Neues aus der Wissenschaft

Umweltfachleute befürworten Postwachstum

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Wachstumskritik findet im Umweltbundesamt Anklang

Wirtschaftswachstum polarisiert. Landläufig wird es als wünschenswert angesehen, als Zeichen von zunehmendem Wohlstand und Wohlbefinden der Bevölkerung. Im Zusammenhang mit der Klimakrise und anderen ökologischen Herausforderungen unserer Zeit wird inzwischen ein grünes Wachstum oder Green Growth gefordert. In Deutschland setzt Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck auf eine glasklare Strategie des grünen Wachstums und auch der European Green Deal folgt diesem Leitbild.

Wachstumskritik ist inzwischen mehrheitsfähig unter den Fachleuten

Wachsende „Gallische Dörfer“ widersprechen diesem Narrativ jedoch schon seit Langem. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich zahlreiche Konzepte im akademischen und aktivistischen Raum entwickelt, die das Ziel eines weiteren Wirtschaftswachstums in Frage stellen. Dazu zählen unter anderem A-Growth, Degrowth und Postwachstum.

Wie diese Konzepte im Vergleich zum Green Growth von Expert*innen bewertet werden, war bisher recht unbekannt. Es gibt nur wenige Studien, die dies betrachten; zur Allgemeinbevölkerung in Spanien und Kanada und zur Einstellung von Wissenschaftler*innen – primär mit Volkswirt*innen. Erstaunlicherweise haben wir keine Studie gefunden, die gezielt Umweltfachleute zu diesem Spannungsfeld befragt.

Wir haben die Meinungen und Wissensstände der Mitarbeitenden des Umweltbundesamtes, als größter Umweltbehörde Europas, zu dieser Thematik mit einer Online-Umfrage erhoben. Es zeigte sich zum einen, dass das Wissen zu dieser für den Umweltschutz zentralen Fragestellung und den entsprechenden Konzepten grundsätzlich ausbaufähig ist.

Das wichtigste Ergebnis war jedoch: In allen abgefragten Maßen wurden die wachstumskritischen Ansätze (teils sehr deutlich) dem Konzept des Green Growth vorgezogen. Am meisten Anklang fanden Ansätze wie A-Growth, die eine ‚mittlere‘ Position zwischen Green Growth und Degrowth einnehmen. Die Gallischen Dörfer haben sich also unter Umweltexpert*innen inzwischen von Rom abgesagt und einen eigenen Staat gegründet.

A-Growth und Postwachstum erhalten die höchste Zustimmung, Degrowth ist beliebter als Green Growth

Grünes Wachstum besagt, dass Wachstum und Nachhaltigkeit vereinbar sind oder sogar, dass wir Wirtschaftswachstum benötigen, um die Umwelt zu schützen. Befürworter*innen von Degrowth sind hingegen überzeugt, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die für eine ausreichende Reduktion von Umweltbelastungen notwendig sind, nicht mit einem anhaltenden Wirtschaftswachstum einhergehen können. A-Growth sieht als mittlere Position eine Neutralität gegenüber dem Wirtschaftswachstum bzw. dem Anstieg oder Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als die beste Strategie für Nachhaltigkeit an, weil sie eher gesellschaftlich und politisch akzeptiert würde als eine Degrowth-Strategie. A-Growth war in unserer Umfrage in der Tat beliebter als Degrowth, wobei auch Degrowth beliebter war als Green Growth.

Zusätzlich haben wir Postwachstum in die Befragung aufgenommen. Postwachstum kann je nach Auslegung des Begriffs entweder mehr wie Degrowth oder mehr wie A-Growth verstanden werden. In unserer Studie waren die Begriffe nicht trennscharf durch Definitionen abgegrenzt, wodurch A-Growth und Postwachstum in Kombination als die bevorzugte Strategie angesehen werden kann.

Interessant war auch die hohe Zustimmung, die die sogenannte vorsorgeorientierte Postwachstumsposition erfuhr, welche mit anderen Fragen erhoben wurde. Obwohl sie vom IÖW, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und dem Wuppertal Institut als Publikation des Umweltbundesamtes veröffentlicht und auch vorgestellt wurde, war sie doch noch etwas mehr als der Hälfte der Teilnehmenden gänzlich unbekannt. Die vorsorgeorientierte Postwachstumsposition besagt, dass vor dem Hintergrund der großen Unsicherheit der Möglichkeit einer weitreichenden Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastungen gesellschaftliche Systeme wachstumsunabhängig(er) gestaltet werden sollten. Zu diesen zählen insbesondere:

  • eine effektivere Gestaltung ökonomischer Rahmenbedingungen, insbesondere ein konsequenter Einsatz von (marktwirtschaftlichen) Instrumenten zur Internalisierung negativer Umweltexternalitäten, um die planetaren Grenzen einzuhalten;
  • die Erforschung und Entwicklung neuer Wege gesellschaftlicher Entwicklung durch partizipative Suchprozesse, Experimentierräume und neue Ansätze in der Innovations- und Forschungspolitik; und
  • die Identifizierung und Realisierung von Potenzialen für eine wachstumsunabhängigere Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen.

Ebenso wollten die Umweltbundesamt-Mitarbeitenden mehr über die Position und das Thema allgemein lernen. Vor allem wünschten sie sich, dass das Amt sich intensiver mit dieser Thematik auseinandersetzen und eigene Positionen dazu entwickeln würde. Besonders die Mitarbeitenden, die sich schon besser mit dem Thema auskannten, taten sich als Wachstumsskeptiker*innen hervor.

Die Politik hat die Chance mutiger zu werden

In Verknüpfung mit den anderen vorher erwähnten Studien zu dem Thema zeigt sich, dass wachstumskritische Ansätze sowohl bei Expert*innen als auch in der Bevölkerung durchaus Anklang finden. Diese Chance sollte die Politik ergreifen, um konsequente Maßnahmen zum Umweltschutz zu etablieren. Es ist nötig, diese Ansätze vertieft zu erforschen, also zum Beispiel die vorsorgeorientiere Postwachstumsposition auszubauen und konkrete Maßnahmen für eine wachstumsunabhängige Gestaltung der gesellschaftlichen Sicherungssysteme auszuarbeiten. Über politikberatende Organisationen wie das Umweltbundesamt können solche Positionen in die obersten Ebenen der Politik gebracht werden. In Anbetracht des 50-jährigen „Jubiläums“ des Club of Rome-Berichts „Die Grenzen des Wachstums“ wird es Zeit, den wachstumskritischen Ansätzen weiter Schwung zu verleihen und unser Gesellschaftssystem grundlegend neu zu denken.

 

Alle Hintergründe und die genauen Forschungsergebnisse sind hier zu finden:

Cathérine Lehmann, Olivier Delbard, Steffen Lange (2022): Green growth, a-growth or degrowth? Investigating the attitudes of environmental protection specialists at the German Environment Agency. Journal of Cleaner Production, https://doi.org/10.1016/j.jclepro.2021.130306

Cathérine Lehmann studierte International Sustainability Management im Master an der ESCP Berlin/Paris und forschte danach an der TU Berlin zu Nachhaltigem Konsum und am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) zu Postwachstum, Engagement, Verbänden und sozial-ökologischer Transformation. Nun befasst sie sich mit der Nachhaltigkeitstransformation von Städten und Regionen. Sie ist politisch und zivilgesellschaftlich aktiv, unter anderem im Klimaschutzverein „3 fürs Klima e.V.“. Sie bloggt auch in ihrer Freizeit über nachhaltiges Leben und aktuelle Themen zur Nachhaltigkeit: https://cathagoessustainable.wordpress.com. Steffen Lange verbindet quantitative und qualitative empirische Forschung mit theoretischen und konzeptionellen Methoden, um umweltökonomische Fragestellungen zu bearbeiten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die digitale Transformation, der Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch, Rebound Effekte und Konzepte für Nachhaltiges Wirtschaften. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung, affiliated scholar der Arbeitsgruppe Ressourcenökonomik der Humboldt-Universität Berlin und assoziierter Mitarbeiter des Fachgebiets Sozial-ökologische Transformation der Technischen Universität Berlin. Steffen Lange studierte Volkswirtschaftslehre in Maastricht, Santiago de Chile und Göttingen und promovierte an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg. Neben Publikationen in internationalen Forschungsjournalen ist er Autor der Bücher „Macroeconomics Without Growth: Sustainable Economies in Neoclassical, Keynesian and Marxian Theories“ (Metropolis) und „Smart Green World? Making Digitalization Work for Sustainability“ (Routledge).

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