Wir schreiben das Jahr 2019. In der Wirtschaft hat es einen Paradigmenwandel gegeben. Nicht mehr Wachstum ist das zentrale Maß, mit dem Unternehmen sich messen und gemessen werden. Wirtschaftlicher Erfolg wurde neu definiert. Das neue Paradigma lautet: Wirklich erfolgreich ist ein Unternehmen, wenn es schafft, dauerhaft wachstumsunabhängig zu wirtschaften.
Wie ist es zu dieser Neudefinition von unternehmerischem Erfolg gekommen?
Diese Frage diskutierten rund 25 Expert/innen auf dem Fachgespräch „Zukunftsfähig wirtschaften: Rahmenbedingungen für eine Wirtschaft zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit“ am 11. November 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin. Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und die FES hatten dazu eingeladen, die jüngsten Erkenntnisse zur Perspektive von Unternehmen in der sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft zu diskutieren. Nach mehreren Stunden angeregten Meinungsaustausches zu den Ansatzpunkten, Erfordernissen, Möglichkeiten und Grenzen für unternehmerische Transformationsprozesse nun also diese Frage zum Schluss: „Wie ist es innerhalb von fünf Jahren zu dieser Neudefinition von wirtschaftlichem Erfolg gekommen?“. Das Gedankenexperiment, das Forscher/innen als „Backcasting“ bezeichnen, nahmen die Teilnehmer/innen des Fachgesprächs lebhaft an und boten die folgenden Erklärungen:
Crash oder nicht Crash?
Die Erschütterungen der Finanzkrise der Jahre 2007 und folgende waren zwar stark, aber nicht stark genug, um die Wachstumspolitik grundlegend zu hinterfragen. Letztendlich war man nach wenigen Jahren wieder beim alten business as usual angelangt. Doch dann ging es plötzlich ganz schnell, der Wachstumswahn führte rasant zu einem Crash des Wirtschaftssystems. Der Sog des Wachstums war letztlich so stark gewesen, dass es nicht gelang, diesen auf anderem Wege zu durchbrechen. Erst nach dieser schmerzhaften Lektion konnte eine echte Neubesinnung stattfinden, die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und Wachstumsunabhängigkeit als Kriterien für wahren Erfolg nach vorn stellt.
Dieser apokalyptischen Vision, durchaus keine Einzelmeinung, stellten die Fachleute auch eine optimistische Erzählung zur Seite. Immer wieder wurde dabei betont: Nicht ein singuläres Ereignis oder eine singuläre Kraft, sondern die Vielzahl der Schritte von unterschiedlichen Akteuren brachte den schweren Tanker auf neuen Kurs. Hierbei erwies sich eine ordentliche Prise Pragmatismus, gemischt mit Hartnäckigkeit, als hilfreich: Nicht alles ließ sich gleichzeitig umkrempeln – ein langer Atem war für den Prozess vonnöten.
Welche Schritte läuteten diesen Paradigmenwandel ein?
Gegen die Angst: Wachstumsunabhängigkeit war salonfähig geworden
Es gab mehr positive Geschichten! Geschichten, die zeigten, wie Wachstumsunabhängigkeit in der Praxis funktionieren kann. Geschichten über Unternehmen, die sich entschieden hatten, unabhängig von Wachstumszwängen zu wirtschaften, und die dennoch (oder gerade deswegen!) erfolgreich waren. Aber auch: all die Geschichten, die erzählten, wie Unternehmen sich zu Tode gewachsen hatten. In dem Maße, wie das Thema endlich breiter kommuniziert wurde, trug es dazu bei, die vorherrschende Hilflosigkeit und Angst vor Veränderung abzubauen. Die Botschaften, auch vermittelt von FilmemacherInnen, BuchautorInnen, ZeitungsredakteurInnen und anderen Medienschaffenden, waren: Eine andere Zukunft ist vorstellbar! Nicht der Transformationsprozess gefährdet die Lebensqualität, sondern das „Weiter so“!
Wissenschaft untermauerte die Vorteile der Wachstumsunabhängigkeit
Während es im Jahr 2014 noch wenige wissenschaftliche Studien zur Wachstumsunabhängigkeit von Unternehmen gab und das IÖW mit seinem Projekt Postwachstumspioniere weitgehend unerforschtes Terrain betrat, änderte sich das in den Folgejahren: Immer mehr empirische Studien wurden gefördert und untermauerten die These, dass Wirtschaften unabhängig vom Wachstum viele Vorteile mit sich bringt: ökologisch, sozial und ökonomisch.
Politik und Wirtschaft wurden mit einer „Wachstumsunabhängigkeitserklärung“ aufgerüttelt
Unternehmen, die der Wachstumszwänge überdrüssig waren, schlossen sich zusammen. Sie gründeten den „Bundesverband wachstumsunabhängiger Unternehmen“. Dieser verfolgt das Ziel, aus der Wirtschaft heraus die selbige umzukrempeln. Die Unternehmen im Verband diskutierten, welche Veränderungen an den Rahmenbedingungen sie benötigten, um freier und unabhängiger vom Größenwachstum gut wirtschaften zu können. Mit konkreten Vorschlägen wandten sie sich an die Politik. Um ihren Forderungen und ihrem Beispiel mehr Nachdruck zu verleihen, unterzeichneten immer mehr Unternehmen eine „Wachstumsunabhängigkeitserklärung“.
Politische Mehrheiten für gesellschaftlichen Umbruch
Die Unternehmen schafften es, eine Diskussionsplattform zu gründen, an der sich Politik und Gewerkschaften beteiligten. Dort wurde insbesondere auch ‚die soziale Frage‘ verhandelt und Arbeitsbedingungen und Sozialstandards wurden unter der bzw. als Bedingung für Wachstumsunabhängigkeit diskutiert. So verschoben sich über die letzten Jahre auch die politischen Mehrheiten in der Wirtschafts- und Wachstumspolitik.
Heute, im Jahr 2019, ist es tatsächlich soweit: Das neue Paradigma für wahren wirtschaftlichen Erfolg heißt Wachstumsunabhängigkeit!