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Rezension: “We shut shit down”

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Empowerment der Klimagerechtigkeitsbewegung

Immer mehr Menschen wird klar, dass wir etwas grundsätzlich ändern müssen, um der Klimakrise zu begegnen. Doch die Fragen, wie genau und was wir eigentlich tun können, lässt viele hilf- und machtlos zurück. „We shut shit down“ von Ende Gelände ist ein beeindruckendes Bewegungsbuch, das darauf meines Erachtens überzeugende Antworten liefert. Es verbindet erzählerische Abschnitte mit politischen Analysen, dem Selbstverständnis und den Diskursen der linken Klimagerechtigkeitsbewegung. Selbstkritisch werden rassistische Strukturen auch in der eigenen Bewegung reflektiert, die Zusammenhänge zwischen Kolonialismus, Kapitalismus und Klimakrise aufgezeigt und die Notwendigkeit für zivilen Ungehorsam begründet. Ohne dogmatisch zu sein, bietet es Inspiration und Empowerment im Kampf für eine solidarische und gerechtere Welt. „We shut shit down“ ist in diesem Jahr (2022) erschienen und aus einem kollektivem Schreibprozess der Bewegung „Ende Gelände“ heraus entstanden. Es ist für alle, die auf der Suche nach Antworten auf die ökologischen und sozialen Krisen sind, eine Lektüre wert.  

System change not climate change 

Eine andere Welt ist möglich, wenn wir kollektiv handeln – so lässt sich „We shut shit down“ vielleicht in einem Satz zusammenfassen. Dafür müssen wir es aber auch wagen, neue Fragen zu stellen und alte Gewissheiten über Bord zu werfen. Was hat die Klimakrise mit Kapitalismus und Kolonialismus zu tun? Welche Rolle spielt der Staat dabei? Ist ziviler Ungehorsam legitim, ja sogar notwendig? Leser*innen, die sich diese Fragen noch nie gestellt haben, werden von der Radikalität des Buches überrascht sein. „We shut shit down“ gelingt es aber, die Leser*innen auf der Suche nach Antworten auf die Klimakrise an die Hand zu nehmen. Gerade auch die persönlichen Erfahrungsberichte, die sich lesen wie ein Krimi, sowie die nachdenklichen und selbstkritischen Passagen sorgen dafür, dass die Leser*innen nicht das Gefühl bekommen, belehrt zu werden. Ganz im Gegenteil, das Buch ist ein Versuch des Bündnisses „Ende Gelände“, die eigene Geschichte zu reflektieren, grundsätzliche Fragen zu diskutieren und auch verschiedene Perspektiven zuzulassen. Es nimmt einen mit auf die Reise von Akivist*innen, die schon lange bevor es Fridays for Future gab, für einen sozial-ökologischen Systemwandel gekämpft, die immer wieder Rückschläge erlebt haben, aber die mit ihren Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams die Klimagerechtigkeitsbewegung in ganz Europa inspiriert haben. Aber auch für Menschen, die selbst schon lange politisch aktiv, sowie aktivistisch interessiert sind, ist das Buch absolut empfehlenswert. Nicht nur, weil es aufzeigt, welche Kämpfe die erste Ende-Gelände-Aktion 2015 überhaupt erst möglich gemacht haben, sondern vor allem, weil es die besonders von Schwarzen Aktivist*innen geäußerte Kritik an rassistischen Strukturen in der deutschen Klimagerechtigkeitsbewegung nicht relativiert, sondern rassistische Strukturen auch bei Ende Gelände immer wieder sichtbar macht. Daher ist „We shut shit down“ besonders für weiße Aktivist*innen ein guter Anfang, sich mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen. 

Die Ende-Gelände Erfahrung 

„We shut shit down“ beginnt mit drei Erfahrungsberichten, von einem internationalen Aktivisten bei der ersten Aktion 2015, einer jungen Frau of Colour 2017 und einer Frau, die 2019 rollstuhlfahrend an der Aktion teilnimmt. Die mitreißenden Erzählungen nehmen einen mit auf den Weg zur Kohlegrube, vorbei an Polizeiketten und Absperrungen bis zur Besetzung von Kohlebaggern und –schienen, sowie der Räumung durch die Polizei. Auf nur wenigen Seiten gelingt es, die ganze Gefühlsreise einer Aktion des zivilen Ungehorsams mitzuerleben, von der Angst und Ungewissheit, dem Adrenalin vor und während der Aktion, dem Gefühl der Ohnmacht und der Wut auf ein repressives System, welches Klimaaktivist*innen, die sich für eine gerechtere Welt einsetzen, kriminalisiert und mit aller Brutalität versucht einzuschüchtern. Aber es erzählt auch von dem Gefühl der Selbstermächtigung durch kollektives Handeln, von Hoffnung, Mut und der Kraft kollektiver Liebe und Solidarität.  

“Wie wir die Welt verändern wollen” 

Wer denkt, ziviler Ungehorsam sei keine legitime demokratische Protestform, der könnte bei diesem Kapitel ins Grübeln kommen. „We shut shit down“ versucht aufzuzeigen, dass große gesellschaftliche Veränderungen und soziale Errungenschaften immer politisch erkämpft wurden und ohne zivilen Ungehorsam kaum möglich gewesen wären. Das Kapitel handelt aber nicht nur von historischen und philosophischen Abhandlungen, sondern ist praxisnah und gleichzeitig empowernd und mutmachend. Dem Zerrbild der „gewaltbereiten Linken“ wird ein Einblick in die solidarische Praxis, der Selbstreflexion und der gegenseitigen Achtsamkeit und Fürsorge entgegengesetzt.  

“Wie wir die Welt sehen” 

Im letzten Kapitel bietet Ende Gelände Einblicke in die aktuellen politischen Diskurse, das Selbstverständnis und die Sichtweise des Bündnisses auf die Klimakrise und wie wir ihr begegnen müssen. Hier artikuliert sich die grundsätzliche kritische Haltung dem Staat gegenüber, sowie die Kritik am Kapitalismus und den fortwährenden kolonialen Strukturen. Ende Gelände versucht deutlich zu machen, warum es nicht um mehr Klimaschutz geht, sondern um einen grundsätzlichen Systemwandel.  

Dem Bündnis Ende Gelände gelingt es m.E. mit seinem Buch, die systemkritische Haltung in einer Sprache zu vermitteln, die auch für Menschen „außerhalb der Szene“ verständlich ist. Es ist ein mitreißendes Werk geworden, was nicht nur noch Unentschlossene ermutigt und inspiriert, aktiv zu werden, sondern auch aktiven Menschen als Reflexionsgrundlage der eigenen Praxis und Privilegien dient.  Eine klare Empfehlung für dieses Buch! 

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