Standpunkte

Vom Zero Waste Lifestyle zur müllfreien Zukunft?

Kommentare 3

Bilder von vermüllten Stränden und Berichte über Mikroplastik in Meeresfischen zeigen Wirkung. Immer mehr Menschen hinterfragen die moderne Wegwerfgesellschaft und suchen nach Alternativen. In Blogs tauschen sich bewusste Konsument*innen zu Möglichkeiten der Müllvermeidung aus. Einige davon wurden einer breiteren Öffentlichkeit bekannt – so veröffentlichte Bea Johnson Bestseller zum müll- und plastikfreien Leben. Ihre fünf R’s der Müllvermeidung (Refuse, Reduce, Reuse, Recycle and Rot) wurden zum Slogan einer neuen Bewegung.

Mit aufkommendem Interesse und dem stärker werdenden Wunsch nach alternativen Angeboten entstanden zunehmend Läden, die sich auf den plastik- und verpackungsfreien Einkauf spezialisieren. Außerdem vergrößert sich das Angebot an eigenen Konsumgütern für den verpackungsfreien Einkauf, von wiederverwendbaren Taschen und wiederbefüllbaren Boxen in den verschiedensten Formen und Größen bis hin zu Selbermachersets für Kosmetika. Eine Transformation scheint sich anzubahnen, die den gesellschaftlichen Umgang mit Ressourcen, insbesondere Plastik, fundamental in Frage stellt. Dieser Blogbeitrag ordnet das transformative Potential der Zero Waste Bewegung ein und verdeutlicht die Herausforderungen von Müllvermeidung auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene.

Nachhaltiger Konsum als Lösung des Müllproblems?

Der zentrale Wirkmechanismus der Zero Waste Bewegung ist nachhaltiger Konsum. Auf Konsument*innenseite führt bewusster Konsum, wie wir ihn im Moment anhand der Zunahme von verpackungsfreien Konsumpraktiken sehen können, meist zu einem guten Gewissen. Damit verbunden ist nicht selten ein Gefühl der moralischen Überlegenheit gegenüber denjenigen, die nicht nachhaltig konsumieren. Auf Unternehmer*innenseite führt nachhaltiger Konsum, neben einem neuen Marktsegment, vor allem zu einem besseren Image gegenüber den weniger nachhaltigen Konkurrenten. In beiden Fällen entsteht eine Kluft zwischen achtsamen Pionier*innen der Müllvermeidung und ignoranten Akteur*innen der Wegwerfgesellschaft. Die Verantwortung wird individualisiert, jede*r Marktakteur*in hat die Möglichkeit – ja die Pflicht–, das „Richtige“ zu tun. Diese Individualisierung von Verantwortung birgt die Gefahr, strukturelle Barrieren (bspw. das Wachstumsparadigma) für eine nachhaltige Gesellschaft zu verharmlosen. Es wird dem Markt überlassen, Nachhaltigkeitstransformation zu initiieren.

In Bezug auf Plastikmüllvermeidung sehen wir jedoch vier zentrale Widersprüche, die einer verpackungsmüllfreien Gesellschaft in einer marktbasierten Wachstumsökonomie entgegenstehen:

Soziale Ungleichheit, als ein zwangsläufiges Produkt des Kapitalismus/kapitalistischer Systeme, macht nachhaltigen Konsum zu einem Wohlstandsproblem

Die unterschiedliche Verteilung von Einkommen, Vermögen, aber auch von Wissen, erzeugt ein Gefälle an Handlungsoptionen und Freiheiten. Nachhaltiger Konsum ist abhängig von Ressourcen, aber auch von Prioritäten. Verschiedene Verbraucherstudien zeigen, dass viele Konsument*innen gar nicht bewusst konsumieren können, weil ihnen Geld, Wissen oder Zeit dazu fehlt. Die Herausforderungen der Alltagsbewältigung lassen keinen Raum für eine Umsetzung von oder Auseinandersetzung mit nachhaltigem Konsum. Somit sind Konsument*innen keinesfalls immer frei in ihren Konsumhandlungen. Sie unterliegen finanziellen Zwängen und/oder müssen auf die Informationen vertrauen, die ihnen von Hersteller*innen und Staat für ihre Konsumentscheidungen zur Verfügung gestellt werden. Michael Kopatz diskutiert im Blog Ökoroutine solche Grenzen der individuellen Verantwortung. Außerdem ist das Angebot an verpackungsfreien Optionen auch ungleich verteilt, sowohl zwischen Stadt und Land als auch zwischen Stadtquartieren.
Nachhaltiger Konsum bleibt einer kleinen privilegierten und hochgebildeten Gruppe vorbehalten. Diese Ungleichheit an Möglichkeiten findet sich nicht nur innerhalb von Staaten, sondern auch global wieder. In vielen Ländern gibt es weder die finanziellen noch die praktischen Auswahlmöglichkeiten, um als Konsument*in bewusst verpackungs- oder plastikfrei einzukaufen.

Individualisierung und Flexibilisierung des Konsums verhindert Verpackungsvermeidung

Ein weiterer Trend, der einem müllvermeidenden Lebensmittelsystem entgegensteht, ist die Entwicklung der alltäglichen Konsumgewohnheiten im Zuge der Individualisierung und Flexibilisierung des Alltags. Der Trend des verpackungsfreien Einkaufs wird von einem noch stärkeren Trend zu „To-Go Kultur“, Convenience und Online-Bestellökonomie unterwandert. Während jedoch verpackungsfreier Einkauf und Zero Waste Lifestyle nur eine bestimmte hochgebildete urbane Gruppe erreicht, sind Trends wie Coffee to go und Essen Lieferservice gesamtgesellschaftlich verbreitet. Diese Entwicklungen gehen einher mit der Auflösung traditioneller Geschlechter- und Familienverhältnisse (Einpersonenhaushalte, Aufteilung der Haushaltsarbeit) und einer Flexibilisierung des Berufsalltags.

Der verpackungsfreie Einkauf ist unter den bestehenden Verhältnissen häufig ein performativer Akt des nachhaltigen Konsums. Und er wird mit anderen nicht nachhaltigen Konsumformen kombiniert (mit dem SUV zum Biosupermarkt fahren). Um den ressourcenschonende Konsum anschlussfähig an die Alltagsgestaltung von mehr Menschen zu machen, müssten nicht nur verpackungsfreie Läden entstehen, sondern auch andere Formen der gemeinschaftlichen Verpflegung mit frischen, nachhaltigen und leistbaren Lebensmitteln gefunden werden, z.B. in Kantinen oder Gemeinschaftsküchen.

Die Globalisierung und Standardisierung der Lebensmittelmärkte erfordert (Einweg-)Verpackung

Beim Blick von der Nachfrage- auf die Angebotsseite wird ein anderer Widerspruch deutlich. Die zunehmende Komplexität und Differenzierung von Versorgungsketten führt zu einer Vervielfachung und Erweiterung der Prozesse und Praktiken zwischen Primärressourcengewinnung und Endverbrauch. Da die natürlichen Eigenschaften von Lebensmitteln die Globalisierung der Lebensmittelversorgungsketten einschränken, erzeugen sie einen Bedarf an Vorkehrungen, die Frische, Standardisierung und Qualität der Produkte gewährleisten. Die Verpackung als Frischekonservierung ermöglicht es, natürliche Einschränkungen wie Regionalität und Saisonalität der Lebensmittel zu überwinden. Außerdem erfüllt Verpackung die Ansprüche von Transport und Lagerung, sie erleichtert den effizienten Austausch von Waren und Informationen. Verpackungstechnologien sind in diesem Sinne eine der wesentlichen Bedingungen der Globalisierung von Lebensmittelsystemen.

Differenzierte Lieferketten hängen in der Regel von unterschiedlichen Verpackungsformen ab: Es wird unterschieden zwischen der Primärverpackung, die direkt dem Produkt ausgesetzt ist (z.B. Papierumhüllung von Bonbons), der Sekundärverpackung, die die Verkaufseinheit definiert (z.B. Plastikbeutel mit 25 Bonbons), der Tertiärverpackung (z.B. Faltschachtel mit 100 Beuteln) und den Ladeeinheiten (z.B. Palette mit 20 Kartons). Bei der Betrachtung verpackungsfreier Läden in diesem Kontext wird deutlich, dass sich die Verpackungsfreiheit oft in erster Linie auf die Primär- oder Kundenverpackung bezieht. Sie sind oftmals ähnlichen Versorgungsketten ausgesetzt wie reguläre Läden und werden vielfach von Großhändler*innen und Logistikunternehmen bedient, die weder verpackungsfrei noch plastikfrei arbeiten.

Wachstum und Vermeidung als Grundwiderspruch im Kapitalismus

Neben den besprochenen sozialen, kulturellen und sozio-technischen Widersprüchen gibt es auch makroökonomische Gründe, die Vermeidungsstrategien begrenzen. In einem Wirtschaftssystem, dessen Funktionieren darauf beruht, immer neue Märkte zu erschließen und durch gesteigerte Nachfrage Wachstum zu generieren, sind suffiziente Praktiken kontraproduktiv und systemgefährdend. Verpackungsfreier Einkauf und Vermeidung von Überschuss und Müll kann in einem solchen System nur eine Nischenlösung darstellen und keineswegs die Basis einer Volkswirtschaft.

Dieser Widerspruch macht es so schwierig, Vermeidungsstrategien politisch zu verfolgen. Einerseits gibt es weitgehenden politischen Konsens über die EU-Abfallhierarchie. Diese besteht aus folgenden Aspekten:

  1. Abfallvermeidung
  2. Vorbereitung zur Wiederverwendung
  3. Recycling
  4. Verwertung
  5. Beseitigung.

Abfallvermeidung gilt als wichtigstes Ziel des nachhaltigen Wirtschaftens. Beim Blick auf die tatsächliche Politik wird jedoch deutlich, dass die realpolitische Abfallhierarchie eine andere ist. Hier sind es in erster Linie technische Lösungen der Müllaufbereitung und -verwertung und dabei insbesondere Recyclingstrategien, die konkret gefördert und gefordert werden (EU- Circular Economy Strategy). Vermeidung verbleibt als abstrakter politischer Wunsch oft in der Ideenphase.

Eine nachhaltige, müllfreie Gesellschaft kommt also gar nicht umhin, das wachstumsbasierte Wirtschaftsmodell zu verlassen. Dieser Widerspruch sollte beim Aufbau von nachhaltigen Alternativen von Anfang an mitgedacht und auch politisch artikuliert werden.

Fazit: Ohne Wachstumskritik kein Zero Waste

Obwohl also die Wegwerfgesellschaft immer stärker in Kritik gerät, ist es selbst mit größtem Willen kaum möglich, sich von Verpackungen loszusagen. Wir sind alle nicht frei in unseren Konsumhandlungen. Vielmehr entscheiden unser Einkommen und Zugang zu Wissen darüber, wie sehr wir in der Lage sind, nachhaltig zu konsumieren. Verpackungen und Müll sind fest in die kapitalistische Logik unserer Gesellschaft verankert. Und selbst unter vorteilhaftesten Bedingungen stoßen wir gegen die Mauern unseres Wirtschaftssystems, das fundamental auf die Erschließung neuer Märkte und leider nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist.

Die kapitalistischen Zwänge und Logiken verhindern nicht nur die Möglichkeit zur Teilhabe an Müllvermeidung durch verpackungsfreien Konsum, sondern die Marktlogik zwingt den Lebensmittelversorgungsketten Verpackungen auf. Kritischer Konsum muss in diesem Prozess mehr sein als lediglich die Normalität einer Nische. Er kann als Ausnahmezustand, Störung oder Intervention in bestehende, nicht nachhaltige Strukturen und Praktiken Transformationen anstoßen. Um einen nachhaltigen Umgang mit Plastik auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu befördern, müsste sich die Zero Waste Bewegung stärker politisieren, einer breiteren Anzahl an Konsument*innen zugänglich gemacht werden und auch solche strukturellen Widersprüche stärker in den Blick nehmen. Um transformativ zu wirken, muss die Verbreitung von verpackungs- und müllfreiem Konsum einhergehen mit kulturellen, sozialen und ökonomischen Veränderungen:

  • gerechtere Ressourcenverteilung (Beseitigung von sozialer Ungleichheit)
  • geänderte Esskulturen und Alltagsgewohnheiten (Slow Food)
  • eine Veränderung von gesellschaftlicher Versorgungssystemen (Regionalisierung der Versorgung)
  • eine langfristige politische und wirtschaftliche Transformation hin zur Postwachstumsgesellschaft

 

Dieser Beitrag wurde in einer englischen Version ebenfalls veröffentlicht auf dem auf dem Blog der Nachwuchsforschungsgruppe PlastX.

3 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.