Das fundamentale Problem unserer Ökonomie ist die Knappheit. Der Gewinn, der Wohlstand, das Wachstum sollen maximiert werden, doch dies kann nur unter bestimmten Nebenbedingungen geschehen. Es besteht nur eine begrenzte Anzahl der sogenannten Inputfaktoren zu Verfügung, die in der Warenproduktion eingesetzt werden können. Es gibt eine bestimmte Menge an Ressourcen. Im neoklassischen Kontext betrachten wir diese als Kapital und Arbeit. Also vereinfachend steht eine begrenzte Menge an Maschinen und eine begrenzte Menge an Arbeiter/innen und deren Arbeitszeit zur Verfügung.
Doch was ist eigentlich Arbeit? Im ökonomischen Kontext wird Arbeit ausnahmslos mit Erwerbsarbeit gleichgestellt. Es wird davon ausgegangen, dass allein die Erwerbsarbeit den Wohlstand und das Wachstum einer Volkswirtschaft fördere.
Sorgearbeit wird aus dem ökonomischen Proezss völlig ausgeklammert
Aus dem ökonomischen Prozess völlig ausgeklammert wird die sogenannte Reproduktions- oder Sorgearbeit. (vgl. Winker)[1] Es wird beispielsweise ignoriert, dass sich Arbeiter und Arbeiterinnen erholen müssen, um am nächsten Tag wieder arbeiten gehen zu können. Kinder müssen verpflegt und erzogen werden, um in der Zukunft arbeiten gehen zu können. Der ältere Teil der Gesellschaft muss gepflegt werden, da nicht mehr gearbeitet werden kann. All diese Prozesse, die direkten Einfluss auf den Knappheitsgrad der Arbeit haben, werden außerhalb des ökonomischen Prozesses behandelt. Die Frage, wo die Zeit herkommt, die für die Sorgearbeit aufgewendet werden muss, wird meist geflissentlich ignoriert. Laut Zahlen des statistischen Bundesamtes beträgt der Anteil der Reproduktionsarbeit in Deutschland das 1,7 fache der Erwerbsarbeit[2].
Woher kommt die Zeit?
Die Frage, die im Zusammenhang mit diesen Zahlen gestellt wird und gestellt werden muss, lautet: Woher kommt die Zeit?[3] In unserem nach Wirtschaftswohlstand strebenden System wird davon ausgegangen, dass ein nicht endender Vorrat an privater Pflege- und Sorgekapazität vorhanden ist. Sorgearbeit wird als natürliche und unendlich dehnbare Ressource betrachtet. (vgl. Biesecker, Wichterich, Winterfeld)[4] Des Weiteren wird in Anspruch genommen, dass diese Sorgearbeit keine Entlohnung benötigt, da sie getrennt vom Markt stattfindet. Es wird ignoriert, dass alle Ressourcen und Produktionsmittel erst einmal entstehen müssen. Dies gilt auch und insbesondere für die Arbeitskraft. Ein weiteres zentrales Problem der Verbannung des reproduktiven Bereiches ist die mit ihr einhergehende Hierarchisierung beziehungsweise das vorherrschende Machtverhältnis. Unterschiedliche Arbeiten werden unterschiedlich bewertet. Die Sorgearbeit wird größtenteils von Frauen erledigt, und ist gleichzeitig die gering bzw. nicht entlohnte und gesellschaftlich kaum anerkannte Arbeit.
Die aktuelle Wachstumspolitik basiert auf der Externalisierung der Kosten der Reproduktionsarbeit
Die aktuelle Wirtschafts- und Wachstumspolitik baut darauf, dass diese Sorge- und Reproduktionsarbeit auch weiterhin kostengünstig geleistet wird. Nur durch die bewusste Externalisierung der Kosten der Reproduktionsarbeit wird unser Wirtschaftswachstum ermöglicht, so die These von Winker. Die Kosten, die durch die fehlende Entlohnung der Sorge- und Reproduktionsarbeit eingespart werden, können in den Ausbau von Wirtschaftsunternehmungen investiert werden. Investitionen werden demnach durch ausbleibende Entlohnung ermöglicht.
Krise der Reproduktion
Als weiterer, das Wirtschaftswachstum positiv beeinflussender Faktor, kommen die in den letzten Jahren tendenziell sinkenden Reallöhne hinzu.[5] Mit sinkenden Reallöhnen, also den von der Inflationsrate bereinigten Löhnen, geht auch die Notwendigkeit einer Steigerung der Erwerbsarbeit einher. Es muss effektiv mehr Erwerbsarbeit geleistet werden, um dasselbe Einkommensniveau halten zu können. Dies führt schlussendlich zur Krise der Reproduktion. Es bleibt immer weniger Zeit für Sorgearbeit. Sobald diese Krise der Reproduktion, in Form von sinkender Arbeitskraftqualität, auch auf dem Markt ankommt, wird vielleicht endlich anerkannt, dass es sich nicht um unendlich dehnbare Ressourcen handelt, sondern Knappheit auch hier das vorherrschende Problem darstellt. Wirtschaftswachstum nach heutiger Definition wird dann, unter der Einbeziehung aller Kosten, nicht mehr möglich sein. Die angemessene Entlohnung jeder Form von Arbeit bedeutet zwar weniger Investitionsmöglichkeiten für einen weiteren Ausbau der Wirtschaft, doch dies ist keineswegs gleichbedeutend mit einer nachteiligen Entwicklung für die Mitglieder der Volkswirtschaft. Vergangenes Wirtschaftswachstum steht hier vielmehr für gerechte und angemessene Entlohnung aller Arbeit.
Quellen
Statistisches Bundesamt. Wo bleibt die Zeit?
Statistisches Bundesamt. Reallohnindex
[4] http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Biesecker_Wichterich_Winterfeld_2012_FeministischePerspe.pdf
[5] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VerdiensteArbeitskosten/RealloehneNettoverdienste/Tabellen/Reallohnindex.html
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars „Warum Wachstum? Eine Theoriewerkstatt zu Wachstumszwängen“ an der Eberhard Karls Universität Tübingen.