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Degrowth: Die Befreiung vom Staat?

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Vom 28.09.2023 bis 02.09.2023 fand in Zagreb die neunte Degrowth-Konferenz statt. Obwohl verschiedene Strategien, Interpretationen der Sammelbewegung und deren Einbettung in die aktuelle Zeit diskutiert wurden, blieb die Frage nach den konkreten politischen Strukturen und insbesondere, ob der kapitalistisch-liberale Nationalstaat in seiner aktuellen Form mit den Degrowth-Ambitionen vereinbar ist, weitgehend unbeachtet. Es scheint, als ob Degrowth Politik betreiben möchte, ohne ausreichend über die politischen Aspekte nachzudenken. Die Frage nach dem Staat ist von entscheidender Bedeutung, da eine politische Struktur, die potenzielle inhärente Grenzen in ihrer transformativen Kraft, also der Umsetzbarkeit von radikalen Veränderungen, hat, die notwendigen und geforderten Veränderungen nicht tragen oder ermöglichen kann. 

Degrowth als Sammlung von Forderungen für eine radikale Transformation aller Lebensbereiche, um den sozialen Metabolismus auf ein Maß zu reduzieren, das sowohl intergenerationelle als auch intragenerationelle Bedürfnisse befriedigt, ohne die sozio-planetarischen Grenzen zu überschreiten, fordert auch eine Gesellschaft, die sich von Wachstumszwängen befreit und Vermögen, Eigentum und Kapital umfassend umverteilt. [1] 

Um Degrowth in den Kontext des Staates zu bringen, kann die Theorie von Antonio Gramsci (1891-1937) hilfreich sein. Gramsci legte sein Augenmerk auf den Staat und kam zu dem Schluss, dass die Reduzierung des kapitalistischen Staates auf seine politischen Institutionen unzureichend ist. Der Staat besteht nicht nur aus dem Gewaltmonopol, das die Anerkennung eines politisch-ökonomischen Regimes erzwingt, sondern auch aus der Zustimmung der Unterdrückten zur Unterdrückung, die durch Hegemonie aufrechterhalten wird. Gramsci formulierte es so: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang.“ (Gramsci, 1996, H. 6, § 88: 783) Die Vereinigung von politischer und Zivilgesellschaft wird als integraler Staat bezeichnet. Kapitalismus wird daher nicht nur durch Zwangsinstrumente wie Polizei, Steuerbehörden und eine Rechtsgrundlage aufrechterhalten, die systematisch Kapital begünstigen, sondern auch durch Alltagspraktiken, Kultur und Institutionen außerhalb der politischen Gesellschaft auf eine ressourcenschonende Weise reproduziert. Dennoch spielt der Staat als institutionalisierter Akteur materieller Interessen eine entscheidende Rolle. 

In kapitalistischen Gesellschaften ist die Befriedigung materieller Bedürfnisse aufgrund der Unsicherheit von Akkumulationsstrategien nicht für alle gesellschaftlichen Akteure garantiert. Daher benötigen wir einen Akteur, der die Verteilung von Wohlstand und Eigentum bestimmt, nämlich einen Staat, der darauf abzielt, hegemoniale Verhältnisse aufrechtzuerhalten und materielle Bedürfnisse zu erfüllen. In kapitalistischen Demokratien wird die Unsicherheit der ökonomischen Dimension oft auf die politische Ebene übertragen. Angesichts dieser doppelten Unsicherheit konzentrieren sich die Interessen der Unterdrückten oft auf die kurzfristige Befriedigung materieller Bedürfnisse. Dies führt dazu, dass die Erhaltung der Zyklen der Kapitalakkumulation, einschließlich des Wirtschaftswachstums und seiner Strukturen, im Interesse aller zu liegen scheint. Wachstum wird somit nicht nur zu einer ökonomischen, sondern auch zu einer politischen Frage. Es geht um Hegemonie. [2]  

Die Frage lautet jedoch: Ist es möglich, einen kapitalistischen Staat zu haben, der das dialektische Verhältnis zu einer dritten Dimension, nämlich konsequentem und umfassendem Klimaschutz, entwickeln kann? Laut Hausknost und Hammond (2020) besteht bereits der Versuch, einen „Umweltstaat“ zu etablieren, der sich aus der fast betriebswirtschaftlichen Bearbeitung sozio-ökologischer Probleme zusammensetzt, ohne dabei massive Veränderungen in den ökonomischen und politischen Strukturen anzustreben. Das Ziel ist es, sozio-ökologische Herausforderungen anzugehen, indem der Staat ein Gewaltmonopol aufbaut, das geordnete Kapitalakkumulation ermöglicht, materielle Bedürfnisse erfüllt und einen minimalen Grad sozialer Inklusion schafft. 

Der Umweltstaat ist jedoch aufgrund seiner Struktur von inhärenten Grenzen in seiner transformativen Kraft geprägt. Wie Koch (2020, S. 21) treffend feststellt: „Die Logiken des Staates sind kumulativ und erlauben keine fundamentalen Widersprüche. Eine weitere Funktion kann nur hinzugefügt werden, wenn sie mit den bisherigen Funktionen kompatibel ist und sich ergänzen kann.“ Kurz gesagt, Klimaschutz kann nur so weit gehen, wie er die kapitalistische Grundordnung nicht gefährdet. Daher sind wir auch in Bezug auf das demokratische Potenzial eingeschränkt. Trotz der Unsicherheit, die der Demokratie innewohnt, scheinen in kapitalistischen Demokratien bestimmte Dinge sicher zu sein: Steuern, Tod und Eigentumsverhältnisse – ein deutlicher Bruch mit den Zielen von Degrowth. 

 

[1] Die präsentierte Definition von Degrowth ist maßgeblich verkürzt und vereinfacht. Für ein besseres Verständnis von Degrowth ist das Buch „Degrowth/Postwachstum“ von Schmelzer & Vetter (2021) zu empfehlen.

[2] Der ausgeführte Text baut auf den Werken von Przeworski (1997) und Pulantzas (1973) auf.

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