Unser Verständnis von Zeit ist geprägt durch ein industrialisiertes Zeitregime, welches fast einen naturwissenschaftlichen Charakter hat. Unser Umgang mit Zeit wird in unserer Gesellschaft nicht mehr als etwas künstlich Geschaffenes verstanden, welches gesellschaftlich veränderbar und gestaltbar ist. Probleme wie Zeitknappheit, Zeitverteilung oder Beschleunigung erscheinen dadurch als rein individuelle Probleme.
Ein gesellschaftliches Konfliktfeld
Zeitwohlstand geht jedoch über diese individuelle Dimension hinaus und ist eng mit den Problemen unserer Gesellschaft verknüpft. Während das Thema Zeit im feministischen und gewerkschaftlichen Diskurs schon immer als gesellschaftliches Konfliktfeld erkannt wurde, wird Zeitwohlstand über die Postwachstumsdebatte nun auch innerhalb des Ökologiediskurses wieder zu einem zentralen Thema. Gerade die Debatten um das Gute Leben und die Große Transformation greifen Zeit als einen wesentlichen Aspekt von Wohlstand auf.
In unserer Ökonomie ist diese Ressource jedoch zu einem knappen Gut geworden. Es fehlt eine moderne Version Ludwig Erhards, die „Zeitwohlstand für alle“ einfordert. Doch was heißt das überhaupt? Die Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung (VÖW) beschäftigte sich auf ihrer diesjährigen Sommerakademie mit dieser Frage. Einige der dort erfolgten Denkanstöße finden sich im Themenschwerpunkt der aktuellen Ausgabe von „ÖkologischesWirtschaften“ über Zeitwohlstand wieder.
Wettbewerbsgesellschaft
Wettbewerb ist zum bestimmenden Treiber gesellschaftlicher Entwicklung geworden und beschleunigt das Lebenstempo. Dabei kommt es zur Herausbildung fiktiver Waren wie Arbeit und Natur. Die menschliche Existenz wird in Abhängigkeit des Arbeitsmarktes gestellt, ob nun direkt über den Verkauf der eigenen Arbeitskraft oder indirekt über ein Sozialstaatssystem, welches die Kommodifizierung der Arbeit forciert und dessen Finanzierung vom Arbeitsmarkt abhängt. Hierdurch entsteht eine Spirale der Beschleunigung.
Suffizienz
Die Gewohnheit und der Zwang ständig zu konsumieren – sei dies durch sogenannten „Statuskonsum“ oder schlicht durch den Mangel an konsumfreien öffentlichen Räumen – führen zu einem „Work-and-Spend-Cycle“. Mehr auf Zeitwohlstand als auf materiellen Wohlstand zu setzen, könnte hier einen Ausweg bedeuten: Wenn weniger an Zeitarmut gelitten wird, könnte der Drang, durch Konsum eine Kompensation zur häufig entfremdeten Erwerbsarbeit zu schaffen, gesenkt werden. An diese Stelle tritt ein Zugewinn an freier Zeit.
Gute Arbeit
Durch eine Verkürzung der Arbeitszeit kann mehr freie Zeit entstehen. Aber Zeitwohlstand hat in Zusammenhang mit Arbeit auch eine qualitative Dimension: die Durchsetzung von „Guter Arbeit“ im Sinne von Zeitsouveränität, gekennzeichnet durch Entschleunigung, mehr Mitbestimmung über Zeiträume und Arbeitsmengen, Anpassung des Arbeitslebens an die Bedürfnisse der Arbeitenden. Die Dichotomie aus Arbeitszeit und Freizeit bleibt dabei zwar erhalten, die Trennung zwischen dem Reich der Freiheit und dem Reich der Notwendigkeit wird jedoch aufgehoben.
Zeitgerechtigkeit durch soziale Sicherung
Verfügbare Zeit kann jedoch nur Zeitwohlstand erzeugen, wenn Existenzängste beseitigt und Grundbedürfnisse befriedigt sind. Soziale Absicherung ist daher eine Grundvoraussetzung für Zeitwohlstand. Um diesen für alle zu ermöglichen und nicht nur als Privileg für jene, die es sich zufällig „leisten“ können, muss es auch materielle Umverteilung geben und in diesem Sinne mehr Zeitgerechtigkeit geschaffen werden.
Zeitwohlstand für alle!
„Zeitwohlstand für alle!“ ist mehr als nur ein neuer Slogan für die Erstreitung der 30-Stunden-Woche. Es ist die Aufforderung an unser Wohlfahrtssystem eine neue Perspektive auf Ungleichheiten und Wohlstand einzunehmen. „Zeitwohlstand für alle!“ ist eine Aufforderung an die Wirtschaft zu ihrem Kerngeschäft, Knappheiten zu beseitigen, zurückzukehren und anzuerkennen, dass frei zur Verfügung stehende Zeit zu unserem knappsten Gut geworden ist. Es ist eine Aufforderung an Unternehmen die Effizienzrevolution in Frage zu stellen und sich an neuen gesellschaftlichen Zielen zu orientieren. „Zeitwohlstand für alle!“ ist eine Aufforderung an uns alle, Wohlstand neu zu denken.
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[…] jenseits von materiellem Besitz und wachsendem Einkommen. Dabei scheint das Konzept des „Zeitwohlstands“ auf ein besonders breites Interesse zu […]
Zeitwohlstand für alle.
Was ist ein industrialisiertes Zeitregime“? Sind es z.B. die Taktzeiten der Fließbänder? Die lassen sich durchaus länger, langsamer einstellen. Wer verkürzt sie? Die industrielle Technik oder -wie oft behauptet- die globale Konnkurrenz, die ständig Unterbietung erfordert, und Investitionen in noch mehr Unterbietung? Warum? Um Arbeitsplätze zu sichern, indem andere Arbeitsplätze unsicher werden. Was ist der Maßstab für diese Sicherheit bzw. Unsicherheit? Man kann es blumig Verlustvermeidung nennen oder Profitmaximierung. Unter dem Strich bleibt, dass Arbeitsplatz umso sicherer ist, umso mehr er abwirft. Dieses MEHR ist Privatbesitz, allerdings nicht des Arbeitskraftverkäufers.
Ludwig Erhard hat „Wohlstand für alle“ postuliert und versprochen, u.a. durch „Maßhalten“ bei den Löhnen. Hat er sein Versprechen gehalten? Oder hatten die Wirtschaftswunderlöhne mehr mit Knappheit bei den Arbeitskraftverkäufern zu tun? Einst konnte ich eine Lohnerhöhung bekommen mit der Andeutung der Kündigung. Die Zeiten sind bis auf ganz wenige Ausnahmen gründlich vorbei. Die „Arbeitgeber“ erinnern sich noch dran und wollen lieber einen Überschuss an Arbeitskraftverkäufern, deren Qualifikation sie vom Staat erwarten.
Eugen Loderer, einst IG-Metallvorsitzender und auf dem Gewerkschaftstag Gegner der Forderung nach der 35Std. Woche, warnte: „Man kann die Kuh nicht schlachten, die man melken will“. Für sich betrachtet stimmt der Satz. Die Realität wird aber eher abgebildet mit der Frage, ob die „Arbeitgeber“ wirklich geben oder melken.
Zeitwohlstand scheint mir gut gemeint. Und sicher ein besserer Maßstab für Wohlsein als die hektische Jagd nach Konsumgütern und hektische Arbeit, um an der Jagd teilzunehmen. Aber ist Zeit ein Gut? Kommt man aus dem Wettlauf der Getriebenen heraus, indem man auch sie als Privateigentum behandelt und über Markt zu regulieren versucht? Als ich nach ca. 20 Jahren bei Thyssen aufhörte, wurden pro Kopf etwa 3 Std. benötigt zur Erzeugung 1 Tonne Stahl. Als ich anfin, waren es 10Std. Wo sind diese 7 Std. Zeitgewinn geblieben? Wie will gesunder Menschebverstand erklären, dass aus Zeitgewinn Zeitknappheit abgeleitet wird. Liegt das an der Industrialisierung, liegt das daran, dass sich Gegenstände, die wir wirklich brauchen, in kürzerer Zeit herstellen lassen. Oder liegt es daran, dass es angeblich gesellschaftlicher Konsens ist, den Zeitgewinn in Banktresore zu schließen…
Postwachstum bedeutet für mich zuerst, heraus zu finden, was genug ist. Marktanalyse gibt es schon, zunehmend präzise. Aber wenn die Marktlücke entdeckt ist, beginnt der Wettlauf, sie schnell und als erster zu schließen. Das ist die eine Seite, die andere ist die Erschaffung neuer Marktlücken durch eine Art Gehirnwäsche. Dem kann man nicht mit Entschleunigung allein begegnen. Es gibt ja Situationen , in denen Beschleunigung unverzichtbar ist, beispielsweise um nicht überfahren zu werden.
Neben die Frage, was genug ist, tritt die Frage, ob Mensch zur Arbeit bereit ist aus der Einsicht in die Notwendigkeit heraus, oder aber, ob er immer ein Kommando und damit einen Kommandanten, Antreiber braucht. Menschen in Ehrenämtern beweisen täglich, dass es ohne Kommando geht.
Wenn ich jetzt doch noch den Begriff Zeitwohlstand aufgreife, dann ist das die Zeit, die wir uns nehmen, um Arbeit und Zeit zu befreien.