Das Problem struktureller globaler Abhängigkeiten
Degrowth und der Süden
Aber was ist denn mit dem Globalen Süden? Diese Frage kommt immer wieder auf, wenn Degrowth als Konzept vorgestellt wird. Ist Degrowth nur ein Konzept für den globalen Norden, der seinen Überkonsum einschränken muss, oder sollen auch Länder des globalen Südens wachstumsunabhängiger werden? Haben Perspektiven aus dem globalen Süden selbst eine Stimme im Degrowth Diskurs, oder will der Norden hier schon wieder eine globale Agenda vorgeben? Und überhaupt, was würde denn eigentlich passieren, wenn Degrowth im Norden Realität werden würde, und reiche Länder deutlich weniger konsumieren und produzieren würden – würde das nicht viele Menschen im Süden zunächst in große Not stürzen, da selbst ein demokratisch gestalteter regionaler Rückbau von Konsum und Produktion im Norden zu Rezessionseffekten im Süden führen kann?
Wie man sieht, sind die Fragen, die im Kontext von Degrowth und dem Globalen Süden gestellt werden, oftmals kritischer Natur. Interessanterweise ist die Entwicklung des Degrowth Diskurses mit Blick auf den Süden keineswegs linear verlaufen: Gerade zu Beginn der Degrowth Bewegung in den 2000ern mit Büchern wie Serge Latouches ‚Farewell to Growth‘ stand die Kulturkritik westlicher Moderne im Vordergrund – und damit auch die Kritik westlicher Entwicklungsmodelle. In dem Kontext wurde das wachstumsbasierte Entwicklungsmodell nicht nur aus ökologischen, sondern gerade auch aus soziokulturellen, philosophischen und ethischen Gründen kritisiert. Seitdem der Klimawandel den Druck auf die Politik erhöht, und somit auch radikaleren Ansätzen wie Degrowth mehr Gehör geschenkt wird, scheint jedoch die ökologische Perspektive von Degrowth stärker in den Vordergrund gerückt. Und wenn Maßnahmenvorschläge der Degrowth-Bewegung zur radikalen Umgestaltung wirtschaftlicher Aktivitäten tatsächlich Teil nationaler Politikgestaltung werden sollten, dann sind die kritischen Fragen danach, was das für globale Auswirkungen haben könnte, durchaus gerechtfertigt.
Solche Fragen gerieten spätestens seit Corinna Denglers und Lisa Mo Seebachers Artikel „What about the Global South?“, der 2019 in der Fachzeitschrift Ecological Economics erschienen ist, wieder mehr in den Fokus der Debatte. Und tatsächlich wurden im Degrowth Diskurs seitdem einige Beiträge zu den oben gestellten Fragen veröffentlicht. Um darüber einen besseren Überblick zu bekommen, haben wir versucht, die Beiträge im aktuellen Degrowth Diskurs zu dieser Frage systematisch zu erfassen und darzustellen. Das Ergebnis ist kürzlich veröffentlicht worden.
Was sagt die Literatur?
In unserem systematischen Literatur-Review haben wir 52 Publikationen identifiziert, die sich dem Thema ‚Degrowth und der Globale Süden‘ annehmen. Weitere 61 Artikel machen sich diese Frage zwar nicht zum Kernthema, aber haben dennoch relevante Beiträge zur Thematik zu leisten (die vollständige Liste dieser Beiträge findet sich hier). Die meisten dieser Beiträge wurden von Forscher*innen publiziert, die mit Institutionen im Globalen Norden affiliiert sind. Methodologisch bediente sich der überwiegende Teil qualitativen Methoden, insbesondere Fallstudien, oder einer konzeptionellen Herangehensweise. Wie sieht es aber denn nun inhaltlich aus, mit Blick auf die oben gestellten Fragen?
Wir konnten in den 52 Kernpublikationen zwei generelle narrative Muster erkennen: eins, welches die Synergien zwischen Degrowth und Globalem Süden hervorstellt, und ein zweites, welches sich auf die Herausforderungen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, fokussiert. Innerhalb dieser beiden großen Narrative haben wir allerdings noch jeweils drei Unter-Argumente identifizieren können:
Synergien zwischen Degrowth und dem globalen Norden
Mit Blick auf die Synergien war das meistgenutzte Argument, dass Theorien und Praktiken des Südens seit je her Inspirationen, und soziale Bewegungen im Globalen Süden Mitstreiter von Degrowth waren. Beispielsweise wird oft von den Synergien zwischen Environmental Justice Bewegungen im Süden und Degrowth gesprochen. Andere Artikel erwähnen den Einfluss, den beispielsweise der indische Poet und Philosoph Rabindranath Tagore oder der indische Ökonom J.C Kumarappa auf einige der Degrowth Urväter wie E.F. Schumacher und Ivan Illich hatten. Interessanterweise wurde dieses Argument nicht nur von jenen Artikeln gemacht, welche insgesamt ein Synergie-Narrativ verfolgten, sondern auch von einigen, welche zwar diese potenzielle Synergie herausstellten, insgesamt allerdings die Herausforderungen stärker in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellten. Die Verteilung der Unter-Argumente zeigt die prominente Position, die dieses Argument im Diskurs als Ganzes einnimmt:
Weitere Argumentationsansätze der Synergie-Narrative waren zum einen die These, dass Degrowth im Norden notwendiger Bestandteil einer Dekolonialisierung des Südens sei und somit, dass Degrowth im Norden – zumindest langfristig – für den Süden primär positive Effekte hätte. Ein weiteres Argumentationsmuster befasst sich mit der Frage, ob Degrowth als Konzept nur für den Norden oder auch für den Süden gelten solle. Hier war das Argument meist, dass Wachstumsabhängigkeit überall problematisch sei – auch im Süden. Der Süden solle daher die Freiheit haben, eigene Entwicklungsmodelle abseits westlicher Vorstellungen zu entwickeln – und solle vor allem unabhängig von institutionellen Zwängen sein, sich einer globalen Wachstumslogik unterwerfen zu müssen.
Herausforderungen beim Thema Degrowth und der Globale Süden
Auf der Seite der Herausforderungen wurde, vor allem mit Blick auf letzteres Synergie-Argument, die Gefahr einer neokolonialen Agendasetzung vom Norden gegenüber dem Süden herausgestellt: nachdem Länder des globalen Nordens zuletzt jahrzehntelang durch Vormachtstellung in internationalen Institutionen eine neoliberale Agenda gesetzt hätten, würde der Norden nun wieder eine globale Agenda setzen, zumindest wenn Degrowth als Universalanspruch gelesen werde und/oder den Effekten im Globalen Süden nicht die notwendige Aufmerksamkeit zuteil werden würde. Ein weiteres, aber verwandtes Argument war, dass Degrowth ein unpassendes Konzept für den Süden sei – sowohl für Länder im Süden, die ganz andere Probleme als Überkonsum hätten; als auch für aktivistische Bewegungen im Süden, denen es um konkreten Widerstand ginge, statt um abstrakte Diskussionen zu Wachstumsabhängigkeiten.
Eine dritte Herausforderung schließlich war das Problem von globalen strukturellen Abhängigkeiten. Dies ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen: einerseits führen globale Abhängigkeiten des Südens vom Norden (beispielsweise mit Blick auf Handel oder Finanzströme) dazu, dass Degrowth im Norden negative Effekte für Menschen im globalen Süden haben könnte, welche auf Zahlungsströme aus dem Norden angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (und diese Zahlungsströme sind zumindest teilweise Folge von Konsum- und Produktionsaktivitäten im Norden). Zumindest unter aktuellen Institutionen könnten solche Effekte auftreten, wenn Degrowth im Norden tatsächlich mit einem merklichen Rückgang von Produktion und Konsum einhergehen würde. Darüber hinaus weisen viele Autor:innen darauf hin, dass Menschen im globalen Südens, selbst wenn sie sich wachstumsunabhängiger machen wollen, durch die strukturellen Abhängigkeitsstrukturen daran gehindert werden können.
Das Zwillingsproblem globaler Abhängigkeiten
Tatsächlich ist es so, dass das Problem der Abhängigkeiten sowohl in den Artikeln genannt wird, die Synergien beschreiben, als auch in jenen, die Herausforderungen herausstellen. Für Artikel, welche Synergien in den Vordergrund stellen, sind diese Abhängigkeitsstrukturen eben gerade der Grund, weshalb es Degrowth braucht. Um ein Beispiel zu nennen: Eine Regionalisierung der Produktion, wie sie in Degrowth häufig gefordert wird, ginge einher mit einem Abbau global ausbeuterischer, neokolonialer Handelsstrukturen, und würde somit dem Süden zugutekommen, so das Argument. Auf der Seite der Herausforderungen wird jedoch herausgestellt, dass ein unilateraler Rückzug des Nordens aus solchen Handelsstrukturen unter gegebenen Bedingungen erstmal zu ökonomischer Not im Süden führen würde – eben genau wegen der Abhängigkeitsstrukturen.
Das bedeutet nicht, dass man die Existenz solcher Abhängigkeitsstrukturen im Status Quo als Totschlagargument gegen Degrowth verwenden sollte. Aber es impliziert, dass Degrowth nicht allein im regionalen oder im nationalen Kontext gedacht werden kann, sondern dass eine bewusst gestaltete Postwachstumsökonomie immer auch den globalen institutionellen Kontext mitdenken muss. In unserem Artikel sprechen wir daher von einem ‚Zwillingsproblem globaler Abhängigkeiten‘: Globale, strukturelle Abhängigkeiten sind einerseits Grund dafür, weshalb es Degrowth braucht, aber andererseits Hindernis einer global gerechten Umsetzung von Degrowth – sowohl für Länder im Globalen Norden als auch im Globalen Süden.
Wie kann Degrowth strukturelle Abhängigkeiten mitdenken?
Um konstruktive Vorschläge zu machen, wie eine Postwachstumsökonomie mit solchen Abhängigkeiten umgehen kann, müssten diese Strukturen jedoch zunächst untersucht und verstanden werden. Der Degrowth Diskurs fokussiert sich oft auf das Lokale – auch weil der Staat, häufig zu Recht, als Mitspieler des globalen Kapitalismus angesehen wird, dessen Interessen eng mit Kapitalinteressen verknüpft sind. Während im Degrowth-Diskurs deshalb viel Forschung zu Graswurzelansätzen hervorgebracht wird, ist die Analyse globaler Abhängigkeiten im Kontext von Degrowth tendenziell unterentwickelt.
Es gibt jedoch eine Reihe kritischer Ansätze aus Forschungsgebieten wie der Weltsystemtheorie, der Globalen Politischen Ökonomie, oder der heterodoxen Ökonomik, die interessante Perspektiven in die Degrowth-Forschung einbringen könnten. Unser Literatur-Review zeigt, dass es bereits in der Degrowth-Forschung erste Beiträge in diese Richtung gibt (beispielsweise diesen oder diesen) – die Potenziale sind aber lange noch nicht ausgeschöpft. In unserem Artikel schlagen wir daher eine Reihe von Ansätzen und Methoden vor, welche die Degrowth-Forschung noch stärker berücksichtigen könnte. Beispiele für thematische Ansätze wären etwa die Forschung zu globalen Finanzhierarchien oder zu Strategien im Süden zur ökonomischen Entkopplung (‚Delinking‘) vom Norden. Methodisch könnte die Degrowth-Forschung beispielsweise stärker Input-Output Modelle, Systemdynamik-Methoden oder agentenbasierte Modelle verwenden, um Konsequenzen von politischen Postwachstumsmaßnahmen mit globalen Auswirkungen zu simulieren (siehe z.B. hier).
Zusammenfassung
Alles in allem fanden wir in der Literatur eine Reihe von Antworten auf die Frage, die wir eingangs gestellt hatten: Was ist die Rolle des Globalen Südens im Degrowth-Kontext? Wir haben gezeigt, dass viele Degrowth-Beiträge die Synergien zwischen Degrowth-Denken und radikalem Denken und Handeln im Süden hervorheben. Darüber hinaus wird Degrowth im Norden oft als notwendiger Schritt zur Dekolonialisierung des Globalen Südens angesehen, weil mit Degrowth globale Anhängigkeitsstrukturen abgebaut werden sollen. Eben dieser Punkt hat jedoch noch eine Kehrseite: aufgrund der Abhängigkeitsstrukturen des Südens vom Norden ist es keineswegs trivial eine Postwachstumsökonomie im Norden global gerecht zu gestalten. Diese zwei Seiten derselben Medaille bezeichneten wir als das Zwillingsproblem globaler Abhängigkeit, und in unserem Artikel argumentieren wir, dass, um dieses Zwillingsproblem besser zu verstehen, Degrowth-Forschung den Blick über das rein Lokale hinaus richten müsse. Nur dann könne Degrowth beide Seiten des Zwillingsproblem der strukturellen Abhängigkeit wirksam angehen.