Werden Verhaltens- und Lebensstiländerungen in globalen Energieszenariostudien als Option betrachtet, um in Zukunft die energiebedingten Treibhausgasemissionen deutlich zu senken? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Untersuchung, die ich gemeinsam mit den KollegInnen Marie-Christine Gröne, Uwe Schneidewind, Hans-Jochen Luhmann, Johannes Venjakob und Benjamin Best durchgeführt habe und deren Ergebnis im vergangenen Jahr in einem Beitrag für die Zeitschrift „Technological Forecasting and Social Change“ erschienen ist (Samadi u. a. 2017). Die Motivation für den Artikel war die Erkenntnis, dass das Thema „Suffizienz“ und die Diskussion um mögliche Instrumente zu deren Förderung in der energie- und klimapolitischen Diskussion in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern praktisch keine Rolle zu spielen scheinen – und das trotz der immer deutlicher werdenden Dringlichkeit entschlossener Treibhausgasemissionsreduktionen. Da sollte man keine Option mutwillig ‚abschreiben’, auch nicht die Suffizienz-Option.
In unserem Artikel mit dem Titel „Sufficiency in energy scenario studies: Taking the potential benefits of lifestyle changes into account“ legen wir dabei eine relativ weite Definition von Suffizienz zugrunde, nach der sich suffizientes Verhalten a) durch die Veränderung individueller Präferenzen, b) durch die Veränderung relativer Preise (z. B. über Änderungen der Steuersätze) sowie c) durch politisch festgelegte Gebote oder Verbote einstellen kann.
In dem Artikel argumentieren wir, dass ein Grund für die weitgehende Ausblendung der Suffizienz-Option in der Politik vermutlich die Tatsache ist, dass die prinzipiell vorhandenen Klimaschutzpotenziale von Suffizienz-Maßnahmen in der Politikberatung nicht oder nur unzureichend berücksichtigt werden. Ein wichtiges Element der energiepolitischen Beratung sind Energieszenarien, die mögliche zukünftige Entwicklungen des Energiesystems beschreiben. Solche Szenarien haben unserer Auffassung nach die Aufgabe, der Politik alle bedeutsamen Optionen darzustellen, mit deren Hilfe zentrale energie- und klimapolitische Ziele erreicht werden können.
In unserer Untersuchung analysieren wir drei globale Energieszenarien aus den folgenden drei Studien:
- energy [r]evolution – A Sustainable World Energy Outlook 2015 (Teske u. a. 2015)
- Energy Technology Perspectives 2015 (IEA 2015a)
- World Energy Outlook 2015 (IEA 2015b)
Wir haben dabei auf die Annahmen geschaut, die dort bezüglich zukünftiger Suffizienz-Maßnahmen getroffen werden.
Zwei der Szenarien stammen aus zwei unterschiedlichen Veröffentlichungen der Internationalen Energieagentur (IEA), ein weiteres Szenario aus einer Studie im Auftrag u. a. von Greenpeace International (Teske u. a. 2015). Diese drei Szenariostudien bzw. regelmäßig aktualisierten Studienreihen spielen in der internationalen energie- und klimapolitischen Diskussion eine wichtige Rolle. Aus jeder Studie, in der jeweils mehrere Szenarien beschrieben werden, wurde das bezüglich des Klimaschutzes ambitionierteste Szenario ausgewählt.
Unser Blick in diese Szenarien ergab, dass keines der untersuchten Klimaschutzszenarien unterstellt, dass die Menschen ihr Konsumverhalten in den nächsten Jahrzehnten im Vergleich zu einer Referenzentwicklung (d. h. einer Entwicklung ohne bedeutende Klimaschutzmaßnahmen) signifikant verändern werden. In allen drei Szenarien werden Verhaltensänderungen nur im Verkehrssektor angenommen. Dort kommt es im Vergleich zu den jeweiligen Referenzszenarien zu einer gewissen Verlagerung hin zu energieeffizienteren Verkehrsträgern, d. h. die Anteile von Bus und Bahn am Verkehrsaufkommen steigen, während die Anteile vom Pkw-Verkehr und Flugverkehr sinken. (Da ein Wechsel des Verkehrsträgers mit nicht unerheblichen Verhaltensänderungen einhergeht, definieren wir die Verlagerung auf weniger energie- und CO2-intensive Verkehrsträger als eine Suffizienzmaßnahme.)
Zusätzlich zu der Verkehrsverlagerung nehmen zwei der Studien in ihren ambitioniertesten Klimaschutzszenarien an, dass die Personenverkehrsleistung im Vergleich zum jeweiligen Referenzszenario in gewissem Umfang reduziert werden kann.
Die Studie im Auftrag von Greenpeace u. a. geht in ihrem ambitioniertesten Szenario – im Vergleich zu ihrem Referenzszenario – außerdem explizit von der zukünftigen Anschaffung kleinerer Autos aus. Ähnlich heißt es in einer der beiden IEA-Studien (IEA 2015a), dass zumindest eine Möglichkeit, den Straßenpersonenverkehr effizienter zu gestalten, darin besteht, auf kleinere und/oder weniger leistungsstarke Fahrzeuge umzusteigen.
Die folgende Tabelle liefert einen Überblick über die Arten von Verhaltens- und Lebensstiländerungen, die in den drei analysierten ambitionierten Klimaschutzszenarien jeweils berücksichtigt werden. Sie stellt diesen Änderungen auch Beispiele weiterer Arten von Verhaltens- und Lebensstiländerungen gegenüber, die laut verschiedenen Untersuchungen (z. B. Faber u. a. 2012; Hallström u. a. 2015; van Sluisveld u. a. 2016; Stehfest u. a. 2009) den Energiebedarf und die damit zusammenhängenden CO2-Emissionen deutlich reduzieren könnten.
Die Tabelle verdeutlicht, dass in den drei analysierten Szenarien nur ein kleiner Teil der denkbaren, für den Klimaschutz dienlichen Verhaltens- und Lebensstiländerungen berücksichtigt wurde. Die Szenarien gehen ausschließlich von (begrenzten) Verhaltens- und Lebensstiländerungen im Verkehrssektor aus, größtenteils in Form von Verkehrsverlagerungen. Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die gesamten CO2-Emissionen des Energiesektors sind begrenzt. In der IEA-Studie Energy Technology Perspectives 2015 z. B. führen Verkehrsverlagerungen und Verkehrsreduktionen im ambitioniertesten Szenario zu CO2-Emissionsreduktionen von rund 2,5 Gt im Jahr 2050 (im Vergleich zum Referenzszenario). Dies entspricht lediglich 6 % der gesamten Emissionsreduktionen im Energiesektor (41 Gt) im Jahr 2050. Technologische Lösungen im Verkehrssektor (effizientere Fahrzeuge und kohlenstoffarme Kraftstoffe) führen dagegen in dem Szenario zu einer fast dreifachen Reduzierung der jährlichen Emissionen (ca. 7 Gt).
Die Analyse in unserem Artikel zeigt auf, dass zumindest auf globaler Ebene die bekanntesten Energieszenariostudien die Klimaschutzpotenziale von Suffizienz weitgehend ausblenden. Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Bedeutung einer umfassenden Berücksichtigung relevanter Klimaschutzstrategien in Energieszenarien empfehlen wir Szenarioentwicklern bzw. den Auftraggebern von Szenariostudien folglich, die Klimaschutzpotenziale weitgehender Verhaltens- und Lebensstiländerungen zukünftig deutlich stärker in den Blick zu nehmen, beispielsweise in der Form von separaten „Suffizienz-Szenarien“. Neben ausschließlich oder überwiegend auf technischen Fortschritt setzenden Szenarien würden dann auch Szenarien dargestellt, die in starkem Maße auch auf Suffizienz setzen. Im Rahmen solcher Szenarien könnten auch Umsetzungsvoraussetzungen und -herausforderungen für mehr Suffizienz untersucht und diskutiert werden. Auf einer solchen umfassenderen Grundlage könnten Politik und Gesellschaft dann entscheiden, welche Maßnahmen tatsächlich zum Erreichen der Klimaschutzziele gewählt werden sollen.
In unserem Artikel weisen wir auch auf verschiedene Szenariostudien hin, die genau dies umsetzen (z. B. Berghof u. a. 2005; Johansson u. a. 2012; Sessa und Ricci 2014; UNEP 2002, UNEP 2007; WEC 2013). In den bekanntesten globalen Energieszenarien (wie übrigens auch in den bekanntesten nationalen Energieszenarien für Deutschland, wie wir in anderen Arbeiten untersucht haben) ist dieses Aufzeigen der Klimaschutzpotenziale von Suffizienz allerdings leider weitgehend noch ein „blinder Fleck“, der in Zukunft dringend adressiert werden sollte.
Literatur
Berghof, R.; Schmitt, A.; Middel, J.; Eyers, C.; Hancox, R.; Grübler, A.; Hepting, M. (2005): CONSAVE 2050 – Final Technical Report.
Faber, J.; Schroten, A.; Bles, M.; Sevenster, M.; Markowska, A.; Smit, M. u. a. (2012): Behavioural Climate Change Mitigation Options and Their Appropriate Inclusion in Quantitative Longer Term Policy Scenarios – Main Report. Delft.
Hallström, E.; Carlsson-Kanyama, A.; Börjesson, P. (2015): Environmental impact of dietary change: a systematic review. Journal of Cleaner Production 91, 1–11. doi: 10.1016/j.jclepro.2014.12.008.
IEA (Hrsg.) (2015a): Energy Technology Perspectives 2015 – Mobilising Innovation to Accelerate Climate Action. Paris.
IEA (Hrsg.) (2015b): World Energy Outlook 2015. Paris.
Johansson, T. B.; Patwardhan, A.; Nakicenovic, N.; Gomez-Echeverri, L. (Eds.) (2012): Global Energy Assessment (GEA). Cambridge, New York.
Samadi, S.; Gröne, M.-C.; Schneidewind, U.; Luhmann, H.-J.; Venjakob, J.; Best, B. (2017): Sufficiency in energy scenario studies: Taking the potential benefits of lifestyle changes into account. Technological Forecasting and Social Change 124, 126-134. doi: 10.1016/j.techfore.2016.09.013.
Sessa, C.; Ricci, A. (2014): The world in 2050 and the New Welfare scenario. Futures, SI: Low Carbon Futures 58, 77–90. doi: 10.1016/j.futures.2013.10.019.
van Sluisveld, M. A. E.; Martínez, S. H.; Daioglou, V.; van Vuuren, D. P. (2016): Exploring the implications of lifestyle change in 2 °C mitigation scenarios using the IMAGE integrated assessment model. Technological Forecasting and Social Change 102, 309–319. doi: 10.1016/j.techfore.2015.08.013.
Stehfest, E.; Bouwman, L.; van Vuuren, D. P.; den Elzen, M. G. J.; Eickhout, B.; Kabat, P. (2009): Climate benefits of changing diet. Climatic Change 95 (1–2), 83–102. doi: 10.1007/s10584-008-9534-6.
Teske, S.; Sawyer, S.; Schäfer, O. (2015): Energy [R]evolution – A Sustainable World Energy Outlook 2015 – 100% Renewable Energy for All. Greenpeace International, Hamburg.
UNEP (Hrsg.) (2002): Global Environment Outlook 3. Nairobi: Earthscan Ltd.
UNEP (Hrsg.) (2007): Global Environment Outlook – GEO4 – Environment for Development. Valetta.
WEC (2013): World Energy Scenarios – Composing energy futures to 2050. London.
Vielen Dank für den interessanten Beitrag.
Ich hab letztes Jahr einen ähnlichen Artikel veröffentlicht, in dem ich auch auf die Makroebene von Suffizienz/Verhaltensänderungen eingehe – die Annahme eines geringeren Wachstums oder gar Schrumpfung. Der zusammenfassende Blog-Beitrag ist hier: https://www.degrowth.info/de/2017/06/wachstum-vorprogrammiert-der-blinde-fleck-in-klimaschutzszenarien/
In meinem Artikel gehe ich von 4 Gründen für das Ignorieren von Verhaltensänderungen/Suffizienz/gesellschaftlichen Veränderungen aus:
– Angfreifbarkeit von Ergebnissen
– Weniger Wachstum als Dystopie (m.A. der Hauptgrund)
– Finanzierbarkeit von Klimaschutz bei verringertem Wachstum
– Mangelnde Abbildbarkeit von Degrowth in Modellen
Liebe Grüße
Kai