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Postwachstum und Kapitalismus: Ein Widerspruch? (4)

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Der Artikel ist Teil einer Blogreihe zum Verhältnis von Postwachstum und Kapitalismus. #PoWaKap

Postwachstum braucht Marktwirtschaft 

Viele Akteur:innen der Postwachstumsbewegung teilen die Überzeugung, dass eine Wachstumswende innerhalb „kapitalistischer Strukturen“ unmöglich ist. Allerdings bleibt oft unklar, was mit kapitalistischen Strukturen eigentlich gemeint ist, und häufig werden Kapitalismus und Marktwirtschaft einfach gleichgesetzt. Da wird dann alles zum Problem, was Märkte ausmacht: Geld, Profit, Konkurrenz und Lohnarbeit. Die Gegenentwürfe segeln in der Regel unter der Flagge einer solidarischen Ökonomie: regional begrenzt, demokratisch organisiert, Sinn statt Profit.  

Wir halten diese Vorschläge für ökonomisch nicht fundiert und sozial rückwärtsgewandt. Mit ihrem Fokus auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit lassen sie andere wichtige Aspekte wie Effizienz außer Acht und überschätzen insgesamt die Konsensfähigkeit moderner Gesellschaften. Aus unserer Sicht ist Marktwirtschaft nicht nur voll kompatibel mit einer Postwachstumsökonomie, sondern das einzige Wirtschaftssystem, das unter den Bedingungen der Moderne überhaupt funktionieren kann. Allerdings muss man dafür einigermaßen wohlwollend analysieren, was mit Marktwirtschaft eigentlich gemeint ist (oder sein könnte). Man könnte auch sagen: Wir haben keine Marktwirtschaft, sondern Kapitalismus, aber wir könnten zu einer Marktwirtschaft gelangen – einer brillanten sozialen Innovation, die aller Mühen wert ist.  

Die Verteufelung der Märkte 

Das Zerrbild von Marktwirtschaft geht meistens von einer sehr vereinfachten marxistischen Sichtweise aus: Es gibt Eigentümer:innen von Produktionsmitteln, die den wehrlosen Lohnarbeiter:innen für einen Hungerlohn ihre Arbeitskraft abpressen. Die damit erzielten Profite können sie jedoch gar nicht genießen, weil die ehernen Konkurrenzgesetze des Kapitalismus sie zwingen, den größten Teil wieder zu investieren, um weiter am Markt bestehen zu können („grow or die“). Da der Kapitalismus diesem Wachstumszwang unterliegt, ist er als „System“ völlig ungeeignet für eine Postwachstumsökonomie. Hinzu kommt, dass die Anonymität des Geldes und die Profitorientierung der Märkte zu einer „Entbettung“ der Ökonomien aus ihren sozialen Beziehungen führen würden (Karl Polanyi). Die willkommene Schlussfolgerung lautet: Märkte überwinden 

Volkswirtschaftliches Einmaleins: Gewinn und Wettbewerb 

Problematisch ist bei dieser Herleitung vor allem die Doppeldeutigkeit von zwei zentralen Begriffen. Gewinn und Wettbewerb werden seit Jahrzehnten (meist verächtlich als „Profit“ und „Konkurrenz“) unreflektiert verwendet, um der Marktwirtschaft eine Dynamik anzudichten, die sie nicht per se hat.  

Von „Gewinn“ im buchhalterischen Sinn spricht man, wenn die expliziten Erlöse die expliziten Kosten übersteigen. Das ist der Gewinn, den man durch eine Gewinn- und Verlustrechnung ganz objektiv ermitteln kann, er wird anschließend durch die Privatentnahmen der Unternehmenseigner (Gewinnausschüttung) reduziert. Wenn dann noch etwas übrigbleibt, was in der Firma verbleiben und investiert werden kann, nennt man diesen Rest buchhalterisch eine Gewinnrücklage, volkswirtschaftlich ökonomischen Gewinn, und er ist gleichbedeutend mit (bilanziellem) Unternehmenswachstum. Beide Gewinnbegriffe sind inhaltlich sinnvoll, sie beleuchten unterschiedliche Aspekte der Unternehmensführung. Aber eine Firma kann dauerhaft buchhalterischen Gewinn erzielen und ihren Eigentümern einen Lebensunterhalt verschaffen, ohne zu wachsen. Mehr noch: Alle Firmen einer Ökonomie können gleichzeitig buchhalterisch „profitabel“ sein. Eine Ökonomie ist kein Nullsummenspiel, bei dem der Gewinn des einen der Verlust des anderen ist, sondern ein soziales Interaktionssystem, in dem ökonomische Werte ständig neu geschaffen und verteilt werden.  

Der zweite problematische Begriff ist Wettbewerb. Grob vereinfacht kann man zwei Arten von Wettbewerb unterscheiden, einen „ehrlichen“ Leistungswettbewerb und verschiedene Formen von „unlauterem“ Wettbewerb. Leistungswettbewerb bedeutet: Jemand macht etwas besser, schneller, umsichtiger und vor allem kostensparender als andere, erzielt daher mit seinem Produkt oder seiner Dienstleistung eine höhere Nachfrage, kann seine Kosten schneller decken und daher auch schneller in die (buchhalterische) „Gewinnzone“ kommen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Die meisten Menschen schätzen Qualität und gute Arbeit und sind auch bereit, sie gut zu bezahlen. Charakteristisch für den Leistungswettbewerb ist seine natürliche Begrenztheit: Niemand kann beliebig besser, schneller oder umsichtiger sein als andere, und für jeden hat der Tag nur 24 Stunden. „Unlauterer“ Wettbewerb unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ist hingegen gesetzlich verboten. Es gibt aber eine besondere Form von Wettbewerb, den wir als unlauter bezeichnen würden, der aber nicht verboten ist: Der größte Teil des sogenannten technischen Fortschritts fällt darunter, die Mechanisierungen und Automatisierungen der letzten Jahrhunderte, die meistens so aussehen, dass (teure) menschliche Arbeit durch (billigen) Ressourcenverbrauch ersetzt wird. Hier ist nicht persönliche Leistung entscheidend, sondern vielmehr der Brennwert von Erdöl, die Festigkeit von Stahl, die Leitfähigkeit von Kupfer und so weiter. 

Es ist in erster Linie diese Materialschlacht, die für eine entfesselte Konkurrenz der Moderne verantwortlich ist. Bezeichnet wird sie aber oft als „Innovationswettbewerb“, wodurch die innovativen Ideen in den Mittelpunkt gestellt werden, die materielle Basis hingegen übersehen wird. Erst damit wird nicht nur die „grow or die“-Dynamik des Kapitalismus verständlich, sondern auch die Machtasymmetrie zwischen (automatisierenden) Arbeitgeber:innen und (von Entlassung bedrohten) Arbeitnehmer:innen. Wir haben also nicht in erster Linie ein falsches „System“, sondern eine fehlende Begrenzung der Möglichkeit, sich durch intelligenten Ressourcenverbrauch am Markt besserzustellen. Das ist der eigentliche Wachstumszwang des real existierenden Kapitalismus.  

Marktwirtschaft als Kommunikationsforum der Moderne 

Warum aber halten wir eine Marktwirtschaft in der Moderne für unverzichtbar? Sie ermöglicht es, in wirtschaftliche Interaktion mit Unbekannten zu treten. Die Menschwerdung hat über Jahrtausende hinweg in kleinen Gruppen stattgefunden, wo persönlich kontrollierte Verteilungsmechanismen die Regel waren und sind (beispielsweise die zentrale Verteilung gemeinsam produzierter Nahrungsmittel). Persönliche soziale Kontrolle ist das, was wir immer noch bevorzugen, weil wir diese intuitiv gut verstehen und beherrschen. Allerdings ist sie in größeren, anonymeren Gruppen als Verteilungsmechanismus nicht geeignet – die Verwicklungen von Anspruch und Verpflichtung, Lob und Missbilligung sind sozial sehr aufwendig und gleichzeitig unsicher. Ein marktbasierter Austausch hat sich entwickelt, weil er Wertbeziehungen in der Gruppe objektivieren und Zuteilungsprobleme formalisieren kann. Marktwirtschaft ist also trotz ihrer langen Geschichte für uns noch ein recht junges Feld. Wir mussten sozusagen Tricks finden, wie wir die Aspekte von Gerechtigkeit, die wir in persönlichen Beziehungen mühelos berücksichtigen, in diese anonyme Welt hinüberretten können. Der mit Abstand wichtigste dieser Tricks ist Geld, die mit Abstand wichtigste soziale Norm ist das Leistungsprinzip, welches unter anderem als Eigentum formalisiert wurde.  

In dieser Perspektive wird Marktwirtschaft zu einem modernen Kommunikationsforum, das die Beschränkungen des persönlichen Austauschs und der persönlichen sozialen Kontrolle überwinden kann. Die Anpassung von Angebot und Nachfrage über Preise ist ein raffinierter, dezentraler Mechanismus zur stabilen Steuerung eines arbeitsteiligen Prozesses zwischen Unbekannten. Dass es sich um Unbekannte handelt, ist kein Kennzeichen eines sozialen Zerfalls, sondern im Gegenteil die Ausdehnung von Gerechtigkeitsnormen auch auf Fremde. Soziale Kontrolle findet nun indirekt statt. Mit Einkommen und Geld wird darüber gewacht, dass niemand mehr konsumieren kann als er oder sie leistet. Mit Wettbewerb wird darüber gewacht, dass alle ihr Bestes geben und ihre Leistungen zu fairen Preisen verkaufen. Das Finanzamt sorgt dafür, dass alle ihren Beitrag zu den Gemeingütern leisten, die Sozialversicherung sorgt für die Kranken und Schwachen.  

Die Solidarische Ökonomie versucht, den Schritt zum anonymen Austausch rückgängig zu machen: Zurück in die überschaubare Kleingruppe, zurück zu persönlicher sozialer Kontrolle, vor allem aber zurück zu den aufwendigen, ineffizienten Mechanismen, die damit verbunden sind. Mit leichter Hand werden demokratische Steuerungsgremien oder Multi-Stakeholder-Genossenschaften vorgeschlagen, ohne zu berücksichtigen, dass solche Arrangements sehr aufwendig und wenigstens genauso anfällig für Machtmissbrauch sind. 

Markwirtschaft kann einfach, robust, effizient und gerecht sein 

Was ist denn dann der Unterschied zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus? Und wie muss Marktwirtschaft gestaltet werden, damit sie postwachstumskompatibel wird? 

Kapitalismus ist ein grundsätzlich marktwirtschaftliches System, welches aber durch eine mangelhafte politische Rahmenordnung in wichtigen Punkten „aus dem Ruder läuft“. Systematisch geht es immer um leistungslose Einkommen, praktisch lassen sich drei konkrete Phänomene unterscheiden, die für uns den Kapitalismus ausmachen: 

  • Die grundsätzliche Legitimität von systematisch leistungslosen Einkommen (z. B. Ressourcenrenten wie beim „Innovationswettbewerb“ oder Bodenrenten). Solche Quellen sind institutionell trockenzulegen, beispielsweise indem man Ressourcenrenten verhindert oder Bodenrenten steuerlich abschöpft. Geeignete Maßnahmen sind ein Lizenzhandel für Rohstoffe und eine Bodenwertsteuer.  
  • Die Möglichkeit von Akkumulation, also die Bildung von sehr großen Vermögen oder von sehr großem Produktionskapital, als fehlende ökonomische Machtbegrenzung und Verletzung von Leistungsgerechtigkeit. Das ist ein schwieriges Feld, weil es Güter gibt, die nur von sehr großen Unternehmen effizient hergestellt werden können. Aber grundsätzlich ist es legitim, Renten auch hier abzuschöpfen, beispielsweise über eine substantielle Vermögensteuer.  
  • Die private Geldschöpfung durch Geschäftsbanken. Sie bringt den sensiblen Mechanismus durcheinander, wenn wir Geld nutzen, um über den Wert von Leistungen kommunizieren. Wenn die Geldmenge unabhängig von der Menge der angebotenen Leistungen wachsen oder schrumpfen kann, dann kommt es zu charakteristischen Fehlallokationen. Ein Vollgeldsystem mit einem staatlichen Geldschöpfungsmonopol wäre daher das Geldsystem der Wahl für eine Marktwirtschaft. 

Alle diese Maßnahmen stellen Regulierungen dar, aber nicht im Sinne einer kleinteiligen „Gängelung“ von Märkten, sondern im Sinne einer grundlegenden politischen Rahmenordnung, einer Verfasstheit von Märkten. Sie sind „marktwirtschaftlich“ in dem Sinne, dass sie leistungsgerechte, selbstregulierende Märkte überhaupt erst ermöglichen. Sie können auch eine Postwachstumsökonomie ermöglichen, wenn wir das wollen. Eine solidarische Ökonomie basierend auf sozialer Kontrolle hingegen wird auf Dauer niemand haben wollen – sie ist viel zu ineffizient und muss mit großem Aufwand Probleme bearbeiten, die wir durch den anonymen Austausch mittels Geld schon sehr lange gelöst haben.  

 

Zum Weiterlesen 

Richters, Oliver und Siemoneit, Andreas (2019). Marktwirtschaft reparieren: Entwurf einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Utopie. München: oekom. doi: 10.14512/9783962385408. url: https://hdl.handle.net/10419/213814. 

Andreas Siemoneit ist studierter Physiker und Wirtschaftsingenieur. Er arbeitet als Softwarearchitekt und Systemberater in Berlin. Seit 2011 ist er intensiv an der wachstumskritischen Debatte beteiligt, mit einem Schwerpunkt auf Fragen der theoretischen Fundierung. Von 2014 bis 2020 war er Geschäftsführer des Fördervereins Wachstumswende. Derzeit promoviert er an der Universität Oldenburg zum Thema Wachstumszwänge. Oliver Richters, studierter Physiker, ist Doktorand am Lehrstuhl für Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Von 2012–16 war er Vorsitzender der Vereinigung für Ökologische Ökonomie. Er ist aktiv in den Netzwerken Plurale Ökonomik und Wachstumswende sowie in der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe nachhaltiges Geld.

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