Wachstum
Der Begriff des Wirtschaftswachstums steht im Zentrum der kapitalistisch verfassten theoretischen und praktischen Ökonomie. Er umschreibt die Bewegung der realen Ökonomie. Wenn man diese betrachtet, wird augenfällig, dass alles, was von ökonomischem Belang ist, im Lauf der Zeit umfassender, größer, rationeller wird, seien es die Produktionsanlagen, der Produktausstoß, die Konzerne, oder auch die Entnahme der materiellen Ressourcen. Diese Bewegung setzte mit der Industrialisierung ein. Der Phasenwechsel zwischen steigendem und stockendem Wachstum hat bis heute nicht dazu geführt, das Wachstum als grundlegendes Merkmal der kapitalistischen Ökonomie abzulösen und in eine Postwachstumsökonomie zu überführen. Der Grund liegt darin, dass das Wachstum ein zwingendes, also durchaus Zwang ausübendes Element der bestehenden Ökonomie darstellt. Es bedürfte riesiger Kräfte, um es auszuhebeln. Davon können alle, die am Projekt einer Postwachstumsgesellschaft mitwirken, genug erzählen.
Auch auf die Menschen greift das Wachstumsprinzip zu. Das geschieht auf zweierlei Weise. Einerseits geschieht dies im Feld der Produktion. Schon wenn sich eine Person für eine Anstellung bewirbt, sieht sie sich in einer Konkurrenzsituation; sie ist umgeben von vielen andern, die sich ebenfalls bewerben. Alle wissen, dass sie besser sein müssen als die andern, um die Stelle zu bekommen. Das CV muss Auskunft darüber geben, ob und wie sich die bewerbende Person als Persönlichkeit und insbesondere zur potenziellen Angestellten entwickelt hat. Entwicklung heißt hier: Ausbildung, Weiterbildung, gute Zeugnisse für frühere berufliche Aktivitäten, passgenaues Profil für die ausgeschriebene Stelle, usw. Kurzum, prinzipiell müssen alle Bewerber und Bewerberinnen besser sein als die andern. Sie müssen sich über persönliches Wachstum ausweisen. Auch wer die Stelle zugesprochen bekommt, ist verpflichtet, besser als gut zu sein, also weiterhin den Bedürfnissen des Arbeitgebers entsprechend zu wachsen.
Konsum
Anderseits wirkt das Wachstumsprinzip nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Produktionssphäre, nämlich dort, wo die Menschen konsumieren. Dort treffen diese auf eine Überfülle von Waren. Man könnte sich denken, dass damit die Möglichkeit bestehe, aus dem Warenangebot ließen sich – vernunftgeleitet – die geeigneten Dinge kaufen, um sie dann tatsächlich zu konsumieren. Das ist allerdings eine ökonomienahe Ideologie. Denn wenn sich alle Menschen tatsächlich so verhalten würden, könnten die Produktionsbetriebe nicht mehr wachsen, sie müssten bedarfsgerecht und nicht wachstumsgerecht produzieren. Die Ideologie zerbricht wie ein Glas, das auf den Steinboden fällt. Denn die Werbung tut nichts anderes, als den Konsumierenden mal säuselnd, mal hämmernd deutlich zu machen, dass sie mehr und mehr konsumieren sollen.
Konsumistischer Konsum
Konsum bedeutet Gebrauch oder Verbrauch von konsumierbaren Gütern. Das geschieht zunächst auf der Ebene der Reproduktion des Lebens. In unseren hochentwickelten Gesellschaften gehören dazu auch Bildung, kulturelle Angebote usw., die man brauchen kann; man mag das als erweiterten reproduktiven Konsum bezeichnen. Doch jede und jeder wird bestätigen, dass sie oft und viel und mehr – und damit teilweise wirklich unvernünftig – einkaufen. Die eingekauften Warenhaufen übersteigen tendenziell die Konsumbedürfnisse und den Konsumbedarf. Sie werden trotzdem in hohem und steigendem Maß konsumiert. Der Konsum nimmt eine Gestalt an, die man als konsumistischen Konsum beschreiben kann. Die Verdoppelung in dieser Bezeichnung soll folgendes verdeutlichen: Noch nie in der Menschheitsgeschichte hat der Konsum eine so hohe Bedeutung im Leben der Konsumierenden eingenommen, wie das heute der Fall ist.
Wachstum im Konsumismus
Da die Produktion wachsen muss, spuckt sie immer neue und immer mehr Waren aus. Diese müssen konsumiert werden, damit der dadurch gewonnene Tauschwert in die Produktion investiert und großzügig an die Kapitaleigner verteilt werden kann. Wie schön und wie süß die Waren auch immer daherkommen: Sie sind Glieder in einer Zwangskette. Und den Zwang geben sie weiter an die Konsumierenden. Das kann man beispielsweise am Kleiderumsatz sehen. Viele Kleidungsstücke veralten durch die Gebote der Moden nach zwei- oder dreimaligem Gebrauch; sie werden nach kurzer Zeit weggeworfen und ersetzt. Dadurch wird die Produktion angeheizt, die etwa in Südostasien mit hohem Zwang auf die Arbeitenden einwirkt. Ein anderes Beispiel ist die Medikalisierung der Versorgung von alten Menschen. Die Forschung zielt u.a. auf die Verlängerung menschlichen Lebens. Wer länger lebt, konsumiert mehr Medizinalprodukte. Oder: In Zeiten, in denen westliche und östliche Potentaten Kriege führen, solche planen oder androhen, steigt der (absurde) Bedarf und die Produktion von Waffen an. Auch sie sind Waren, die schlussendlich ge- und verbraucht werden. Abschließend ist nochmals daran zu erinnern, dass der Wachstumszwang in der Produktion wie im Konsum eine maß-lose Ausbeutung von Naturressourcen voraussetzt. Sie ist inzwischen soweit fortgeschritten, dass die Folgen davon in diesem heißen Sommer für alle spürbar werden.
Perspektiven
Wir beobachten heute einen weltweiten Wettkampf. Er wird ausgefochten von jenen, die an den Grundzügen der bestehenden Gesellschaften und damit am Wachstumsprinzip festhalten und jenen andern, die sie überwinden wollen. Diese skizzieren Bilder einer Postwachstumsgesellschaft. Das tun sie einerseits, indem sie prüfen, welche Alternativen zur kapitalistischen Wachstumsökonomie denkbar seien. Sie denken nach über mögliche Zukünfte. Und anderseits probieren sie die Bilder praktisch aus: Sie experimentieren mit den Bildern, indem sie ihnen praktische Gestalt verleihen im Alltagsleben, in ökonomischen Regelungen, in der Bildung von Kindern und Erwachsenen. Diese Prozesse verlaufen nicht oder kaum in den herkömmlichen politischen Strukturen. Sie zeichnen sich vielmehr durch Eigenständigkeit und Vernetzung untereinander aus. Das lässt einen vielfältigen Reichtum entstehen. Hier möchte ich lediglich einige Prinzipien benennen, an denen sich die vielen praktischen Projekte orientieren.
- Übergreifend ist erkennbar, dass gesellschaftliche Inseln entstehen, die das Wachstumsprinzip verabschieden. Damit stellen sie die kapitalistische Wirtschaftsweise als ganze infrage.
- Nicht mehr das kapitalistische Gewinnstreben gilt als Leitschnur des Wirtschaftens, sondern das Gemeinwohl. Vereinfachend gesagt: Es soll allen Menschen ausnahmslos gut gehen. Das tangiert die Ernährung, das Wohnen, die Bildung, usw.
- Dazu werden die Produktion und die Konsumtion einer konsequenten Anwendung nachhaltiger Prinzipien unterzogen.
- Wo das Wachstum fällt, fallen auch große Teile der Konkurrenz. An deren Stelle treten vermehrt menschliche Kooperation und Solidarität.
Es versteht sich von selbst: Solche Prinzipien werden nicht durch formalistische Beschlüsse eingeführt. Vielmehr müssen sie erprobt, muss um sie gerungen werden – dies in einer kapitalistischen Umgebung, welche zwangsläufig widerständig reagiert. Diesem Widerstand steht selbständiges Lernen der Individuen und der Gruppen entgegen.
Franz Hochstrasser. 2013. Konsumismus. Kritik und Perspektiven. München: oekom verlag.
Franz Hochstrasser. 2017. Dem Übermaß mit Maß begegnen. Essays über Konsum, Verzicht und Genügsamkeit. München: oekom verlag.
Stellungnahme zu den Fragen von Walter Gröh:
1. Frage:
Wenn sich solche Inseln vom „konsumistischen Konsum“ befreien wollen, wie kann man erkennen,
* ob das kapitalismuskritische Ansätze sind, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, für eine Neuausrichtung der Ökonomie auf Bedürfnisbefriedigung
* oder ob da Bescheidenheit & Verzicht als neuen Lebensstil gepredigt wird – im Sinne der Aussagen von Niko Paech sagt zu Suffizienz: „Die günstigste und zugleich ökologischste Flugreise ist immer die, die nicht stattfindet. Das gilt für Handys, Flachbildschirme, Häuserautobahnen und Agrarsubventionen nicht minder. Pures Weglassen ist überall, unilateral und kurzfristig umsetzbar.“ (Paech: Befreiung vom Überfluss, 2012, S. 144 f)
Ich formuliere lediglich eine Antwort zur ersten Frage. Zur zweiten kann ich mich nicht äussern, da ich ökonomisch nicht geschult bin. Die erste Frage geht implizit davon aus, dass die kapitalistische und damit die konsumistische Gesellschaftsform verändert werden muss; das muss sie, weil sie die einzelnen Menschen und zugleich die ganze Menschheit ins Verderben führt. Theoretisch kann die Veränderung zwei Wege nehmen, nämlich die grundlegende Umwälzung der bestehenden gesamten Gesellschaft einerseits und auf der andern Seite die tiefgreifende Umwandlung der individuellen Lebensweisen.
Das ist etwas genauer zu erläutern. Unsere Gesellschaft befolgt das Prinzip immerwährenden ökonomischen Wachstums. Es schwebt wie eine Wolke über sämtlichen gesellschaftlichen Strukturen und damit auch über den Menschen. Diese führen ein Leben, das der wachstumsbedingten Steigerungslogik folgt. Individuell können sie sich daraus kaum befreien, zu stark sind die konsumistischen Fesseln und Versprechungen. Dagegen anzugehen stellt eine kolossale und kollektive Aufgabe dar. Denn die bestehenden Strukturen, Organisationen, Gesetze, Gebräuche, Bildungsinhalte usw. sind seit langen Jahrzehnten gefestigt. Und wenn sich Opposition dagegen rührt, schlagen die gesellschaftlich Mächtigen mit geballter Macht zurück. Das wird etwa deutlich anhand der Abgasfilterskandale bzw. dem Eiertanz, den die Autokonzerne und der zuständige Minister hierzu vollführen. Dennoch werden oppositionelle Gruppierungen sowohl auf parlamentarischer wie auch ausserparlamentarischer Ebene Aktivitäten entfalten, die Schritt um Schritt über die kapitalistische Grundordnung hinausweisen.
Daneben gibt es die vielfachen Initiativen von einzelnen Menschen und Menschgruppierungen, die von ihren alltäglichen Bedürfnissen ausgehen, wenn sie gegen Wachstumsprinzip und Steigerungslogik angehen wollen. Sie tun das im Bereich des Konsums: Viele kaufen und essen gesunde Nahrungsmittel aus der Region, reduzieren den Fleischkonsum, achten beim Kauf von Kleidern darauf, ob sie unter vertretbaren Produktionsbedingungen erzeugt worden sind. Viele Projekte widmen sich aber auch neuen Formen der Produktion oder Reparatur ausgewählter Dinge. Die Beteiligten agieren faktisch als Pioniere neuer Lebensformen und –inhalte. Sie richten ihr Leben an (wachstumsfremden) Werten aus: Nachhaltigkeit, Kooperation autonomer Individuen, Solidarität. „Das Morgen tanzt im Heute“, könnte man mit Dieter Klein (2013) sagen.
Was anfänglich getrennt erscheinen mag – hier die strukturbezogenen „Politkämpferinnen“, dort die Umgestalter des Alltagslebens in Produktion und Konsum – fliesst tendenziell zusammen. Beide Strategien eint, dass sie nicht mehr den abstrakten (Geld-)Wert, sondern ein gutes Leben als oberstes Ziel ihrer Bemühungen anstreben. Die hier aktiven Menschen bewegen sich im Feld verschiedenster Variationen und gestalten sie weiter.
Hallo Franz Hochstrasser,
Ihre „Perspektiven“ sind ermutigend: „gesellschaftliche Inseln entstehen, die das Wachstumsprinzip verabschieden. Damit stellen sie die kapitalistische Wirtschaftsweise als ganze infrage.“
dazu 2 kritische Nachfragen
1. Frage:
Wenn sich solche Inseln vom „konsumistischen Konsum“ befreien wollen, wie kann man erkennen,
* ob das kapitalismuskritische Ansätze sind, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, für eine Neuausrichtung der Ökonomie auf Bedürfnisbefriedigung
* oder ob da Bescheidenheit & Verzicht als neuen Lebensstil gepredigt wird – im Sinne der Aussagen von Niko Paech sagt zu Suffizienz: „Die günstigste und zugleich ökologischste Flugreise ist immer die, die nicht stattfindet. Das gilt für Handys, Flachbildschirme, Häuserautobahnen und Agrarsubventionen nicht minder. Pures Weglassen ist überall, unilateral und kurzfristig umsetzbar.“ (Paech: Befreiung vom Überfluss, 2012, S. 144 f)
2. Frage:
Die Lieblingsaussage der taz-Wirtschaftskorrespontentin Ulrike Herrmann lautet:
„Der Kapitalismus fährt an die Wand und keiner *erforscht* den Bremsweg.“ Vom den 15.000 Ökonomen erforsche „kaum einer die Transformation zu einer ökologisch verträglichen Kreislaufwirtschaft.“ (https://forumproschwarzwaldbauern.de/category/archiv/erntedankgespraech/ )
Frage: Wer hat denn bisher diesen Bremsweg *erforscht* ?
Eine Volkswirtschaft vom kapitalistischen Wachstum revolutionär umzustellen auf Bedürfnisbefriedigung ist ja qualitativ etwas anderes als Non-profit-Kooperative im kapitalistischen Meer zu gründen.
Also: Wer hat schon versucht, das zu modellieren & durchzurechnen?
lg
walter
Kein Widerspruch, sondern Ergänzung: Wachstumsgerechte Ökonomie kann die Frage, was ist genug, nicht zulassen. Sie spricht von Sättigung und besetzt diesen Begriff insofern negativ, als möglichst schnell und viel in den Markt/Konsum gedrückt werden muss, damit der nachfolgende Anbieter/Konkurrent von der Sättigung erwischt wird. Auch bei konkurrierenden Stellenbewerbern geht es nicht wirklich um GUT, sondern um BESSER., insbesondere belegt mit Begriffen wie „sich besser verkaufen“. Gut gemachte Arbeit ist befriedigend, bessere kann besser als Pfusch sein. So gesehen stehen bedarfsgerecht und wachstumsgerecht einander diametral entgegen. Wachstumsgerecht genießt den Schutz der Behauptung, dass bedarfsgerecht unmöglich sei. Deshalb wächst der Meerespiegel.