Wie kann Zeitwohlstand sozial gerecht und ökologisch gestaltet werden? Diese Frage stand im Fokus der 5. VÖW-Sommerakademie „Zeitwerkstatt zur sozial-ökologischen Dimension von Zeitwohlstand“, die von den Zeitpionier/innen, einer Arbeitsgruppe innerhalb der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung (VÖW), organisiert wurde. Vom 16.09.-20.09.2015 standen in Breydin (Brandenburg) in Helmschrots neuer Mühle u.a. Themen wie Zeitwohlstand und Arbeitszeit, Zeitpolitik, Ökologie der Zeit, Zeitwohlstand in anderen Kulturen und „Gutes Leben“, Zukunftsforschung und Zeitwohlstand sowie individuelle Wahrnehmung von Zeit auf dem Programm.
In ‚Lernräumen‘, ‚Zeiträumen‘, ‚Erfahrungsräumen‘, ‚Gestaltungsräumen‘ und ‚Leberäumen‘ wurde von 25 Teilnehmer/innen und Gastvortragenden aus Wissenschaft, Politik und Praxis Zeitwohlstand intensiv wissenschaftlich und politisch diskutiert, reflektiert und gelebt.
Arbeit, Zeitpolitik und Ökologie der Zeit
Als Gäste in den ‚Lernräumen‘ waren Dr. Sabine Reiner (ver.di), Prof. Uwe Schneidewind (Wuppertal Institut), Gesine Agena (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Prof. Fritz Reheis in einem der Leberäume eingeladen. Nach einem theoretischen Input, stand jeweils ausreichend Zeit zur Diskussion zur Verfügung.
Zum Thema ‚Zeitwohlstand in der (Erwerbs)-arbeitswelt‘ stellte Dr. Sabine Reiner eine neue ver.di-Arbeitszeitinitiative „Kurze Vollzeit als Chance für alle – mehr Zeit für mich“ vor. In diesem neuen Modell sollen alle Beschäftigte einen Anspruch auf 14 Verfügungstage im Kalenderjahr ohne Lohnverlust haben, was eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit von zwei Stunden für Vollzeitbeschäftigte ausmacht bzw. für Teilzeitarbeitende eine entsprechende Erhöhung der bezahlten Arbeitszeit bedeutet. Über diese Zeit sollen Beschäftigte selbst entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse verfügen können. Zentraler Begriff auf diesem ‚Weg zur kurzen Vollzeit‘, ist der der ‚Verfügungszeiten‘. Mit diesem Konzept möchte ver.di eine neue breite arbeitszeitpolitische Debatte über mehr Zeitwohlstand für Arbeitnehmer anstoßen.
Gesine Agena zeigte, dass ihre Partei das Thema Zeit und Politik ernst nimmt und nicht als ein gesellschaftliches Randthema behandelt. Bündnis 90/ Die Grünen möchte Zeitpolitik als eigenständiges Politikfeld in der politischen Diskussion fest verankern. Zeitpolitik bedeutet für sie nicht nur eine Diskussion rund um Vereinbarkeit von Beruf und Familie, vielmehr müsse Zeit in einer Gesellschaft muss auch so gestaltet sein, dass neben Erwerbsarbeit ausreichend Zeit für Sorgearbeit, Freizeit, ehrenamtliches, politisches Engagement und Bildung bleibt. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen müssen politisch entsprechend so gestaltet werden, dass anstelle von chronischem Zeitmangel mehr Zeitsouveränität für den Einzelnen entsteht.
Es gibt bisher sehr viele Diskussionen und Veröffentlichungen zum Thema Nachhaltigkeit, allerdings beziehen diese nicht explizit die Komponente Zeit mit ein. Fritz Reheis machte in seinem Vortrag deutlich, dass in der ökologischen sowie auch umweltpädagogischen Diskussion die Dimension Zeit nicht vernachlässigt werden darf. Entsprechend dem Konzept der Ökologie der Zeit ist der Mensch in seiner Gesellschaft bzw. Kultur in die Natur eingebunden. Zwischen Natur, Kultur und Individuum bestehen raum-zeitliche Beziehungen in kreislaufförmigen Prozessen; natürliche Ressourcen, wie sauberes Wasser, Reifung von Obst und Gemüse, usw. können nur auf Dauer genutzt werden, wenn das was benötigt wird, nicht schneller verbraucht wird, als es sich regenerieren kann. Ökologie der Zeit verlangt kluges ‚Haushalten‘ mit den natürlichen bzw. biologischen Ressourcen.
Gemeinsam mit Uwe Schneidwind wurde über das Verhältnis von Umwelt und Arbeit als Transformationsriemen für die Arbeit der Zukunft in einer gemütlichen abendlichen Gesprächsrunde diskutiert.
Zeitwohlstand in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
In Vergangenheit und Gegenwart gibt es alternative Pfade, jenseits von Fortschritt und grenzenlosem Wachstum, die mit Zeitwohlstand als Mußepräferenz oder der Vorstellung von „gutem Leben“ verbunden sind, die in den ‚Gestaltungsräumern‘ von einzelnen Teilnehmer/innen als Workshop vorgestellt wurden. Diese Beispiele sollten als wichtige Ansatzpunkte für einen sozialgerechten und ökologischen Zeitwohlstand gesehen werden, um Antworten auf Zeitprobleme unserer Gesellschaft zu suchen.
Ist Zeitwohlstand Luxus? Dieser Frage ging der Workshop von Elke Großer nach. In der Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts finden sich im Barock Beispiele für Mußezeiten in allen sozialen Schichten auch bei begrenzten materiellen Mitteln. Buen vivir – Gutes Leben‘, ein transkulturelles Konzept, vorgetragen von Adrian Beling, kann als gegenwärtiger Gegenentwurf zu einem vorherrschenden einseitig auf Wachstum fixierten „Entwicklungs“-Modell verstanden werden. In traditionalen südamerikanischen Gemeinschaften, insbesondere in Bolivien und in Ecuador seien die Menschen gleichberechtigt in eine soziale Umwelt integriert, im Einklang mit der Natur und ihren Ressourcen lebend. Dort werde ein nachhaltiges und würdiges Leben für alle angestrebt.
Divyaraj Amiya zeigte in einem abendlichen ‚Leberaum‘ anhand eines Filmes, wie sich Zeit in der gut gebildeten städtischen Mittelschicht in Indien in den letzten 20 Jahren in Richtung Zeitarmut verändert hat. Arbeitszeit in Form von Erwerbsarbeit hat sich drastisch erhöht und frei verfügbare Zeit für (Groß-)Familien verringert. Unter dem Diktat des schnellen ökonomischen Leistungsprinzips leiden insbesondere Kinder.
Eine wissenschaftlich fundierte Zukunftsforschung hat u.a. aus aktuellen Gegenwartsdiagnosen Zukunftsanalysen für Zeitwohlstand zu entwickeln. Sebastian Stagl stellte Ansätze seiner Masterarbeit im Workshop ‚Zeit in der zweiten Moderne‘ vor. Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung verändern den Umgang und die Wahrnehmung von Zeit und haben Einfluss auf den Zeitwohlstand in einer Gesellschaft. In kleinen Gruppen wurde darüber diskutiert, wie Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung diesen beeinflussen. Zudem wurden Utopien für Zeitwohlstand entworfen und diskutiert.
Zeit wahrnehmen
Zeit ist Bewegung und Zeit ist künstlerisch darstellbar. Katrins Brunners Workshop zum Thema ‚Zeit und Bewegung und Bild‘ machte den Teilnehmer/innen bewusst erfahrbar, was geschieht, wenn Bewegungen zu schnell, zu langsam, im eigenen Rhythmus oder synchronisiert mit anderen ablaufen. Aus zwei Materialien wurde von den Teilnehmer/innen Zeit künstlerisch erschaffen.
‚Authentic Movement‘, eine von Ula Corn vorgestellte Methode, ist Bewegungsarbeit mit geschlossenen Augen, die auf dem Vertrauen in der zwischenmenschlichen Beziehung zweier teilnehmender Partner/innen basiert. Ziel ist es, sich vom eigenen Körper führen zu lassen, ganz ohne Vorgaben von außen. Achtsamkeit im Umgang mit dem eigenen Körper, ein In-Sich-Hinein-Spüren ist dazu notwendig.
Dérive, ein situationistisches Konzept im urbanen Raum, wurde von Greta Taubert vorgestellt. Es ermöglicht eine ästhetische Erfahrung, intensivierte Wahrnehmung und Handeln in Raum und Zeit und erschließt dem Einzelnen neue entschleunigte Lebenswirklichkeiten. Städte sind auf Geschwindigkeit angelegt, in denen sich das Individuum möglichst effizient und flexibel bewegen soll. Verkehr und Konsum zerstören das Lebendige des öffentlichen Raumes, denn man hält sich nicht wirklich darin auf. Im ‚Herumschweifen‘ durch den Raum werden temporär automatisierte Routinen und konventionelle Verhaltensmuster abgelegt.
Zeitwohlstand leben
Zeitwohlstand wurde in den Tagen dieser Zeitwerkstatt selbst gelebt, sowohl auf der sozialen als auch auf der ökologischen Ebene. Helmschrots Neue Mühle befindet sich mitten im Wald, ohne direkten Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel, auch ständigen Handyempfang gibt es hier nicht, zum Teil gab es nicht einmal eine Internet- und Festnetz-Telefonverbindung.
Veganes Essen wurde mit viel Zeit und Liebe selbst gekocht und Obst und Gemüse aus solidarischem Anbau aus der Region bezogen, ja selbst Pilze wurden im angrenzenden Wald für eine Mahlzeit gesammelt. Die Teilnehmer/innen beteiligten sich am Schnippeln und anderer Küchenarbeit – auch im gemeinsamen Kochen und gemeinsamen Mahlzeiten lebte man „Zeitwohlstand“, jenseits des Fast-Foods- bzw. To-Go-Prinzips.
In den ‚Open-Space-Zeiten‘ und ‚Lebensräumen‘ gab es viel Zeit, um offene Fragen oder Diskussionswürdiges auszutauschen. Teilnehmer/innen brachten ihre eigenen Vorschläge und Fragen ein. Diskutiert wurde unter anderem über die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit, Resonanzerfahrungen, Zeitwohlstand und Bildung und die Relevanz eines Grundeinkommens für ein Leben im Zeitwohlstand.
Auch der eigentliche Zeitplan der Sommerakademie wurde nicht rigoros eingehalten, sondern richtete sich nach den Unwägbarkeiten, die sich aus der Naturnähe des Ortes ergaben, wie auch aus den zeitlichen Bedürfnissen der Teilnehmenden.
Reflexion und Ausblick
Zentrale Themen, die sich in den Tagen der Zeitwerkstatt herauskristallisiert haben, wurden abschließend reflektiert. Der Begriff von Zeitwohlstand und seine bisherigen Konzepte stelle sich eher noch sehr unklar dar und müssen in der Zukunft theoretisch näher spezifiziert werden. Das gilt sowohl für die quantitative als auch für die qualitative Dimension von Zeitwohlstand. Weiterhin offen blieben Fragen zum Verhältnis zwischen zeitlicher Abhängigkeit und Freiheit, zwischen Autonomie und Heteronomie im Umgang mit Zeit. In einer Gesellschaft, für die Erwerbstätigkeit ein zentraler Zeit-Faktor ist, sollte das Verhältnis von Arbeit und Zeit in Forschung und Politik kreativer gedacht werden. Bildung benötigt Zeitwohlstand und Zeitwohlstand benötigt Bildung in Form von Zeitkompetenz – auch darin waren sich die Teilnehmer/innen einig. Ohne eine ausreichende soziale Existenzsicherung kann Zeitwohlstand nicht gerecht verteilt werden. Die Orientierung an grenzenlosem Fortschritt und Wachstum wird nicht förderlich für Zeitwohlstand sein.
Die Teilnehmer/innen möchten weiterhin am Thema arbeiten und unterschiedliche Ideen, wie das geschehen könnte, sind entstanden. Ein Lese-Retreat oder ein Blog zum Thema sind angedacht, um sich zukünftig miteinander auszutauschen.
Literatur
Acosta, Alberto (2015): Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München.
Debond, Guy (2008): Theorie des Herumschweifens. In: Situationalistische Internationale : Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg. S. 64-67.
Hersche, Peter (2006): Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bände. Freiburg/ Basel/Wien
Reheis, Fritz (1998): Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung. Darmstadt.
ver.di (2015): Mehr Zeit für mich. Impulse für eine neue arbeitszeitpolitische Debatte.