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Globale Solidarität

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Rezension von Alexander Behr, Globale Solidarität. Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen, München 2022: oekom.

 

In Zeiten, in denen selbst dystopische Erzählungen kaum mehr mit den Schrecken der realen Entwicklungen Schritt halten, scheinen positive Zukunftsentwürfe jeder Grundlage zu entbehren. Allenfalls kann es noch darum gehen, sich einigermaßen human an das Unvermeidliche, vor allem an die Klimakrise, anzupassen. In dieser Situation ein Buch über globale Solidarität und die Überwindung der „imperialen Lebensweise“ zu schreiben, ist gewagt – und gleichzeitig dringlicher denn je.  

Alexander Behr hat sich dieser Herausforderung nicht nur gestellt, sondern sie auch beeindruckend gemeistert. Mit seinem Buch legt er eine klare Analyse gegenwärtiger Krisen und Katastrophen vor. Vor allem aber gelingt ihm eine erfahrungsgesättigte Einschätzung dessen, was progressive gesellschaftliche und politische Kräfte trotz aller Widrigkeiten erhoffen dürfen und wofür es sich zu kämpfen lohnt. 

Behr bewegt sich sowohl mit dem Buch als auch im wirklichen Leben auf der Schnittstelle von Journalismus, politischem Aktivismus und Wissenschaft. Davon profitieren die Leser*innen. Das Buch ist gutgeschrieben, und es lebt von den anschaulichen Schilderungen widerständiger Praxen, die Behr aus seiner eigenen journalistischen und politischen Arbeit kennt, etwa des jesidischen Befreiungskampfs im Nordirak, der Kämpfe migrantischer Landarbeiter*innen in der südspanischen Provinz Almería oder der grenzüberschreitenden Organisierung von Geflüchteten im Netzwerk Afrique-Europe-Interact. 

Eine Stärke des Buches besteht darin, diese Konflikte als Politisierung der sozial-ökologischen Folgen zu begreifen, wie sie die Produktions- und Lebensweise des globalen Nordens systematisch hervorbringt: Es ist der europäische Bedarf an Metallen wie Kobalt, der im Kongo die Fluchtursachen produziert, es sind die Supermarktketten und Konsumgewohnheiten in Nordeuropa, für die die Migrant*innen im „Plastikmeer“ von Almería schuften, und es ist die europäische Flüchtlingspolitik, die die skandalösen Zustände in den Lagern auf Lesbos zu verantworten hat.  

Indem Behr diese übergreifenden Zusammenhänge anschaulich darstellt und fundiert reflektiert, schafft er gleichzeitig die Grundlage für seinen Solidaritätsbegriff: Solidarität beruht nicht auf Gemeinsamkeiten und geteilten Lebenslagen, sondern auf Differenz. Sie besteht in der materiellen und symbolischen Unterstützung für jene, die für ihre Rechte kämpfen. Damit ist sie gleichzeitig „Hilfe“ und Kampf gegen die sozialen Verhältnisse, die diese überhaupt erst nötig machen.  

Das Buch verschließt sich nicht den bisweilen katastrophalen Sackgassen, in die sich revolutionäre und Solidaritätsbewegungen immer wieder selbst manövriert haben. Auch werden die Spannungen und Widersprüche solidarischer Praxen nicht ignoriert, wie sie sich z.B. im Verhältnis von Protest und Institution, von Bewegung und der Absicherung von Errungenschaften zeigen. Nicht zuletzt zeigt das Buch die Verbindungslinien zwischen antirassistischen, feministischen und ökologischen Kämpfen auf. 

Neben seiner Anschaulichkeit ist es diese erfahrungsgesättigte Reflexion, die das Buch zu einer wertvollen Orientierung von Kämpfen für eine grundlegende sozial-ökologische Transformation macht. Es bewahrt in einer Zeit der sich häufenden und verschärfenden Krisen vor Wunschdenken und Erlösungserwartungen und identifiziert dennoch die „Momente und Orte, an denen sich historische Gelegenheitsfenster für Umbrüche öffnen.“ (S. 254) Insofern macht es Hoffnung – nicht im Sinne der „Überzeugung, dass etwas unter allen Umständen gut ausgeht“, sondern als Aufforderung, „sich die Haltung und letztlich die Gewissheit zu eigen zu machen, dass solidarisches Handeln Sinn macht, egal wie die Dinge am Ende ausgehen.“ (S. 14) 

Markus Wissen lehrt und forscht als Professor für Gesellschaftswissenschaften mit dem Schwerpunkt sozial-ökologische Transformationsprozesse an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR). Er ist Redakteur der PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft sowie Mitglied im Gesprächskreis Zukunft Auto, Umwelt, Mobilität und im wissenschaftlichen Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Darüber hinaus ist er Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Gemeinsam mit Ulrich Brand hat er 2017 das Buch Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus im Oekom-Verlag, München, veröffentlicht. 2021 erschien die englische Übersetzung unter dem Titel Imperial Mode of Living. Everyday Life and the Ecological Crisis of Capitalism bei Verso, London.

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