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Denkanstoß Covid-19: Südtirols Degrowth-Szenario

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Politik gestalten für eine nachhaltige Zukunft – aber wie?

Die Covid-19-Pandemie hat bestehende soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, zwischen privilegierten und benachteiligten Individuen, Gesellschaftsgruppen und Ländern verschärft. Zahlreiche Akteur*innen aus Zivilgesellschaft oder Wissenschaft fordern, dieses Momentum als Gelegenheit wahrzunehmen, innezuhalten und über die Schaffung einer neuen Normalität nachzudenken. Die Politik war und ist in erster Linie damit beschäftigt, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Landesregierung der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol (Italien) nutzte die Gelegenheit außerdem, ein wissenschaftliches Projekt in Auftrag zu geben und sich mit den langfristigen Chancen und Risiken der Krise auseinanderzusetzen.

Wie kann eine tiefgreifende, sozialökologische Transformation gefördert werden? Wie können Degrowth-Ansätze in die Politik getragen werden? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigte sich das Forschungsteam von Eurac Research bei der Durchführung des Projektes Denkanstoß Covid-19: Zukunftsszenarien für ein nachhaltiges Südtirol 2030+.

Ziel war es, mittels der Szenarioachsentechnik vier plausible Zukunftsszenarien für ein nachhaltiges Südtirol bis zum Jahr 2030 und darüber hinaus zu erarbeiten. Diese Technik, als Teil der Strategischen Vorausschau, gilt mittlerweile als etablierte Methode, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der wirtschaftlichen und politischen Praxis (siehe dazu diverse Projekte der Europäischen Kommission, des World Economic Forums und der UNESCO). Die Leitung des Projektes lag bei einem interdisziplinären Forschungsteam von Eurac Research (Bozen, Italien), und wurde in Zusammenarbeit mit der Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship (Berlin, Deutschland) und unterstützt durch einen wissenschaftlichen Beirat aus lokalen und internationalen Expert*innen durchgeführt.

Vier Zukunftsszenarien für Südtirol 2030+

Was aber bedeutet nachhaltig im Kontext des Projekts? Geht es vorrangig schlichtweg um Zukunftsfähigkeit? Oder dürfen, sollen und müssen aktuell prädominante Systemlogiken, Denk- und Handlungsmuster kritisch hinterfragt werden? Wie können Degrowth-Ideen und Konzepte in der Realpolitik Fuß fassen?

Durch die Kombination zweier Achsen, sogenannter Unsicherheitsfaktoren, wurden im Projekt vier möglichst objektive, plausible und konsistente Zukunftsszenarien erstellt:

Achse 1: „Kultur der Zusammenarbeit“ mit den Polen „regionaler Wettbewerb“ und „globale Solidarität“ sowie Achse 2: „Grad der Transformation“ mit den Polen „punktuelle Veränderung“ und „radikaler Wandel“. Diese Kombination wurde in der Überzeugung ausgewählt, dass diese Achsen in Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung Südtirols besonders ausschlaggebend sind. Während zwei der Szenarien an punktuellen, schrittweisen Lösungen festhalten, streben die beiden anderen eine tiefgreifende, systemische Transformation an.

Erstes Anliegen des Projektteams war es, die Vor- und Nachteile einer nachhaltigen Entwicklung, der SDGs sowie des European Green Deals aufzuzeigen und gleichzeitig kritisch zu beleuchten. Der übliche Diskurs über Nachhaltigkeit – häufig in Kombination mit technologischem Fortschritt und neuen Wachstumsstrategien  – wurde im Szenario „Welt des Neo-Kosmopolitismus“  durch Degrowth-Ansätze ersetzt.

Dieses Szenario ist an der Schnittstelle von „globaler Solidarität“ und „radikalem Wandel“ entstanden. „Denke global, handle lokal“ ist dabei das zugrundeliegende Motto. Im Vordergrund stehen Werte wie Solidarität, Kooperation, Transparenz und Gerechtigkeit. In wenigen Sätzen lässt sich das Szenario wie folgt beschreiben:

Die Covid-19-Pandemie hat die Verletzlichkeit und Nicht-Nachhaltigkeit einer hyper-globalisierten und auf dauerhaftes Wachstum ausgerichteten Weltwirtschaft deutlich gemacht und zu einem radikalen Umdenken in Richtung sozial fairer und ökologisch nachhaltiger Produktions- und Lebensweisen beigetragen. Der Großteil der Menschen in Südtirol fühlt sich solidarisch mit der Weltgemeinschaft verbunden. Der Ausgleich sozialer und ökonomischer Ungleichheiten, eine partizipative Politik der Mitgestaltung sowie Klima- und Umweltschutz stehen ganz oben auf der politischen Agenda. In den letzten zehn Jahren hat ein tiefgreifender, struktureller Wandel stattgefunden, der zu einer tendenziell wachstumsneutralen Neuausrichtung in vielen Bereichen der Gesellschaft geführt hat.

Im Gegensatz zum Szenario „Welt des Neo-Kosmopolitismus“, ist das Szenario „Welt des regionalen Bewusstseins“ nach dem Motto „In der Tradition liegt die Stärke“ (Schnittstelle regionaler Wettbewerb und radikaler Wandel) durch Menschen gekennzeichnet, die ein ausgeprägtes Heimatgefühl und eine starke regionale Identität verspüren. Die soziale Sicherheit der einheimischen Bevölkerung und der Schutz der heimischen Natur stehen im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. So grenzt sich Südtirol zunehmend vom „Außen“ ab.

„Ich bin meines eigenen Glückes Schmied(in)“ ist der Slogan des Szenarios „Welt der individuellen Freiheit“ (Schnittstelle regionaler Wettbewerb und punktuelle Veränderung). In dieser Welt zählen die individuelle Handlungsfreiheit, die Leistungsbereitschaft und die Eigenverantwortung zu den bestimmenden gesellschaftlichen Leitprinzipien. Mittels Privatisierung, Deregulierung und Abbau von bürokratischen Hürden wird die Wirtschaft gestärkt. Der Ressourcenverbrauch und die Emissionen steigen ungebremst weiter an.

Im Szenario „Welt der grünen Innovationen“ (Schnittstelle zwischen „globale Solidarität“ und „punktuelle Veränderung“) steht fest: „Es gibt für alles eine (technologische) Lösung“. Südtirol setzt auf Wirtschaftswachstum, technologischen Fortschritt und Investitionen in Forschung und Bildung, um den Wohlstand zu steigern. Durch Innovation und Effizienzsteigerung gelingt es, soziale und ökologische Herausforderungen zu bewältigen.

Schlüsse und Lehren aus dem Projekt

Das Projekt zeigt, wie Zukunftskompetenz angeregt und Degrowth-Ansätze in den öffentlichen sowie politischen Diskurs gebracht werden können. Dafür eignet sich die Szenarioachsenmethode der Strategischen Vorausschau sehr gut. Weiters hat sich bewahrheitet, dass Interdisziplinarität und Partizipation zu den Schlüsselelementen einer breitangelegten Reflexion über die Gestaltung von Zukunft gehören. Zu einem solchen Prozess gehört es, sich in andere hineinzuversetzen, sich auch fremden Weltanschauungen zu öffnen, potenzielle Konfliktlinien offen anzusprechen und konstruktiv über Wünschenswertes und Nicht-Wünschenswertes zu diskutieren. Lokale Interessensträger*innen wurden bewusst erst nach Abschluss der Szenarioentwicklung in die Diskussion über mögliche Umsetzungsstrategien miteinbezogen.

Generell wird es immer wichtiger, wissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnisse zugänglich zu machen, diese leicht lesbar zu gestalten und wenn möglich kostenlos zur Verfügung zu stellen. Im vorpolitischen Feld tätige Akteur*innen, egal ob in der Forschung, Beratung oder Prozessbegleitung, müssen ihre Möglichkeiten nutzen, um die Degrowth-Philosophie in den öffentlichen und politischen Diskurs zu platzieren. Um Degrowth-Elemente und Strategien in eine zum Teil konservative Politik zu flechten, ist selbstbewusstes Handeln und Überzeugungskraft gefordert!

Für welches Zukunftsszenario – also für welche Kombination verschiedener Szenarioelemente – sich Südtirols Politik und Bevölkerung am Ende entscheiden, wird sich zeigen. Derzeit ist unter anderem ein breit angelegter Beteiligungsprozess in Planung, um die Diskussion über die Zukunft der Region fortzuführen. Bleibt zu hoffen, dass dieses Szenario dann auch eine „neue“, an Degrowth orientierte Normalität anstrebt.

 

Die vollständige Projektbeschreibung von „Denkanstoß Covid-19 Zukunftsszenarien für ein nachhaltiges Südtirol 2030+“ sowie den Zugang (Open Access) zum Studienbericht finden Sie hier.

 

Illustration von Christoph J Kellner / studio animanova

 

Quellen:

Habicher, D., Windegger, F., Gruber, M., Dibiasi, A., Klotz, G., Erschbamer, G., Pechlaner, H., von der Gracht, H., Gigante, S., Ghirardello, L. (2020): Denkanstoß Covid-19: Zukunftsszenarien für ein nachhaltiges Südtirol 2030+. Bozen: Eurac Research.

Mehr Informationen zur Strategischen Vorausschau und der Szenarioachsentechnik siehe:

Amini, H., Jabalameli, M. S., & Ramesht, M. H. (2021): Development of regional foresight studies between 2000 and 2019: an overview and co-citation analysis. European Journal of Futures Research, 9(1), 1. doi:https://doi.org/10.1186/s40309-021-00170-7;

European Commission (2020): 2020 Strategic Foresight Report: Charting the Course Towards a More Resilient Europe, Retrieved from https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/strategic_foresight_report_2020_1.pdf

Nagimov, A. R., Akhmetshin, E. M., Slanov, V. P., Shpakova, R. N., Solomonov, M. P., & Ilyaschenko, D. P. (2018): Foresight technologies in the formation of a sustainable regional development strategy. European Research Studies Journal, 21(2), 741-752. doi:https://doi.org/10.35808/ersj/1037

Van’t Klooster, S. A., & van Asselt, M. B. (2006): Practising the scenario-axes technique. In: Futures: The journal of policy, planning and futures studies, 38(1), pp. 15-30.

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