Kohei Saito (2023), Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, aus dem Japanischen von Gregor Wakounig, München: dtv, 316 Seiten
Bücher sind mitunter Seismographen einer Krise. Ihre Verkaufserfolge reflektieren die Tiefe der Erschütterungen, die eine Gesellschaft durchlebt. Zudem drückt sich in ihnen das Bedürfnis vieler Menschen aus, die Krise zu begreifen und handlungsfähig zu werden.
Davon zeugten zuletzt „Das Ende des Kapitalismus“ von Ulrike Herrmann oder Nancy Frasers Buch „Der Allesfresser“. Sie werden weit über eine kritische scientific community hinaus rezipiert. Und das zurecht – stellen sie doch die großen Fragen und machen deutlich, dass es mit ein bisschen mehr Elektro-Automobilität und erneuerbaren Energien nicht getan ist. Vielmehr geht es ums Ganze: Die lange Zeit für selbstverständlich gehaltene kapitalistische Produktionsweise selbst steht zur Disposition, nicht nur, weil sie weltweit unsäglich viel Leid und Zerstörung verursacht, sondern weil sie im Begriff ist, ihre eigenen sozialen und ökologischen Grundlagen aufzuzehren.
Diese Einsicht mit Hilfe des späten Karl Marx untermauert zu haben, ist eines der Verdienste des jüngst erschienenen Buches Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Verfasst hat es der japanische Philosoph Kohei Saito. Er ist Mitherausgeber der MEGA2, der von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften koordinierten Marx-Engels-Gesamtausgabe, mit der das Gesamtwerk der beiden Denker, darunter auch die nicht-veröffentlichten Texte, in einer historisch-kritischen Ausgabe zugänglich gemacht wird.
Saito interessiert sich vor allem für die Exzerpthefte, in denen Marx von 1868 an seine Notizen zur Lektüre der neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse festhielt. In seiner Dissertation von 2016 zeichnet Saito ein Bild von Marx als ökologischem Denker, aus dessen Sicht die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zum entscheidenden Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise wurde. Das Buch Systemsturz kleidet diese Erkenntnisse nun in ein Manifest, das den ökologischen Marx einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und für die Analyse und Überwindung der heutigen Krise fruchtbar macht.
Saito rekonstruiert auf eine brillante und dabei stets gut lesbare Art und Weise einen entscheidenden Bruch im Marxschen Denken: den Abschied vom Eurozentrismus und „Produktivismus“ der frühen Jahre. „Produktivismus“ meint die Vorstellung, dass es einer vollumfänglichen Ausbildung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Vorzeichen bedürfe, bevor eine Gesellschaft in den Sozialismus übergehen könne.
Davon löste sich Marx, als er sich ab Ende der 1860er Jahre dem Studium der Naturwissenschaften sowie vorkapitalistischer kommunaler Wirtschaftsformen wie der altgermanischen Markgenossenschaften und der russischen Dorfgemeinschaften widmete. Nicht nur revidierte er seine Vorstellung vom Weg zum Kommunismus, sondern auch seine Vision des Kommunismus selbst: Der Kommunismus, den Marx in seinen letzten Lebensjahren anstrebte, war, so Saitos zentrale These, „eine egalitäre und nachhaltige Degrowth-Wirtschaft“ (S. 145), ein „Degrowth-Kommunismus“ (S. 147).
Der Kapitalismus schafft künstliche Knappheiten und ermöglicht es den Wenigen, sich auf Kosten der Vielen zu bereichern. Der „Ökosozialismus“, wie ihn Marx im 1867 veröffentlichten ersten Band des Kapital Saito zufolge vertrat, schafft Gleichheit, allerdings unter der Bedingung andauernden, wenn auch nachhaltigeren Wachstums. Der „Degrowth-Kommunismus“ überwindet den Wachstumszwang und gewährleistet allen gleichermaßen einen Überfluss an dem, was zu einem guten Leben notwendig ist: eine saubere Umwelt, eine gesicherte Grundversorgung, Zeit für die Sorge um andere, um sich selbst und um die Natur, Freiräume für gelingende zwischenmenschliche Beziehungen.
In einer Zeit, in der sich die ökologische Krise dramatisch zuspitzt und die Rechte überall im Aufwind ist, klingt das nach Luftschloss. Aber das ist es nicht. Vielmehr handelt es sich um eine orientierende Utopie, die, das zeigt Saito am Ende seines Buches, vielerorts bereits praktiziert wird. Und wie stark der Bedarf an Orientierung ist, deutet sich nicht zuletzt darin an, dass sich die japanische Originalausgabe des Buches bisher mehr als eine halbe Million Mal verkauft hat und die deutsche Übersetzung es innerhalb weniger Wochen auf die Spiegel-Bestseller-Liste schaffte.
Ein Manko des Buches liegt darin, dass es die jüngere Degrowth-Debatte nur sehr knapp und oberflächlich zur Kenntnis nimmt. Das ist insofern ein Versäumnis, als deren Protagonist*innen in eine ganz ähnliche Richtung denken wie Saito. Es lohnt sich also, den Dialog zwischen Degrowth und einem ökologischen Marxismus zu intensivieren. Saitos Buch macht hier einen wichtigen Punkt: Nicht nur, dass es die sozial-ökologischen Destruktivkräfte des Kapitalismus besser zu begreifen hilft, es entdeckt auch den späten Marx als Vordenker einer ebenso egalitären wie ökologischen Produktionsweise – die Aktualität des Marxschen Werks als Seismograph des Kommenden.
1. „Der Kapitalismus schafft künstliche Knappheiten“: Hier möchte ich Zweifel anmelden. Sind wir nicht eher mit realen Knappheiten konfrontiert? Wenn ich an unseren begrenzten Planeten, an die begrenzt verfügbaren Ressourcen oder an unsere begrenzt verfügbare Arbeitskraft denke, dann habe ich Knappheiten – mit oder ohne Kapitalismus.
2. Marx hat das Wesen des Geldes nicht verstanden. Er dachte noch, Geld sei eine Ware. Heute wissen wir, dass das so nicht stimmt. Heute haben wir eine MMT. Was folgt daraus? Wer bringt die Entlarvung der Geldknappheit als Mythos mit dem Gedanken der Degrowth-Wirtschaft zusammen?
3. Conclusio: Wir haben ein Problem mit knappen Ressourcen, aber keine Geldknappheit. Und wir haben ein Problem mit der Verteilung, sprich: mit Gleichheit bzw. Gerechtigkeit. Ich finde, der Staat sollte das nötige Geld in die Hand nehmen, um in eine zukunftsfähige Infrastruktuer zu investieren. Das würde das BIP zunächst steigern. Für den einzelnen Menschen aber darf es nicht egal sein, ob er Geld für Flugreisen oder Musikworkshops ausgibt. Dies zu lenken, wäre Sache des Steuersystems. Degrowth schließlich ist nur möglich, wenn Menschen mehrheitlich verstehen, dass Lebensqualität und materieller Konsum zwei verschiedene Dinge sind. Dies setzt eine öffentliche Versorgung der Grundbedürfnisse aller voraus.
(Für Hinweise auf Denkfehler meinerseits bin ich dankbar.)
Ich beziehe mich hier nicht nur auf diesen Artikel, sondern auf die Grundgedanken, wie ich sie hier in dem Blog zu verstehen meine.
Was ich nicht ganz an diesem durchaus plausiblen Postwachstums- bzw. Degrowth-Gedanken verstehe, ist Folgendes:
A: Man will also einen ’starken Staat‘ mit einer „britischen Kriegswirtschaft“ im Sinne U. Herrmanns (https://sozialekunst.eu/2023/02/12/das-ende-des-kapitalismus-u-herrmann/). Also doch eine Art Sozialismus, ohne Sozialismus.
B: Man weiß (zumindest bei vorhandener gesellschaftskritischer Bildung), dass ‚der Staat‘ als solches lediglich als ein Teilgebiet der Wirtschaft existiert und die Aufgabe hat entsprechende Entscheidungen öffentlich zu legitimieren. Man muss es nicht so determiniert betrachten. Die „Politik als mediales Ereignis“ zur Herstellung einer bestimmten Öffentlichkeit sollte aber durchaus bekannt sein.
Bringt man A und B zusammen bekommt man ein seltsames Gemisch. Die Wirtschaft soll durch die legitimationsfunktion des Staates die Wirtschaft beschränken. Der Bock will sich also einen Gärter anstellen. Warum??
Die Antwort ist recht banal, da sie vor aller Augen bereits längere Zeit gegeben wird. Doch man ist so fixiert darauf ‚die Welt zu retten‘, dass man das eigene Ego mehr im Blick hat als die recht erschütternde gesellschaftliche Wirklichkeit.
Wenn die Bürger in ihrem Konsum, in ihrer Lebensart etc. beschränkt werden, wird auch die sich immer weiter herausbildende neue Aristokratie ebenfalls beschränkt? Nein! Das steht nirgendwo zur Debatte und kann gar nicht zur Debatte stehen. Die Politiker erhöhen weiterhin ihre Gehälter, machen Karieren im Vorstandswesen etc., fahren Luxuskarossen, fliegen Privatflugzeuge, bekommen Stylisten etc. von öffentlichen Geldern bezahlt. Die entsprechenden Wirtschaftsakteure stehen noch weiter oben und kreieren diese Welt des legitimen und aufstrebenden Geschmacks (Stichwort: Bourdieu).
Es geht also darum, die Aristokratie wieder ganz entschleiert in der Gesellschafts zu etablieren. So, dass entsprechene Lebensart zum Luxus wird und die Masse eben all diesen modischen Degrowth an sich erleben darf.
Das Intelligente dabei ist, dass (wie das Märchen der Meritokratie) die Idee von Degrowth von oben nach unten so transportiert wird, dass die unteren und mittleren Schichten diese Idee am wütendsten vertreten. Während man den Zusammenhang der Idee mit der oberen Schicht gerne verschleiert.
Dabei ist die sozial krankhafte Idee des stetigen Wachstums selbstverständlich zu kritisieren. Doch nicht, wenn die Oberschicht aus ihren medialen und politischen Machtzentren dem Pöbel einen Degrowth-Trend einimpfen will, wie nach dem zweiten Weltkrieg man den Fahrstuhleffekt eingeimpft hat. Der Teufel steckt also im Detail!