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Wir sind Getriebene

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Früher bedeutete Wachstum Wohlstand, ja, sogar Glück. Heute zwingt uns das System zu immer mehr Konsum. Weil es sonst zusammenbrechen würde.

In zunehmendem Maße hat sich das stetige Wirtschaftswachstum von einem erstrebenswerten Ziel zu einem Zwang gewandelt, dem wir unterworfen sind. Das Versprechen, mit Wachstum würde auch ein besseres zukünftiges Leben einhergehen, hat sich aufgelöst. Trotzdem zwingen uns kapitalistische Wirtschaften dazu, weiter zu wachsen, ob wir es wollen oder nicht.

Dabei hat Wachstum ursprünglich in vielen Ländern einen materiellen Wohlstand geschaffen, von dem frühere Generationen nur träumen konnten. So hat sich das inflationsbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Ländern wie Deutschland, der Schweiz und den USA zwischen 1870 und 1995 ungefähr verzehnfacht.

Tatsächlich war der Beginn der Industrialisierung für einen Großteil der Bevölkerung eine höchst unerfreuliche Zeit. Es entstand ein Heer von schlecht bezahlten Industriearbeitern, die unter miserablen Bedingungen arbeiten und leben mussten. Aber mit der Zeit partizipierten auch die Arbeiter am Wirtschaftswachstum. Sie wurden nicht, wie Marx irrtümlich annahm, in zunehmendem Ausmaß ausgebeutet, sondern ihre Löhne begannen zu steigen, und so wurden sie als immer kaufkräftigere Konsumenten zu einer wesentlichen Stütze des Wirtschaftswachstums.

Über lange Zeit leistete das Wirtschaftswachstum deshalb auch einen positiven Beitrag zum Wohlbefinden vieler Menschen. Im Vergleich zu früher können wir uns eine luxuriöse Lebensweise leisten, wir leben im Durchschnitt wesentlich länger und gesünder. Doch in neuester Zeit wird es in Westeuropa, Nordamerika und Japan zunehmend fraglich, ob Wachstum noch einen Beitrag zum Wohlbefinden der Menschen leistet. Wie viele Untersuchungen aufzeigen, führt dort weiteres Wirtschaftswachstum nicht mehr dazu, dass die Menschen glücklicher oder zufriedener werden.

Florieren nur auf Pump

Dies wäre bereits Grund genug, das Wirtschaftswachstum zu hinterfragen. Denn Wachstum macht ökonomisch nur so lange Sinn, wie es auch einen positiven Beitrag zum subjektiven Wohlbefinden leistet. Dazu kommen die Auswirkungen des Wachstums auf die Umwelt, die seit Beginn der 1970er Jahre zu einer Kritik des Wachstums aus ökologischer Perspektive geführt haben.

Doch können Wirtschaften ohne Wachstum heute längerfristig überhaupt funktionieren? Eine Analyse des ökonomischen Geldkreislaufes zeigt, dass dies nicht lange möglich ist. Der gesamte Unternehmenssektor kann auf Dauer nur dann Gewinne erzielen, wenn stets weiteres Geld von außen zufließt, das zusätzliche Nachfrage und damit zusätzliches Einkommen generiert. Dieser Zufluss erfolgt in modernen Wirtschaften durch Kreditvergabe der Geschäftsbanken, die so zusätzliches Geld schaffen. Damit aus dem zusätzlich geschaffenen Geld auch reale Gewinne werden, muss das neu geschaffene Geld zumindest teilweise zur Finanzierung von Investitionen in Realkapital (etwa Maschinen, Anlagen) verwendet werden. Dadurch erhöht sich die Produktionskapazität der Wirtschaft und es kommt zu Mehrproduktion von Gütern und Dienstleistungen.

Fließt hingegen kein weiteres Geld mehr in die Wirtschaft, kommt die Zunahme der Nachfrage und der Produktion an ein Ende. Aus Gewinnen werden dann schnell Verluste, und die Wirtschaft gerät in eine Abwärtsspirale. Der beschriebene Zwang zum Wachstum wurde lange allerdings nicht als solcher wahrgenommen, solange sich mit dem Wachstum das Heilsversprechen einer besseren Zukunft verband. Doch aus diesem Heilsversprechen wird in neuester Zeit zunehmend eine Zwangshandlung. Für immer mehr Menschen in reichen Ländern ist mehr materieller Wohlstand kein glaubhaftes Versprechen eines noch besseren zukünftigen Lebens mehr.

Deshalb wird Wachstum heute kaum noch mit diesem Argument begründet. Stattdessen hören wir, dass ein Land wie Deutschland bei geringem oder ausbleibendem Wachstum als Wirtschaftsstandort unattraktiv wird, an Innovationskraft einbüßt oder Arbeitsplätze verliert. Wir müssen wachsen, um wirtschaftlich erfolgreich zu bleiben, auch wenn wir gar nicht noch mehr materiellen Wohlstand wollen: Genau das ist der Wachstumszwang!

Wir sind also Gefangene eines Systems, das uns zu permanentem Wachstum zwingt. Nicht mehr ungesättigte Bedürfnisse treiben dieses Wachstum an, sondern das Bemühen der Unternehmen, stets neue Wachstumspotenziale zu schaffen. Rein technologisch ist dies kein Problem. Technischer Fortschritt ermöglicht eine ständige Mehrproduktion von immer vielfältigeren Gütern und Dienstleistungen. Die Digitalisierung wird die Arbeitsproduktivität aller Voraussicht nach noch einmal gewaltig erhöhen. Der Engpass liegt bei den Konsumenten, die von Treibern zu Getriebenen des Wachstums geworden sind.

 

Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte in der Freitag | Nr. 13 | 29. März 2018.

1 Kommentare

  1. Wirtschaftswachstum als Erfolg zu verstehen, geht nur, wenn wir alle negativen Folgen ausblenden. Nur:
    >Wir sind also Gefangene eines Systems, das uns zu permanentem Wachstum zwingt.
    Dem kann ich nicht zustimmen – den wir sind, jeder für sich, wie wir alle, wirkmächtig. Mächtiger sogar, als wir es meinen.

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