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Zur Legitimität des Fliegens

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Eine Diskurserweiterung der Flugscham-Debatte

Einleitung

Fliegen ist die klimaschädlichste Art zu reisen. Gleichwohl ist das Flugpassagieraufkommen in Deutschland parallel zur globalen Entwicklung der Passagierzahlen stark gewachsen – und mit ihm die klimarelevanten Emissionen. Und wie die Prognosen für die kommenden Jahrzehnte zeigen, ist auch weiterhin mit einer Zunahme der Passagierzahlen und der Emissionen zu rechnen (Bopst et al. 2019, 21ff., 29). Doch nun meldete der deutsche Flughafenverband ADV einen regelrechten Einbruch bei den Inlandsflügen.[1] Was ist passiert? Während der Verband selbst vor allem Streiks und die Streichung von Flugstrecken hierfür verantwortlich macht, führen andere auch die Debatte um Flugscham als eine plausible Begründung an.[2] Schließlich ist dieses Phänomen auch zuvor schon aufgetreten – in Schweden, dem Herkunftsland der flygskam und Greta Thunbergs, die diesem Thema durch ihre medienwirksamen Zug- und Segelreisen zu großer Popularität verhalf. Führt Flugscham also dazu, dass auch in Deutschland Reisende ihr Flugverhalten überdenken?

Mit dieser und weiteren Fragen starteten wir im Frühjahr 2019 unser kleines Forschungsprojekt, in dem wir untersuchen wollten, wie der Flugscham-Diskurs hierzulande rezipiert und reflektiert wird und inwiefern er das Potential besitzt, individuelle Verhaltensänderungen herbeizuführen. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnten, war, wie stark dieses Thema schon kurz darauf den öffentlichen und politischen Diskurs beherrschen sollte. Wusste in der ersten Jahreshälfte noch kaum jemand etwas mit dem Begriff Flugscham anzufangen, schien es in der zweiten Jahreshälfte fast so, als sei er in aller Munde. Ein Minister warnte gar eindringlich davor, Flugscham zu fördern und ein Flughafenchef berichtete von hohem Blutdruck, den er bekomme, wenn er nur davon höre. Auch in vielen Familien- und Freundeskreisen war das Für und Wider von Flugreisen plötzlich ein vieldiskutiertes Thema. In den Medien konnte man beinahe täglich darüber lesen. Als handle es sich dabei um eine Art Seuche, berichteten sie davon, wie die Flugscham neuerdings „um sich greift“ (DW, FAZ), „Reisende befällt“ (Spiegel Online), „einen packt“ (ZEIT, taz), „grassiert“ (FAZ) und „Teile des Landes erfasst“ (Spiegel Online). Für uns bot sich dadurch Anlass und Gelegenheit, den Diskurs – soweit uns dies mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln möglich war – systematisch zu beobachten und tiefergehend zu analysieren. In diesem Beitrag möchten wir unsere Ergebnisse, Hypothesen und Schlussfolgerungen vor- und zur Diskussion stellen.

Aufbau und Methodik

Zur Beantwortung der oben genannten Forschungsfragen haben wir vier unterschiedliche Zugänge in das Diskursfeld gewählt, um empirisch begründete Erkenntnisse zu erlangen. Neben einer Analyse aktueller Daten zum Luftverkehr führten wir eine Medienanalyse online verfügbarer Zeitungsartikel, qualitative Interviews und eine datengestützte Twitter-Analyse durch.

Für die Medienanalyse sammelten wir insgesamt 212 Artikel, die sich direkt oder indirekt mit dem Thema Flugscham beschäftigten, und werteten diese anschließend inhaltsanalytisch aus. Die Artikel stammten überwiegend aus den Online-Leitmedien FAZ, Spiegel Online, SZ Online, taz, Welt und Zeit. Um den Diskurs auch in den sozialen Medien zu erfassen, analysierten wir zudem, wie das Thema Flugscham auf Twitter diskutiert wurde. Dafür werteten wir sowohl quantitativ als auch qualitativ mehr als 8000 relevante Tweets, Retweets und Replys aus. Unser dritter empirischer Zugang in das Diskursfeld erfolgte schließlich durch 20 leitfadengestützte Interviews, die wir in der Frankfurter Innenstadt durchführten und u.a. individuelle Einstellungen zum Reisen und zur Verkehrsmittelwahl, Häufigkeit von Flugreisen und Dienstreisen sowie Wahrnehmung und Wirkung der Flugscham-Debatte abfragten.

Die unterschiedlichen Datenerhebungen und -analysen repräsentieren eine jeweils andere Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand und brachten verschiedene, aber komplementäre Ergebnisse zutage. Nachdem wir die Perspektiven zunächst einzeln ausgewertet hatten, bezogen wir alle unsere Ergebnisse kritisch aufeinander, was uns ein vollständigeres Bild des Diskurskomplexes verschaffte. Auf diese Weise kamen wir so schließlich zu unseren Schlussfolgerungen und Hypothesen, die wir am Ende dieses Kurzberichts zur Diskussion stellen.

Ergebnisse

Entwicklung der Fluggastzahlen

Im Jahr 2018 gab es 223 Millionen Fluggäste an deutschen Flughäfen (DFS 2019: 14). Dabei ist ihre Zahl seit Jahren kontinuierlich gewachsen – zwischen 2009 und 2017 um etwa ein Drittel. Vor allem im internationalen Flugverkehr ist ein Wachstum der Passagierzahlen zu beobachten (Abbildung 1). Das Personenverkehrsaufkommen im Luftinlandsverkehr stagniert dagegen oder geht in den letzten Jahren sogar leicht zurück. Das Maximum im Jahr 2011 von 24,4 Mio. innerdeutsch fliegenden Passagieren wurde in den Folgejahren nicht noch einmal erreicht. In Anbetracht der steigenden Fahrgastzahlen im Schienenfernverkehr handelt es sich hier um eine klare Entkopplung der Entwicklung des innerdeutschen Flugpassagieraufkommens und dem vorherrschenden Wachstumstrend im innerdeutschen Personenfernverkehr insgesamt.

Abbildung 1: Entwicklung des Personenfernverkehrsaufkommens in Deutschland, eigene Darstellung, Daten: Verkehr in Zahlen (2019: 217), https://www.adv.aero/wp-content/uploads/2015/11/12.2019-ADV-Monatsstatistik.pdf (letzter Zugriff: 21.02.2020)

Für ein differenzierteres Verständnis dieser Entkopplung empfiehlt es sich, die sich ändernden Fluggastzahlen auch getrennt nach Privat- und Geschäftsreisen zu analysieren. Der Anteil von Geschäftsreisen ist im innerdeutschen Flugverkehr deutlich größer als bei den Auslandsreisen, bei denen der überwiegende Teil längere Urlaubsreisen ausmacht (Schmücker et al. 2019, 26ff.). Bei 8 % der Übernachtungsgeschäftsreisen innerhalb der Landesgrenzen ist das Flugzeug das Transportmittel der Wahl. Hinzu kommen noch jene Dienstreisen, die ohne eine Übernachtung stattfinden. Einschließlich der Reisen ins Ausland wird das Flugzeug bei den dienstlichen Übernachtungsreisen zu 19 % genutzt (Sonntag et al. 2019). Inwiefern der gegenwärtige Rückgang im innerdeutschen Flugpassagieraufkommen auch von einer veränderten Mobilität bei den Geschäftsreisen beeinflusst ist, müsste allerdings noch geprüft werden. Entsprechende Zahlen hierfür lagen zum aktuellen Zeitpunkt nicht vor.

Scham und Beschämung

Inwiefern Flugscham eine Rolle bei den sich ändernden Fluggastzahlen spielt, d.h. die Entscheidung beeinflusst, das Flugzeug (nicht) zu nutzen, ist eine Frage, die sich schwerlich aus Statistiken ableiten lässt. Aus diesem Grund wählten wir die bereits erwähnten unterschiedlichen Erhebungszugänge, um besser nachvollziehen zu können, wie der Flugscham-Diskurs und die Klimabelastung durch das Fliegen insgesamt in den Medien und der Bevölkerung diskutiert werden.

Für die von uns untersuchten Onlinemedien ist für den Untersuchungszeitraum April bis August 2019 festzustellen, dass der mediale Diskurs über die klimaschädliche Wirkung des Fliegens deutlich zugenommen hat. Flugscham war ein wichtiger Teil dieses Diskurses und hat höchstwahrscheinlich auch zu dessen breiter Rezeption in der Gesellschaft beigetragen. Allerdings kommt der Begriff nicht in allen untersuchten Artikeln vor; offensichtlich konnte auch über das Fliegen und seine Folgen für das Klima diskutiert werden, ohne den Begriff Flugscham zu verwenden. Vieles deutet allerdings darauf hin, dass er auf das ohnehin kontrovers diskutierte Thema katalytisch wirkt und den Diskurs insbesondere auf der emotionalen Ebene verstärkt. Zu beobachten war dies nicht nur in den untersuchten Medienartikeln, sondern ebenso in den Interviews und auf Twitter.

In allen Datenformaten erfolgte die Rezeption des Begriffs in zweierlei Hinsicht und Bedeutung: als selbstreflexives Sich-Schämen und als transitives Beschämen.[3] Während die Medien beide Formen relativ ausgewogen diskutierten, wurde in den von uns durchgeführten Interviews deutlich, dass die Befragten den Begriff vorwiegend auf sich selbst bezogen. Sehr wenige thematisierten das Flugverhalten anderer und bezeichneten es als unangemessen – ein Phänomen, das bei Twitter wiederum häufiger zu beobachten war. Bekenntnisse zur eigenen Flugscham waren selten, es überwog bei allen Datenformaten die Kritik am Begriff bis hin zu seiner Ablehnung.

Reisedistanz, -zweck und -häufigkeit

Inhaltlich bezog sich die mediale Debatte zu Flugscham vorwiegend auf die Reisedistanz und den Zweck einer Flugreise. Deren Häufigkeit war hingegen ein weniger präsenter Aspekt. So wurde beispielsweise Flugscham oft im Zusammenhang mit häufigen Shoppingtrips diskutiert, während regelmäßige Dienstreisen mit dem Flugzeug eher als unvermeidbar dargestellt wurden. Im Zusammenhang mit Dienstreisen kam Flugscham häufiger dann zur Sprache, wenn es um Kurzstrecken und Inlandsflüge ging. Gleichzeitig wurde in den meisten Artikeln die Ansicht vertreten, dass dienstliche Flugreisen unter der Bedingung gerechtfertigt seien, dass es aus zeitlichen oder organisatorischen Gründen keine Alternative gibt. Bei privaten Flugreisen wurde Flugscham vor allem für Langstreckenflüge thematisiert. Allerdings wurden auch hier vereinzelt ausdrücklich Ausnahmen benannt, etwa beim „verdienten Jahresurlaub“ einschließlich kurzer Zubringerflüge.

In Bezug auf die Häufigkeit einer Flugreise war außerdem über alle Datenformate hinweg festzustellen, dass zwar oft vom Vielfliegen die Rede ist, eine Quantifizierung und damit Definition des Begriffs jedoch nicht vorgenommen wird. Ab wann man als Vielfliegerin oder Vielflieger gilt, bleibt unklar. Auch in den Interviews war auffällig, dass der Begriff individuell sehr unterschiedlich verwendet wird und häufiger als Fremdbeschreibung auftritt, denn als Selbstzuschreibung – selbst dann, wenn mehrmals pro Jahr geflogen wird. Vielflieger*innen? Das sind offenbar eher die anderen.

Ein weiterer interessanter Zusammenhang in Bezug auf die Flughäufigkeit zeigte sich bei der Auswertung der Interviews: Befragte, die das Flugzeug häufiger aus beruflichen Gründen nutzten, schienen sich auch privat öfter dafür zu entscheiden. Nun bedeutet das freilich nicht, dass hier ein direkter Zusammenhang vorliegt. Die Frage, inwiefern das Dienstreiseverhalten das private beeinflusst, erscheint uns aber für diskussionswürdig, gerade auch in Bezug auf den Handlungsspielraum, wie er im folgenden Abschnitt diskutiert wird.

Große Einigkeit herrschte in der medialen Debatte darüber, dass der Besuch von Freund*innen und Verwandten ein legitimer Zweck einer Flugreise ist – zumindest dann, wenn eine Bahnfahrt aus zeitlichen oder organisatorischen Gründen nicht möglich ist.

Die Wahl eines alternativen Reise- und Urlaubsziels, z. B. an die Ostsee statt nach Mallorca, wurde in einzelnen Medienartikeln zwar diskutiert, allerdings nicht vordergründig. Hauptsächlich ging es in der medialen Debatte und den Interviews um die Wahl alternativer Verkehrsmittel und weniger um die Entscheidung für oder gegen eine Destination. Die Bahn galt gegenüber dem Flugzeug als die geeignetste Transportalternative innerhalb Deutschlands und – mit Verweis auf ein bestehendes und potenzielles Nachtzugangebot – auch innerhalb Europas für größere Distanzen.

Unsere Analyse der medialen Diskussion zu Flugscham und der Klimawirksamkeit des Fliegens haben wir schließlich grafisch aufbereitet. Das nachfolgende „Flowchart mit Augenzwinkern“ (Abbildung 2) bildet die zugespitzte Zusammenfassung der medial vorherrschenden Diskursstränge, Differenzierungen und Argumentationsmuster hinsichtlich der Frage ab, wann ein Flug als legitim erachtet wurde und wann man sich dafür schämen sollte. Auch wenn mit dem Flowchart kein normativer Anspruch verbunden ist – es sollte ebenso kritisch gelesen werden wie die Medienartikel, auf denen es basiert – bietet es eine hilfreiche Orientierung in der Auseinandersetzung mit der Thematik. Es ist also weniger als eine abschließende Zusammenfassung des Diskussionsstands gedacht, sondern soll vielmehr dazu anregen, die Diskussion weiter fortzuführen.

Abbildung 2: „Flowchart mit Augenzwinkern“ – Wann muss ich mich fürs Fliegen schämen?

Handlungsspielräume

In den untersuchten Medienartikeln wurde der größte Handlungsspielraum zur Reduktion der klimarelevanten Wirkungen des Fliegens den politischen Akteuren als regulierende Instanz zugeschrieben. Als zentrale politische Lösungsansätze wurden eine Stärkung des Bahnverkehrs (höhere Attraktivität und günstigere Ticketpreise [4]) sowie eine Verteuerung des Fliegens diskutiert (höhere Besteuerung und mehr Abgaben). Soziale Gerechtigkeit wurde als Argument vereinzelt bei der Frage eingebracht, ob Fliegen teurer werden sollte. Preissenkungen im Bahnverkehr wurden vor allem als Maßnahmen angeführt, mit der die Konkurrenzfähigkeit des Schienenverkehrs gegenüber dem Flugverkehr verbessert werden sollte. In einigen Artikeln wurde argumentiert, dass ein günstigerer Bahnverkehr geeignet ist, um die sozialen Folgen von höheren Flugpreisen abzufangen.

Der individuelle Handlungsspielraum von (öffentlichen) Arbeitgebern und insbesondere von Privatpersonen wurde in den Medien differenziert ausgelotet. Unter anderem wurde eine Änderung der unternehmensinternen Reisedirektiven angeführt. Die Einflussmöglichkeiten von einzelnen Arbeitgebern und Privatpersonen wurden in Bezug auf die Senkung globaler Emissionen jedoch auch in Frage gestellt.

Als weiterer Akteur mit Handlungsspielraum zur Reduzierung der Klimawirksamkeit des Flugverkehrs wurde schließlich, wenn auch selten, die Luftfahrtbranche diskutiert. Hier wurde in den untersuchten Medienartikeln vor allem die Möglichkeit der Effizienzsteigerung bei Treibstoffverbrauch und die Reduktion von CO2-Emissionen z. B. durch alternative Kraftstoffe thematisiert, was außerhalb der Branche jedoch nicht als besonders wirkungsvoll bewertet wurde.

Ökologisches Bewusstsein

In den qualitativen Interviews hat uns auch interessiert, wie Flugscham individuell reflektiert und bewertet wird. Dabei stellten wir fest, dass der Begriff eher bei den Befragten bekannt war, die ohnehin wenig fliegen. Sie äußerten sich auch selbstkritischer in Bezug auf ihr eigenes Flugverhalten. Einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Fliegens und der Bewertung von Flugscham war hingegen nicht auszumachen. Zum Beispiel wurde der Begriff auch von einigen Befragten kategorisch abgelehnt, die nur einmal jährlich in den Urlaub fliegen. Generell wurden die eigenen Urlaubsflugreisen als so unverzichtbar eingeschätzt, dass dabei auch die negativen Auswirkungen des eigenen Handelns in Kauf genommen werden. Selbst bei Befragten mit hohem ökologischem Bewusstsein wurden auch mehrere Flüge pro Jahr nicht als Widerspruch zu den eigenen Überzeugungen wahr- sondern vielmehr billigend in Kauf genommen. Dies entspricht auch den jüngsten Erkenntnissen aus der Reiseforschung, wonach es bei Urlaubsflugreisen in der Regel „zu einer Art selbst erteilter Ausnahmegenehmigung von der ansonsten geübten Nachhaltigkeitsdisziplin“ kommt (vgl. Schmücker et al. 2019, S. 8). Oder anders ausgedrückt: Bei Urlaubsreisen macht gerne auch der Klimaschutz Urlaub.[5]

In Bezug auf die soziodemographischen Variablen Alter und Geschlecht konnten wir keinen klaren Zusammenhang zum Flugverhalten oder zur Haltung und Bewertung gegenüber Flugscham feststellen. So konnte sich beispielsweise unsere Vorab-Hypothese nicht bestätigen, dass Jüngere eher das Flugverhalten anderer beschämen als Ältere.

Verhaltensänderung

Während wir bei unserer Interviewbefragung keine klaren Belege dafür finden konnten, dass die Interviewten ihr Flugreiseverhalten aufgrund von Flugscham veränderten oder beabsichtigten dies zu tun, gab es in der zweiten Jahreshälfte 2019, wie einleitend bereits festgestellt, einen regelrechten Einbruch des Gesamtpassagierverkehrs an deutschen Flughäfen.[6] Vor dem Hintergrund der dargestellten Erkenntnisse kann die Debatte um Flugscham wahrscheinlich zumindest für einen Teil dieses Rückgangs verantwortlich gemacht werden, da sie dazu beigetragen hat, dass bestehende Mobilitätsroutinen hinterfragt wurden und ein breites gesellschaftliches Bewusstsein in Bezug auf die Klimawirksamkeit des Fliegens entstand.

Dass Flugscham aber nicht nur in einem kollektiven Flugverzicht münden muss, sondern gewissermaßen auch mitfliegen kann, zeigen darüber hinaus die stark gestiegenen Kompensationszahlungen bei Anbietern wie Atmosfair, die eine andere Auswirkung der Flugschamdebatte verdeutlichen.[7] Das gewachsene Interesse an einer Kompensation von Flügen spiegelt sich auch in einem entsprechenden Suchverhalten bei Google wider. Wie in Abbildung 3 dargestellt ist, erreichte dieses Suchinteresse zwischen Mai und September 2019, also in etwa dem Untersuchungszeitraum der Medienanalyse, seinen vorläufigen Höhepunkt.[8]

Abbildung 3: Google Trends – Suchinteresse im zeitlichen Verlauf (eigene Zusammenstellung nach https://trends.google.de)

Da die Passagierentwicklungen bei In- und Auslandsflügen bereits seit vielen Jahren stark voneinander entkoppelt sind, liegt nun die Schlussfolgerung nahe, dass die Flugscham-Debatte bei den Inlandsflügen sozusagen auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Ein Blick in die letzten Climate Change Reports der Europäischen Kommission können diese These bekräftigen: Fast jede vierte Person in Deutschland gab dort zuletzt an, auf Kurzstreckenflüge zu verzichten. Im EU-Durchschnitt gilt dies für nur etwa jede zehnte Person. Spitzenreiter ist hier übrigens Schweden, das Ursprungsland der Flugscham, wo fast jede dritte Person angab, im Inland auf das Flugzeug zu verzichten (Europäische Kommission 2017).

Dass eine solche Anpassung des privaten Reiseverhaltens als eine bewusste Klimaschutzmaßnahme verstanden werden kann, darauf deutet auch eine kürzlich veröffentlichte repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstitut Ipsos hin, die im Oktober und November 2019 durchgeführt wurde. 41 % der befragten Deutschen – und damit im weltweiten Vergleich ebenfalls deutlich über dem Durchschnitt – gaben dort an, ihr Reiseverhalten insgesamt geändert zu haben, um das Klima zu schützen.[9]

Schlussfolgerungen und Hypothesen

Die Flugschamdebatte ist im Kern nicht nur eine Diskussion über die Klimawirkungen des Fliegens, sondern auch darüber, inwiefern es legitim und moralisch vertretbar ist, trotz dieser bekannten Klimawirkungen zu fliegen. In ihr geht es nicht nur um „harte“ Faktoren wie die Treibhausgasentwicklung im Flugsektor, sondern auch um „weiche“ Faktoren wie soziale und ökologische Normen und Werte. Wie über alle untersuchten Datenquellen hinweg festzustellen war, steht in dieser Debatte weniger eine subjektive Norm im Vordergrund, sondern eine soziale Norm, die – und das ist das Entscheidende – derzeit neu ausgehandelt wird. Wann, wie oft, wozu und von wem ein Flug unter welchen Bedingungen gerechtfertigt ist, sind Fragen, die aus dieser diskursiven Auseinandersetzung in den (sozialen) Medien, in vielen Familien, Partnerschaften, Freundeskreisen und auch Unternehmen hervorgegangen sind und für die noch nicht überall eine Antwort gefunden wurde. Dass die öffentliche Diskussion über das Fliegen und seine Folgen auch in konkrete politische Maßnahmen münden kann, zeigt im Januar 2020 die Anpassung des Bundesreisekostengesetzes im Rahmen des „Klimaschutzprogramms 2030“, wonach ab sofort neben einem möglichst günstigen Preis für eine Dienstreise auch „umweltbezogene Aspekte“ ein entscheidendes Kriterium bei der Wahl des Verkehrsmittels sein soll.[10] Die dadurch anfallenden höheren Kosten für Bahnreisen und zusätzliche Übernachtungen werden fortan erstattet. Im selben Klimaschutzprogramm wurde auch die Mehrwertsteuersenkung beschlossen, die Fernreisen mit der Bahn im Verkehrsmittelvergleich deutlich günstiger gemacht hat und damit möglicherweise bereits eine erste Lenkungswirkung erzielen konnte.[11] Insgesamt nehmen wir an, dass die Debatte um Flugscham – trotz oder auch wegen der negativen Konnotation des Begriffs, insbesondere in seiner shaming-Bedeutung – einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, das Thema Klimawirksamkeit des Fliegens stärker im öffentlichen Diskurs zu verankern. Auf der Grundlage der von uns untersuchten Daten halten wir es für plausibel, dass die sich abzeichnenden Veränderungen im innerdeutschen Reiseverhalten zumindest in Teilen hierauf zurückgeführt werden können. Dies muss allerdings auch vor dem Hintergrund bestehender Trends gedeutet werden, die diese Veränderungen ermöglicht und begünstigt haben.

Aus der Synthese unserer Forschungsergebnisse haben wir schließlich folgende Hypothesen abgeleitet, deren Überprüfung wir für eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der öffentlichen und privaten Rezeption und Reflexion der Klimawirksamkeit des Fliegens als lohnend erachten. Analog zu unserem Flowchart sollen sie dazu anregen, die Diskussion weiterzuführen und zu erweitern:

  • Das Reisen mit dem Flugzeug verliert insgesamt an Statussymbolik. Je kürzer die zurückgelegte Distanz ist, desto stärker ist dies der Fall.
  • Ob sich eine individuelle Flugscham entwickelt, hängt vor allem von der Selbsteinschätzung ab, ob „zu viel“ geflogen wird. Der öffentliche Diskurs, die Kenntnis der Klimafolgen sowie die Beschämung durch andere haben hierauf Einfluss.
  • Eine soziale Normierung der Flughäufigkeit wird derzeit neu ausgehandelt – innerhalb der jeweiligen Milieus, aber auch gesamtgesellschaftlich.
  • Sowohl für private als auch dienstliche Flugreisen nimmt der Rechtfertigungsdruck zu, insbesondere in Bezug auf den Zweck einer Reise.
  • Es gibt einen Spillover-Effekt von dienstlichen auf private Flugreisen, da routinierte Dienstreisen die Bedenken und Hemmnisse zu fliegen insgesamt senken. Die Regulierung von Dienstreisen mit dem Flugzeug nimmt daher auch Einfluss auf private Flugreisen.
  • Sich verändernde Rahmenbedingungen und eine Zunahme des Verzichts im Flugreiseverkehr insgesamt bewirken, dass die Luftfahrt- und Tourismusindustrie stärker unter Druck geraten. Eine Zunahme von Anpassungsstrategien, z. B. im Marketing von nachhaltigem Reisen, ist zu erwarten.
  • Die Flugscham-Debatte hat zu einer höheren Akzeptanz von politischen Maßnahmen zur Regulierung von Flügen geführt (z. B. die Einführung einer Kerosinsteuer oder ein Verbot besonders kurzer Flugstrecken).

 

Eine ausführliche Version dieses Artikels mit zusätzlichen Informationen zu den jeweiligen Erhebungs- und Auswertungsschritten, Zwischenergebnissen und weiterführenden Quellen stellt die 58. Ausgabe der „ISOE-Materialien Soziale Ökologie“ dar (Friedrich et al. 2020).

 

[1] https://www.welt.de/wirtschaft/article204450242/Klimaschutz-Die-Flugscham-erreicht-Deutschland.html

[2] https://www.bbc.com/worklife/article/20200128-why-germans-are-flying-less

[3] Im deutschen Sprachgebrauch hat sich mittlerweile auch der englische Begriff shaming etabliert (z. B. Online Shaming oder Body Shaming).

[4] An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Medienanalyse für einen Zeitraum durchgeführt wurde, der vor dem Beschluss des „Klimaschutzprogramms 2030“ und der damit veranlassten Mehrwertsteuersenkung auf Fernreisen bei der Deutschen Bahn lag, die seit Januar 2020 wirksam ist. Wir nehmen an, dass diese Stärkung des Bahnverkehrs auch als eine Folge der Flugscham-Debatte gewertet werden kann.

[5] Dass in den umweltorientierten Gruppen und Milieus die Verkehrsmittelwahl und insbesondere das Fliegen wenig an Nachhaltigkeit ausgerichtet ist, zeigten bereits Götz et al. (2003).

[6] Neben dem stärksten Rückgang bei den innerdeutschen Flügen schließt dies auch den europäischen Flugverkehr ein. Einzig der interkontinentale Flugverkehr wächst weiterhin. (https://www.adv.aero/aktuelle-verkehrszahlen)

[7] https://www.atmosfair.de/de/ueber_uns/jahresberichte/

[8] Eine Auffälligkeit, die sich neben der Google-Trend-Analyse auch bei der Analyse der Hashtags im Rahmen der Twitter-Analyse in Bezug auf den Begriff Flugscham zeigt, ist im Übrigen die Ost-West-Differenzierung, wonach das relative Interesse an dem Thema in Ostdeutschland deutlich geringer zu sein scheint.

[9] https://www.ipsos.com/de-de/die-rettung-des-planeten-beginnt-zu-hause

[10] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/nachrichten/rundschreiben-bahnnutzung.pdf?__blob=publicationFile&v=3

[11] https://www.welt.de/print/die_welt/wirtschaft/article205637259/Ansturm-auf-Fernzug-Tickets.html

 

Literaturverzeichnis

Bopst, Juliane; Herbener, Reinhard; Hölzer-Schopohl, Olaf; Lindmaier, Jörn; Myck, Thomas; Weiß, Jan (2019): Umweltschonender Luftverkehr. lokal – national – international. Hg. v. Umweltbundesamt (UBA). Dessau-Roßlau.

Europäische Kommission (Hg.) (2017): Special Eurobarometer 459. Climate Change. Wave EB87.1.

Friedrich, Thomas; Matthes, Gesa; Theiler, Lena; Stein, Melina; Joost, Jan-Marc; Drees, Lukas; Raschewski, Luca (2020): Zur Legitimität des Fliegens: Eine Diskurserweiterung der Flugscham-Debatte. Langversion. ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung. Frankfurt am Main (ISOE-Materialien Soziale Ökologie, 58). Online verfügbar unter http://www.isoe-publikationen.de/publikationen/isoe-reihen/isoe-materialien-soziale-oekologie/.

Götz, Konrad; Loose, Willi; Schmied, Martin; Schubert, Steffi (2003): Mobilitätsstile in der Freizeit. Minderung der Umweltbelastungen des Freizeit- und Tourismusverkehrs. Erich Schmidt Verlag. Berlin.

Schmücker, Dirk; Sonntag, Ulf; Günther, Wolfgang (2019): Nachhaltige Urlaubsreisen: Bewusstseins- und Nachfrageentwicklung. Grundlagenstudie auf Basis von Daten der Reiseanalyse 2019. Hg. v. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU).

Sonntag, Ulf; Schmücker, Dirk; Eisenstein, Bernd (2019): RA Reiseanalyse Business. Erste Ergebnisse zu den Übernachtungsgeschäftsreisen der Deutschen 2019. Hg. v. Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V. (FUR).

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