sehr das Verlangen nach einem „Experten“ für alle Tätigkeiten, das Zutrauen in das eigene Können und den Mut, Dinge einfach auszuprobieren.
Ob es dann noch Schulen als Institutionen geben wird, kann vielleicht einfach lokal nach den jeweiligen Bedürfnissen entschieden werden: Wie kann es vor Ort ermöglicht werden, dass Kinder und Erwachsene aus verschiedenen Familien sich begegnen, voneinander lernen, dass Lernen als kollektive, freiwillige Tätigkeit aufgefasst wird, die niemanden zwingt, aber vieles ermöglicht?
Durch eine solche reduzierte Lohnarbeitszeit würde es auch möglich, die Zeiten des Sich-Kümmerns und Begleitens von kleinen Kindern ganz anders aufzuteilen. Das bietet die Möglichkeit, dass sich auch Männer und Nicht-Eltern verstärkt daran beteiligen können, dass sich geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Kleinfamilien-Modelle wandeln können. Versuche kollektiver Kinderbetreuung in Nachbarschaftsgruppen oder Eltern-Kind-Büros wie der „Rockzipfel“ in Leipzig bieten dafür heute schon interessante Ansätze.
Bildung für alle heißt Bildung durch alle
Ivan Illich hat in seinen Arbeiten, besonders in „Entschulung der Gesellschaft“, eine von vielen Möglichkeiten skizziert, wie ein solches Lernen für eine Postwachstumsgesellschaft konkret aussehen könnte. Seine Ideen sind sicherlich diskussionswürdig, aber sie öffnen einen Denk-und Diskussionsraum, der weit über die üblichen Schulreformdebatten hinausweist.
Illich schlägt vor, das „Schulmonopol“ zu brechen, indem Gesetze erlassen werden, die die Diskriminierung aufgrund nicht erfolgten Schulbesuchs verbieten – es wäre dann nicht mehr möglich, dass nur Menschen mit einem bestimmten Abschluss eine bestimmte Arbeitsstelle erhalten. Eignungsprüfungen für eine bestimmte Aufgabe hält er für durchaus möglich, aber eben nicht die Aussortierung aufgrund eines nicht erfolgten „lehrplanmäßigen Unterrichts“. Das würde den Weg für viele individuelle Arten des Lernens öffnen.
Lernen, so Illich, funktioniert dann am besten, wenn eine Fähigkeit oder eine Beschäftigung mit einem Gedanken aus einem intrinsischen Motiv angestrebt wird und nicht, weil es der Lehrplan vorsieht: „Das meiste Lernen ist nicht das Ergebnis von Unterweisung. Es ist vielmehr das Ergebnis unbehinderter Teilnahme in sinnvoller Umgebung. Die meisten Menschen lernen am besten, wenn sie ‚dabei sind‘“. Grundsätzlich unterscheidet er Lernen in zwei Arten: erstens das Aneignen von Fertigkeiten („skills“) wie etwa ein Handwerk, ein Instrument oder eine Sprache – Fertigkeiten, deren Grad der Beherrschung durchaus messbar ist; und zweitens Bildung („liberal education“), deren Ziel persönliches Wachstum und die Ausbildung von Kreativität ist und die nicht messbar ist, sondern nur im gegenseitigen Austausch wachsen kann.
Lernen – ein lebenslanger Prozess
Während Fertigkeiten durch Nachahmung eines Meisters seines Fachs (eines Musikers, einer Muttersprachlerin o. ä.) mehr oder weniger schnell zu erlernen sind, entsteht Bildung hauptsächlich durch den Austausch Gleichgesinnter, die sich gemeinsam mit einem bestimmten Problem beschäftigen wollen.
Illich wendet sich gegen die künstliche Verknappung von Bildungsmöglichkeiten, die eigentlich in Fülle vorhanden wären – Verknappung dadurch, dass nur pädagogische „Experten“ lehren dürfen und dass nur in der Institution Schule gelernt werden soll: „Der Austausch von Fertigkeiten und das Zusammenführen von Partnern beruht auf der Annahme, dass Bildung für alle auch Bildung durch alle bedeutet.“ Lernen will Illich auch nicht auf die Zeit der Kindheit beschränkt wissen, sondern versteht es als lebenslangen Prozess.
Konkret spricht Illich von „Partner-Börsen“, die es ermöglichen würden, Menschen zusammenzubringen – ähnlich einem Tauschring –, die Fähigkeiten haben, die sie weitergeben können, oder die sich gemeinsam treffen wollen, um zum Beispiel ein Buch oder einen Film zu diskutieren. Kernstück des Lernens sind bei ihm „Lernläden“, die es – ähnlich wie offene Werkstätten – in jeder Nachbarschaft geben könnte, und die eine Mischung aus Café, Bibliothek und Materialdepot darstellen.
Wie aber kann der Übergang zu einer solchen Postwachstumsgesellschaft aussehen? Dazu noch einmal Illich: „Viele, die sich als Revolutionäre ausgeben, sind Opfer der Schule. Sogar die ‚Befreiung‘ sehen sie als Produkt eines institutionellen Verfahrens. […] Jeder von uns ist persönlich für seine Entschulung verantwortlich, und nur wir selbst haben die Macht, es zu tun. […] Von der Krone konnten sich die Menschen erst befreien, nachdem wenigstens einige von ihnen sich von der etablierten Kirche befreit hatten. Vom fortschreitenden Verbrauch können sie sich nicht freimachen, bis sie sich von der Schulpflicht befreit haben.“
Ob es aber wirklich zuerst ein anderes Lernen ist, das neue Wirtschaftsweisen hervorbringt, oder ob nicht auch andere ökonomische Modelle neue Formen des Lernens ermöglichen, ist eigentlich egal. Am besten versuchen wir beides gemeinsam.
Eine englische Übersetzung des Artikels gibt es hier.