Die Gemeinwohl-Bilanz: eine wirtschaftliche Alternative in einer ökonomisch-quantifizierten Welt
Für eine gerechte Einkommensverteilung gibt es 60 Punkte, ökologische Produkte und Dienstleistungen bringen 90 Punkte und das ethische Management der Finanzen 30 Punkte – die Gemeinwohl-Bilanz will das Verhalten von Unternehmen gegenüber Mensch und Natur messbar machen. Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), eine Bewegung um den österreichischen Attac-Mitbegründer Christian Felber, hat das Instrument zur alternativen Bilanzierung für Unternehmen und Organisationen entwickelt.
Die Idee eines ökologischen und sozialen Berichterstattungsstandards ist keine neue Erfindung der GWÖ. Instrumente der nicht-finanziellen Berichterstattung erleben derzeit eine Konjunktur. Was die Gemeinwohl-Ökonomie auszeichnet, ist ihr Anliegen, den Erfolgsmaßstab für wirtschaftliches, unternehmerisches Handeln grundlegend zu verändern. Statt Gewinn und Konkurrenz sollen Kooperation und Gemeinwohl im Mittelpunkt stehen. Dabei verwendet die GWÖ mit der Bilanz einen Begriff, der wie kaum ein anderer für traditionelle Unternehmenspraktiken steht. Und mehr noch, sie setzt ebenfalls auf quantifizierte Bewertungen, wie wir sie aus klassischen, ökonomischen Bewertungsmethoden kennen. Steht sie damit vor einem unauflösbaren Widerspruch oder ist es ihr Erfolgsgeheimnis?
Dahinter steht eine größere Frage: Kann und soll man soziale, demokratische und ökologische Werte genauso messen wie ökonomische Größen? Fakt ist, es geschieht bereits. Man denke an Klimabilanzen, den ökologischen Fußabdruck, Versuche der Inwertsetzung der Natur, Hochschulrankings, PISA, aber auch Rankings von Staaten hinsichtlich ihrer Bildungsniveaus oder demokratischer Errungenschaften wie der Pressefreiheit. Die Logik dahinter: Will man etwas (zum Guten) verändern, muss man erst einmal den Status quo mit den rechten Mitteln und dem rechten Maß messen und vergleichbar machen.
Das mag allzu selbstverständlich klingen. Kein Wunder, leben wir doch in einer Zeit, in der kaum etwas nicht quantifiziert bewertet wird. Die Digitalisierung beschleunigt und intensiviert diese Entwicklung. Man denke nur daran, wie oft wir in Punkten, Sternchen bewerten und Likes und Klicks als Erfolgsindikatoren zählen. Permanent generieren wir damit große Datenmengen und diese lassen sich mit immer besser werdenden Technologien auswerten – und so entstehen wieder mehr Kennzahlen, mit denen wir unser Leben, ob individuell oder gesamtgesellschaftlich, bewerten.
Sozialwissenschaftler*innen sprechen angesichts dieser Entwicklung von „der Herrschaft der Zahlen“ (Uwe Vormbusch) oder „Quantifizierung des Sozialen“ (Steffen Mau). Allerdings ist es durchaus keine Entwicklung, die erst mit der Digitalisierung wie aus dem Nichts über die Gesellschaften kam. Sozialhistorisch beschreiben Forscher*innen zwei Entwicklungen als besonders einflussreich für unseren Hang zu den Zahlen: Die Entwicklung der nationalen Statistiken und die der Rechnungslegung, also die Regeln der Bilanzierung. Wirtschaftliche Praktiken und Wirtschaftswissenschaften haben einen großen Einfluss auf die heute so selbstverständlich gewordene Quantifizierung.
Die nichtfinanzielle Bilanzierung ist nicht frei von diesem Einfluss. So zeigen Studien über die Entscheidung der EU, nichtfinanzielle Berichterstattung für Unternehmen verpflichtend zu machen, dass sich auch dabei Begriffe und Standards der finanziellen, investorenorientierten Bilanzierung durchsetzen.
Im Rausch der Zahlen scheint in der öffentlichen Debatte etwas in Vergessenheit zu geraten: Es ist nicht naturgegeben oder objektiv, mit welcher Methode wir die Welt vermessen – und Zahlen bedeuten Macht. Damit wird hier keine kulturpessimistische Technikskepsis vertreten, sondern eine reflektierte Perspektive eröffnet, die gesellschaftliche Quantifizierung und Digitalisierung beschreibt. Anhand von statistischen Kennziffern über das Bruttoinlandsprodukt, das Bildungsniveau oder die Geburtenrate wird Politik gemacht. Anhand von Finanzergebnissen entscheidet sich, wer und was als wirtschaftlich erfolgreich gilt. Ökonomische Kennzahlen beschreiben nicht nur den Wert einer Sache oder eines Unternehmens. Sie schaffen diesen Wert permanent auch, indem sie explizit oder implizit eine Bewertung darüber enthalten, was als ökonomisch erstrebenswert gilt.
Ein Grund dafür, dass dies manchmal übersehen wird, liegt möglicherweise in der Aura des Objektiven, die quantifizierte Bewertungen umgibt – ein Thema, das Sozialforscher*innen schon lange beschäftigt. Quantifizierten Bewertungen wird eine besondere Objektivität zugeschrieben, sie werden als präzise, universell, von persönlichen Faktoren unabhängig angesehen. Sie gelten damit im Vergleich zu qualitativen Urteilsmethoden, die als subjektiv angesehen werden, als überlegen. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass Zahlen als universelle Sprache einsetzbar sind. Wer also die Maßstäbe und Mittel bestimmt, mit denen wir wirtschaftlichen Erfolg messen, bestimmt, was wirtschaftlich ist. Diesen Prozess beschreiben Sozialforscher*innen auch als Ökonomisierung [1]. Und geht es der GWÖ nicht genau darum, wenn sie den Maßstab für wirtschaftlichen Erfolg ändern will? Warum wählt sie dafür den Begriff der Bilanz und eine quantifizierende Methode, obwohl sie doch eine Alternative zum ökonomischen Mainstream sein möchte?
Aus den Gesprächen, die ich im Rahmen meiner Recherche mit Akteur*innen [2] der Gemeinwohl-Ökonomie geführt habe, sind zwei Erkenntnisse wichtig. Erstens, das Ergebnis in Punkten darzustellen ist durchaus Thema einer lebhaften Debatte der Gemeinwohl-Bewegung. Ein oft genanntes Argument für die Kennzahlen ist, dass gerade dies der GWÖ erlaubt, anschlussfähig an ökonomische Praktiken zu werden. Etwas überspitzt könnte man sagen, es ist unmöglich sich ohne eine quantifizierende Methode und ein Ergebnis, das sich in Zahlen ausdrücken lässt, in einer Welt der Kennzahlen und Statistiken Gehör zu verschaffen und ernst genommen zu werden. Das Argument leuchtet ein, macht aber auchauf den Drahtseilakt zwischen Anpassung und Abgrenzung eines Alternativmodells aufmerksam.
Die wenigstens Akteur*innen sind indes überzeugt von einer objektiven Aussage des quantifizierten Punkteergebnisses. Möglicherweise rührt dies daher, dass sie besser als alle Beobachter*innen wissen, dass der gesamte Bilanzierungsprozess im hohen Maße von qualitativen Methoden der Bewertung durchzogen ist – von den Debatten über die einzelnen Indikatoren, die die Werte mit konkreten Unternehmenshandlungen füllen sollen, bis hin zu der Bewertung des Unternehmens vor Ort, die sich auch nur durch genaues Hinschauen und aus Gesprächen mit Chef*innen und Mitarbeiter*innen ergibt. Damit sei allerdings nicht gesagt, dass die Gemeinwohl-Ökonom*innen quantifizierte Bewertungen ablehnen oder nicht ernst nehmen. Im Gegenteil, so gibt es auch das ständige Bestreben danach, bessere Methoden der Messung und Quantifizierung zu finden, um die Vergleichbarkeit der Unternehmensbilanzen zu verbessern. Auch die Objektivierung der Bewertung, die durch ein Auditieren, gegenseitiges Prüfen und Abstimmen der Bewertungen erfolgt, ähnelt traditionellen ökonomischen Praktiken – womit sich allerdings auch andeutet, wie sehr solche Mainstream-Praktiken im Wirtschaftsgeschehen von qualitativen Verfahren abhängig sind.
Zweitens ging es in den Recherchegesprächen um die Frage, ob die Punktebewertung unternehmerisches Handeln beeinflusst. Damit komme ich auf den oben genannten Satz zu sprechen: Will man etwas (zum Guten) verändern, muss man erst einmal den Status quo mit den rechten Mitteln und dem rechten Maß messen und vergleichbar machen. In der Sozialforschung spricht man in diesem Zusammenhang auch von Performativität. Dahinter steht die Beobachtung, dass insbesondere ökonomische Modelle in der Lage sind, die Realität so zu verändern, dass sie letztlich dem Modell entspricht. Ein beliebtes Beispiel dafür ist, dass an Business Schools das Modell des egoistischen, nutzenmaximierenden homo oeconomicus auf eine Weise gelehrt wird, dass sich die Student*innen im späteren Leben tatsächlich nach diesen Prämissen verhalten – und damit das Modell des homo oeconomicus bestätigen. Die GWÖ steht nun ausgerechnet für ein Wirtschaften, das nicht auf Egoismus, Nutzenmaximierung und der unsichtbaren Hand des Marktes fußt. Allerdings wird eine ganz offene Performativität des Gemeinwohl-Bilanz postuliert: Die Gemeinwohl-Ökonomie möchte mit ihren Mitteln das Verhalten wirtschaftlicher Akteur*innen verändern und zwar im Sinne des Gemeinwohls. Diese „offene Performativität“ finden Sozialforscher*innen übrigens auch in der Mainstream-Ökonomie. Ob der performative Effekt allerdings über die Punktebewertung funktioniert oder ob es der lange Prozess der Bilanzierung – meist dauert es mehrere Monate – mit vielen Gesprächen zwischen Mitarbeiter*innen, Chef*innen und Gemeinwohl-Akteur*innen und langsamen Verhaltensänderungen ist, der wirkliche Veränderung bewirkt, ist auch innerhalb der Bewegung ein Diskussionsthema.
Der Blick in das Innenleben der GWÖ-Bilanz offenbart Debatten über Methoden, über Übersetzungen von Qualitäten in Quantifizierungen. Auch diese Debatten zu führen, macht eine wirtschaftliche Alternative aus. Gleichzeitig zeigt die Studie der GWÖ, dass gerade dies besonders herausfordernd ist. Denn es setzt Wissen über komplexe Methoden und Technologien der Quantifizierung bei den Beteiligten voraus. Aber mehr noch, es setzt einen kritischen Blick auf die Objektivität, die Performativität und die Macht der Quantifizierung voraus. Quantifizierende Methoden, Technologien und ihre Ergebnisse werden allzu oft als objektiv und gegeben angenommen – nicht nur im wirtschaftlichen Mainstream, sondern auch in der Sphäre ökonomischer Alternativen. Die Gemeinwohl-Ökonomie hat den Anspruch, die Maßstäbe wirtschaftlichen Handelns in einem partizipativen, demokratischen Prozess zu bestimmen. Das macht eine Debatte über Quantifizierung umso herausfordernder. Es zeigt aber auch, dass diese Debatte notwendig ist, wenn wir in einer wirklich aufgeklärten und partizipativen Gesellschaft leben wollen.
[1] Es gibt über die Definition von Ökonomisierung selbstverständlich eine größere Debatte. Auf diese Definition können sich einige bewertungssoziologische Autor*innen einigen.
[2] Ich habe mit Entwickler*innen der Matrix (das ist die Bewertungsgrundlage der Bilanz), Bilanzprüfer*innen, Berater*innen sowie Unternehmer*innen, die eine Bilanz erstellt haben, gesprochen.
Dieser Beitrag ist aus der Masterarbeit Mit diesen Werten kann man rechnen – Werte und Bewertungspraktiken der Gemeinwohl-Ökonomie aus Perspektive der Valuation Studies entstanden (Uni Hamburg, M.A. „Arbeit, Wirtschaft, Gesellschaft – Ökonomische und Soziologische Studien“)