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2084: Warum sich der Aufbruch ins Ungewisse lohnt

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»It was a bright [warm] day in April, and the clocks were striking thirteen.«

Es wäre kaum überraschend gewesen, wenn Paul Raskins Utopie eines »Heimatlandes Erde« mit diesen Worten [1] begonnen hätte. In Anbetracht der derzeitigen globalen Entwicklungen wäre eine an Orwell angelehnte Dystopie, eine aktualisierte Version im Sinne eines Twenty Eighty-Four ein durchaus wahrscheinliches Ergebnis beim Versuch, in die Zukunft zu blicken. Doch Raskin liefert mit seiner Journey to Earthland [2] das genaue Gegenteil: Die Vision einer positiven Zukunft.

Der Mitbegründer und Präsident des US-amerikanischen Tellus Instituts hat über viele Jahre Modelle und Szenarien erarbeitet, um mögliche Entwicklungspfade der Menschheit in Bezug auf Wasser- und Energieverbrauch, Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung oder CO2-Emissionen zu beschreiben (Raskin et al. 2010; Raskin et al. 2001; SEI 2006).

In Journey to Earthland bündelt Raskin die Ergebnisse seiner Arbeit und skizziert im ersten Teil des Buches den Pfad der bisherigen menschlichen Geschichte, der die wohlbekannten Kurven eines enthemmten Wachstums beschreibt. Im Hier und Jetzt angekommen, zeigt der Autor mögliche Entwicklungspfade der Zukunft (verschiedene Tomorrowlands) auf. Von diesen verschiedenen Pfaden wählt der Autor jedoch weder die dystopischen noch die „Business-as-usual“ Szenarien (sofern zwischen diesen überhaupt ein Unterschied besteht). Stattdessen befasst sich der Autor im folgenden Abschnitt mit dem „Großen Wandel“, dem gangbaren Weg zu einer zivilisierten, planetaren Zukunft.

Dieser Weg steht für eine Abkehr vom bislang dominanten Wachstumsparadigma. Raskin beschreibt diesen Weg so (und das zeichnet das Buch aus), dass den Leserinnen und Lesern keine Angst vor einer Zukunft der Entbehrungen und des Verzichts gemacht wird. Dies gelingt Raskin im dritten und letzten Teil des Buches durch einen Blick auf diese Zukunft oder besser: Durch einen Blick aus dieser Zukunft im Jahr 2084, einer Momentaufnahme im Futur II, der „vollendeten Zukunft“. Er hebt die vielen Zugewinne im Zusammenleben der Menschen durch ein neues globales „Wir-Gefühl“ hervor, ohne Vielfalt und Individualität zu verneinen.

Das bedeutet nicht, dass Raskin reine Fiktion oder gar Luftschlösser zu Papier gebracht hat. Seine Szenarien basieren auf handfester wissenschaftlicher Arbeit (vgl. Raskin et al. 2010). Darauf fußt auch sein Zukunftsbild des Earthland, das, wenn auch fiktiv, im besten Sinne des Wortes eine scientific oder Science Fiction ist.

In Teil 1 beginnt Raskin die Reise ins „Heimatland Erde“ im Parforceritt durch die menschliche Geschichte, die er als eine Geschichte der fortwährenden exponentiellen Beschleunigung beschreibt. Während die Steinzeit etwa 100.000 Jahre dauerte, sind die folgenden Phasen der menschlichen Geschichte um jeweils eine Zehnerpotenz kürzer. Die frühe Zivilisationsphase mit beginnender Sesshaftigkeit mit 10.000 Jahren, über die Moderne samt Nationalstaaten und Industrialisierung (ca. 1000 Jahre) bis zur Planetaren Phase der Globalisierung, die womöglich vor Ende des Jahrhunderts vergangen sein wird. Heute, nach Eintritt in die Planetare Phase, deren zahlreiche Veränderungen uns an einen historischen Scheideweg geführt haben, muss die Menschheit trotz der beschriebenen Beschleunigung eine Richtungsentscheidung herbeiführen: Der Wegweiser zeigt die drei Hauptwege „Großer Wandel“, „Herkömmliche Welten“ und „Barbarisierung“. Diese Wege mit ihren verschiedenen Abzweigungen von „Zusammenbruch“ bis zum „Neuem Paradigma“ skizziert der Autor, bevor er sich mit seinen Leserinnen und Lesern auf den Weg des „Großen Wandels“ begibt.

Im zweiten Teil des Buches beschreibt Raskin die Leitplanken dieses Weges zur planetaren Zivilisation durch zwei Rückblicke aus der Zukunft im Jahr 2084. In dem ersten Rückblick folgt er der Abzweigung „Politikreform“ auf dem Weg „Herkömmliche Welten“. Auf diesem Weg werden sich die vielfältigen Stimmen für eine Reformierung der derzeitigen politischen Spielregeln langsam durchgesetzt und zur Ausbildung einer globalen Sozialdemokratie geführt haben. Die Welt würde zu einem „gut konstruierten Einkaufszentrum“, das die meisten Menschen versorgen könnte, Menschen und Natur jedoch nicht zu voller Entfaltung kommen ließe. Der zweite Rückblick erfolgt aus einer „Welt der Festungen“, nachdem die Menschheit dem Weg der „Barbarisierung“ gefolgt ist. Raskin sieht als Folge dieser Zukunft das Auftreten von Klimakatastrophen, Pandemien und gesellschaftlichem Chaos.

Im Anschluss an diese Zukunftsberichte stellt Raskin dem Festhalten am Wachstumsparadigma (Szenario „Marktkräfte“) die Abkehr von diesem (Szenario „Großer Wandel“) gegenüber. Hierzu zeigt er anhand dieser zwei Szenarien die Bandbreite der möglichen Entwicklungen von Variablen wie der Weltbevölkerung, Arbeitszeit, Kohlendioxidemissionen oder des Energieverbrauchs (Raskin et al. 2010).

Den dritten Teil seines Buches widmet der Autor einem Bericht aus der zivilisierten Zukunft im Jahre 2084. Dieser Bericht erzählt zunächst die Geschichte der Great Transition in ihren fünf Stufen: Takeoff (1980-2001), Rolling Crisis (2001-2023), General Emergency (2023-2028), The Reform Era (2028-2048) und Commonwealth of Earthland (2048-2084). Um dem „Heimatland Erde“ etwas Farbe zu verleihen, nimmt Raskin erneut Anleihen bei Orwell und übersetzt dessen Dreiteilung in die Superstaaten Ozeanien, Eurasien und Ostasien in neue „Superregionen“ von Earthland. Während sich in Orwells Dreiteilung deutlich die Vorstellungen von „Erster bis Dritter Welt“ widerspiegeln, versucht auch Raskin heutigen Vorstellungen geografischer, kultureller und weltanschaulicher Unterschiede Rechnung zu tragen: Von Agoria, einem marktgläubigen „Schweden mal 10“, über Ecodemia, einer ökonomischen Demokratie mit sozialistischen Spuren, bis hin zu Arcadia, einer Region idyllischer, ländlicher und anarchistischer Träume. Ausführliche Beschreibungen von politischen und wirtschaftlichen Strukturen, den Menschen selbst, von Bildung, Spiritualität sowie Gerechtigkeits- und Umweltaspekten ergeben ein Bild von Earthland mit viel Mut zum Detail. Schließlich endet der Zukunftsbericht – und damit das Buch – mit Worten voll Dankbarkeit an die vorherigen Generationen, die die ersten Schritte auf dem Weg des Großen Wandels beschritten haben (werden).

In einer Zeit, in der im globalen Norden trotz nagender Zweifel das passive Verharren, in der falschen Hoffnung den Status quo zu konservieren, die vermeintlich sicherere Wahl als der aktive Aufbruch in eine neue Zukunft ist, fehlt es vor allem an Einem: Einer konkreten Vorstellung der Zukunft – einem Ziel, für das sich ein Aufbruch ins Ungewisse lohnt. Wenngleich es nicht originäre Aufgabe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sein mag, eine solche Zukunftsvision zu entwerfen, so ist es doch Aufgabe eines jeden Menschen, dem am Fortbestand des (menschlichen) Lebens auf der Erde gelegen ist. Und zu dieser Gruppe sollten sich – wie Paul Raskin – alle bekennen, die Wissenschaft betreiben.

Paul Raskin (2016): Journey to Earthland – The Great Transition to Planetary Civilization.

 

[1] Orwell  1949: 3

[2] Raskin, Paul D. (2016): Journey to Earthland. The Great Transition to Planetary Civilization. Boston, MA., Online unter: http://www.greattransition.org/documents/Journey-to-Earthland.pdf

 

Dies ist die gekürzte Version eines Textes, der zunächst zweisprachig (deutsch und englisch) in der Reihe ISOE-Diskussionspapiere (ISSN 1436-3534) erschienen ist. Dieser Text ist abrufbar unter: http://www.isoe.de/fileadmin/redaktion/ISOE-Reihen/dp/dp-42-isoe-2018.pdf

This is the abridged version of a text that was originally published bilingually (in German and English) in the “ISOE-Diskussionspapiere” series (ISSN 1436-3534). This text is available at: http://www.isoe.de/fileadmin/redaktion/ISOE-Reihen/dp/dp-42-isoe-2018.pdf

 

Literatur

Orwell, G., 1949. Nineteen Eighty-Four: A novel. Secker & Warburg, London.

Raskin, P.D., Electris, C., Rosen, R.A., 2010. The Century Ahead: Searching for Sus-tainability. Sustainability 2 (8), 2626–2651.

Raskin, P.D., Sieber, J., Huber-Lee, A., 2001. WEAP – Water Evaluation And Planning System: User Guide for WEAP21. Stockholm Environment Institute (SEI), Boston, MA, 109 pp.

Stockholm Environment Institute (SEI), 2006. LEAP – Long-range Energy Alternatives Planning System: User Guide, 264 pp.

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