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Digitalisierung: Megatrend, selbsterfüllende Prophezeiung oder Mega-Gestaltungsaufgabe?

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Megatrends, das sind grundlegende gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die man meist nicht „voraussagen” muss, sondern die bereits seit längerem unsere Gesellschaften verändern und uns auch noch lange prägen werden. Informiert man sich, was alles so als Megatrend bezeichnet wird, so listen beispielsweise das Zukunftsinstitut, die Webseite zukunftsstark.org oder die Unternehmensberatung PriceWaterhouseCoopers – mit leichten Abweichungen – folgendes auf: Urbanisierung, Globalisierung, Individualisierung, Gender Shift, Bevölkerungsentwicklung (als netter Euphemismus „Megatrend Silver Society“), Klimawandel – um nur einige zu nennen. Auch genannt werden sodann SmartCities, Konnektivität, Wandel der Arbeitswelt, Internetkultur & Digitalisierung, Intelligente Produkte & Infrastrukturen.

Drei Sachen fallen auf.

Erstens scheinen einige dieser Megatrends im Grundsatz wirklich kaum veränderbar zu sein, auch wenn natürlich ihre Auswirkungen irgendwie gestaltet werden können und sollten. Beispiel Bevölkerungsentwicklung: Wir können Renten-, Arbeitsmarktreformen, Gesundheitsreformen anvisieren oder Pflegeheime bauen, um der fortschreitenden Alterung der Gesellschaft beizukommen; aber das wird die Menschen kaum davon abhalten, immer älter zu werden. Ähnlich beim Klimawandel: Weil wir alle und die Weltpolitik so lange untätig waren, wird eine Erwärmung um 2 Grad leider nicht mehr zu verhindern sein; wir können aber mit Anpassung an die durch Klimawandel veränderten Lebensbedingungen darauf reagieren und zugleich alles daran setzen, um eine noch stärkere und katastrophalere Erwärmung zu verhindern.

Zweitens fällt auf, dass sodann andere Megatrends genannt werden, bei denen jedenfalls mir wesentlich weniger klar ist, wieso diese in Stein gemeißelt sein sollten. Beispiel Globalisierung: Sind der Brexit oder die Wahl Trumps nicht Beispiele dafür, wie der Megatrend Globalisierung binnen Kurzem in Frage gestellt und in Teilen sofort – per Volksentscheid oder „executive order“ – ausgesetzt werden kann? Und was passiert, wenn Le Pen, Petry, Wilders oder andere extremistische Populisten ihre Macht ebenfalls ausdehnen? Wer genau ist da auf Gedeih und Verderb einem unaufhaltsamen Megatrend ausgeliefert?

Digitalisierung als Meta-Megatrend?

Drittens aber fällt auf, dass beinahe die Hälfte der als einschlägig genannten Megatrends letztlich dem Megatrend „Digitalisierung“ zugerechnet werden können. Schon die wirtschaftliche Globalisierung ist wohl ohne Digitalisierung von Kommunikation, Logistik und Produktion gar nicht zu denken – es sei denn, es wird ein sehr breiter Begriff von Globalisierung gewählt, dessen Startpunkt dann aber in der Ausfahrt des Kolumbus 1492 gesehen werden müsste (wenn nicht schon bei den Wikingern). Ganz direkt aber spielen die genannten Megatrends SmartCities, Konnektivität, Wandel der Arbeitswelt, Internetkultur, Intelligente Produkte & Infrastrukturen auf Folgen bzw. Einzelaspekte der Digitalisierung an. Dies für sich genommen ist schon bezeichnend: Kann es sein, dass diejenigen, die angebliche Megatrends ausrufen, einem heimlichen Technikfetischismus aufsitzen?

Ferner aber stellen sich mir die Fragen: Ist der Digitalisierungstrend bereits in Stein gemeißelt, oder können wir als Einzelne doch mitbestimmen, inwiefern wir diesem Trend folgen möchten? Können wir uns überhaupt noch davon abgrenzen? Sicher, die Digitalisierung hat unseren Alltag und unsere Kommunikation bereits verändert: Wir kaufen online ein, streamen Videos aus dem Netz, kommunizieren über E-Mails, Kurznachrichten und soziale Netzwerke. In der Industrie werden Maschinen, Produkte und Arbeitskräfte mit Informationstechnik immer weiter vernetzt. Aber noch geht es auch komplett ohne Digitalisierung. Wir alle kennen wahrscheinlich Menschen, die ihre Rechnungen noch per Überweisungsformular bezahlen, oder den Urlaub total analog im Reisebüro buchen. Und die lokalen Elektriker/innen, Bäcker/innen oder Fliesenleger/innen – die allermeisten der kleinen Handwerksunternehmen, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft – sind nicht Teil der digitalen Wirtschaft. Wird es die bald nicht mehr geben? Wird die Bäckerei in einem 2.000 Seelen Dorf demnächst seine Kund/innen wirklich nur noch über digitale Kanäle gewinnen?

Meiner Meinung nach sollten wir gerade jetzt mehr denn je hinterfragen, wie viel Digitalisierung tatsächlich gewünscht ist; sei es im persönlichen Alltag oder im Hinblick auf gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimawandel, Datenschutz und Bewahrung demokratischer Institutionen. So stellt sich die Frage: Wie kann die Digitalisierung behilflich sein, um einige brennende Herausforderungen der anderen Megatrends zu lösen? Die Verheißungen aus dem Silicon Valley wecken den Eindruck, dass dort sowohl Software-Programmierer/innen als auch Venture-Kapitalist/innen in erster Linie antreten, um die Welt zu retten. Doch Zweifel sind angebracht. Beispiel Megatrend Gender Shift: Braucht es wirklich mehr Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) um Gleichberechtigung von Geschlechtern zu erzielen? Hm, fraglich, ob die Männer aus dem Silicon Valley – von Mark Zuckerberg über Elon Musk und Peter Thiel bis zu den Heerscharen der meist männlichen Programmierer-Szene – dies wirklich ganz oben auf ihrer Agenda stehen haben. Oder Megatrend Überalterung: Sind sensorische Teppiche („wenn Oma fällt, kommt der Notdienst“) oder Roboter-Pflegeassistenten Teil der Lösung – oder werden sie eher Teil der Probleme wie zunehmende Vereinsamung oder soziale Exklusion werden, mit denen unsere Gesellschaft beim Thema Überalterung zu ringen hat?

Ein normativer Trend: Smarte grüne Welt oder digitale Wachstumsökonomie?

Richtig spannend wird es schließlich beim Megatrend Klimawandel. Offensichtlich eröffnet die Digitalisierung unzählige neue Optionen, um die (Energie-) Effizienz zu steigern. Mittels digitaler Technologien können Energie, Ressourcen, aber auch Zeit und Kosten gespart werden. Nicht klar ist jedoch, ob am Ende netto die positiven Umwelteffekte überwiegen werden. Denn Effizienzsteigerungen können Energie und Emissionen pro einzelner Handlung einsparen. Aber in der Summe kann es zu Rebound-Effekten kommen, welche die Nachfrage ankurbeln und die Umweltbelastung weiter ansteigen lassen. Nicht von ungefähr wird die „Industrie 4.0“ als neues Wachstumsprogramm der Wirtschaft ausgerufen. Das kann zu einem Nullsummenspiel führen: Jede Wertschöpfungseinheit wird zwar ressourcenleichter, aber weil das allgemeine Wohlstandsniveau und die Nachfrage in der Summe steigen, werden die Einsparpotentiale wieder aufgefressen. Führt die Digitalisierung uns in eine smarte grüne Welt, in der alle vom technologischen Fortschritt profitieren und die Umwelt bewahrt wird? Oder steuern wir in eine digitale Wachstumsökonomie, in der jede/r „Smart Shopping“ mit gutem, grünen Gewissen betreibt und wir noch schneller an die planetaren Grenzen stoßen?

Auf der anderen Seite wird mithilfe digitaler Tools auch ein nachhaltiger Lebensstil immer einfacher. Wir können uns sprichwörtlich spielend über alternative Konsumweisen informieren – der Einkauf von Biolebensmitteln und nachhaltigen Textilien ist dank Online-Shopping nun auch an Wohnorten möglich, wo das bisher einen großen Aufwand bedeutete. In Städten kann man Optionen wie bspw. „Foodsharing“ voranbringen, um dem Verfall von Lebensmitteln entgegenzuwirken, kann per Carsharing herumkommen oder dank multimodal organisierter Verkehrs-Apps noch leichter den ÖPNV nutzen. Doch eins scheint klar: Dies alles wird kein Selbstläufer werden. Und wem es beim Thema Digitalisierung wirklich um Klima- und Umweltschutz geht, muss ehrlicherweise auch einrechnen, was an enormen Energie- und Ressourcenverbräuchen durch die IKT – wie Geräteinfrastruktur und Netzwerke – anfällt. Schon heute machen IKT beispielsweise ca. 11 % des weltweiten Strombedarfs aus, und dieser Wert könnte laut Studien bis 2030 auf 20 % oder gar 50 % steigen.

Fragen über Fragen also, die ein leichtfertiges Nachplappern der Parole, „Digitalisierung ist nun halt ein Megatrend, dem wir uns sowieso leider nicht entziehen können, also daher vollends Durchdigitalisieren, bitte!“ bestenfalls unangemessen, aber genau genommen als eher naiven Technikoptimismus erscheinen lassen. Gegenüber anderen Megatrends wie Klimawandel, Überalterung oder Urbanisierung erscheinen die vielfältigen Prozesse der Digitalisierung weitaus einfacher gestaltbar, sowohl individuell, wie auch gesellschaftlich und politisch. Denn anders als beim Klimawandel erfordert dies nicht, die Weltgemeinschaft auf mühsamen multilateralen Konferenzen zu einigen; anders als beim Megatrend Globalisierung haben Regierungen bei Gesetzesvorlagen heute noch nicht die volle Übermacht des wirtschaftlichen Kapitals ante portas; und anderes als beim Thema Urbanisierung spielt sich Digitalisierung nicht in fernen Regionen des globalen Südens ab, sondern jetzt und heute hier bei uns. Vielleicht sollte daher nicht von einem Megatrend gesprochen werden, sondern eher von einer Mega-Aufgabe?

Mehr Informationen unter: www.nachhaltige-digitalisierung.de

Dr. Tilman Santarius forscht und publiziert zu den Themen Klimapolitik, Handelspolitik, nachhaltiges Wirtschaften und globale Gerechtigkeit. Seit 2016 leitet er eine Nachwuchs-Forschungsgruppe zum Thema “Digitalisierung und Nachhaltigkeit” an der Technischen Universität Berlin und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Von 2007 bis 2016 war er ehrenamtlich als Vorstand bei Germanwatch e.V. aktiv. Seit 2016 ist Tilman Santarius im Aufsichtsrat von Greenpeace engagiert. Er ist Mitautor mehrerer Bücher und hat zahlreiche Artikel zu internationaler Klimapolitik, Handelspolitik, Globalisierung und Gerechtigkeit veröffentlicht (mehr unter: www.santarius.de).

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