Neues aus der Wissenschaft

Der Transformative Journalismus ist schon da

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Die Klimakatastrophe hat begonnen; die Notwendigkeit grundstürzender Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft ist offensichtlicher denn je. Doch der ganze Journalismus ist nach wie vor von den Idealen der Objektivität, Neutralität und Ausgewogenheit beseelt und hält sich beim Engagement für Nachhaltigkeit vornehm zurück. Der ganze Journalismus? Nein. Ein kleiner Teil des Feldes leistet der dominanten Berufsideologie Widerstand: nämlich jene Journalist*innen, die sich selbst als „konstruktiv“ oder „lösungsorientiert“ bezeichnen.

Mitte der 2010er Jahre ist eine solche Strömung in der Branche sichtbar geworden. An der Universität Leipzig haben wir nun versucht, alle Konstruktiven Journalist*innen in Deutschland aufzuspüren – über die entsprechenden Medien (enorm, Perspective daily, ZDF Plan B etc.), Organisationen und Mailinglisten (Netzwerk Weitblick, Degrowth-Journalismus, Netzwerk Klimajournalismus Deutschland etc.) sowie per Schneeballverfahren –, und ihnen einen Fragebogen zu deren Selbstverständnis, Berufszielen und Weltanschauung vorgelegt. 79 Personen haben den Fragebogen vollständig ausgefüllt, und ihre Angaben haben wir mit der letzten Repräsentativbefragung aller deutschen Journalist*innen verglichen (Genaueres in Krüger et al. 2022).

Es zeigt sich, dass das kleine Feld der Konstruktiven Journalist*innen von der Altersstruktur her dem gesamten journalistischen Feld gleicht, aber etwas weiblicher, etwas höher gebildet und etwas stärker von Freiberuflichkeit geprägt ist. Politisch verorteten sich die Befragten auf einer Links-Rechts-Skala stärker links ein als in der Vergleichsbefragung. Konfrontiert mit elf vorgegebenen gesellschaftlichen Leitbildern und Werten, gaben sie als die wichtigsten an: (1) „Ökologische Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz“, (2) „Gleichstellung aller Menschen unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft, Religion oder Behinderung“ und (3) „Demokratie als gleiche politische Freiheit und Mitbestimmung für alle“.

Eine offene Abfrage nach den drei drängendsten Problemen, vor denen unsere Gesellschaft steht, brachte die Klima- und Umweltkrise auf Platz 1, gefolgt von sozialer Ungleichheit und der Spaltung der Gesellschaft. Wir legten den Befragten noch zwei Aussagen vor, die ihre generelle Sicht auf den Veränderungsbedarf abfragten. Dem Satz „Unsere Gesellschaft ist weitgehend zukunftsfähig und muss nur noch an bestimmten Stellschrauben verbessert werden“ stimmten nur 3 Prozent der Befragten voll und ganz zu, weitere 14 Prozent stimmten eher zu (auf einer 5-er Skala). Dagegen stimmten dem Satz „Unsere Gesellschaft muss grundlegend umgestaltet werden, um zukunftsfähig zu sein“ 30 Prozent voll und ganz und weitere 37 Prozent eher zu. 

Interventionistisches Rollenverständnis

Nun stellt sich die Frage: Schlagen sich diese Ansichten im beruflichen Selbstverständnis nieder – oder wird das Diktum vom neutralen Informieren und der unparteiischen Beobachtung hochgehalten, wie es die letzte Repräsentativbefragung aller deutscher Journalist*innen ergeben hatte? Unser Sample zeigte ein deutlich anderes Rollenverständnis. Weniger die „Realität abbilden, wie sie ist“ (obwohl auch das noch Zustimmung bei 76 Prozent der Befragten findet), stattdessen stärker als der Durchschnitt „die politischen und wirtschaftlichen Eliten kontrollieren“, „Menschen zur Partizipation am politischen Geschehen motivieren“ und – natürlich – „neue Ideen und Lösungsansätze vorstellen“. Die eindrucksvollsten Unterschiede zwischen den Konstruktiven und allen Journalist*innen zeigten sich bei Aussagen zu einer interventionistischen Rolle: Es gab deutlich höhere Zustimmungswerte zu den Zielen „zu sozialem Wandel beitragen“, „die öffentliche Meinung beeinflussen“ und „die politische Tagesordnung beeinflussen und Themen setzen“. Interessanterweise stimmten dem Ziel „zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation beitragen“ fast ebenso viele Befragte zu (75 Prozent) wie dem Anliegen, die „Realität so abzubilden, wie sie ist“ – beides scheint sich also nicht auszuschließen.

Man kann ein solches Rollenverständnis als Aktivismus diffamieren oder gar als „links-grün versiffte Lügenpresse“. Man kann den Spieß aber auch umdrehen, den Mainstream-Journalismus als passivistisch kritisieren und sagen, dass mitten in der Klimakrise und im sechsten Massenaussterben ein aktiver und aktivierender Journalismus im Sinne einer „Großen Transformation“ zur Nachhaltigkeit genau das ist, was die Öffentlichkeit braucht, damit das Schlimmste vielleicht noch verhindert werden kann. An normativen Dokumenten zur Legitimation von Nachhaltigkeit als Grundwert mangelt es jedenfalls nicht – von den UN Sustainable Development Goals über das Pariser Abkommen bis zum Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der Klimaschutz mit dem Schutz demokratischer Grundrechte verwoben hat und auch für den Journalismus Implikationen bereithält, wie ein Expert*innen-Workshop der Schader-Stiftung und der Universität Leipzig jüngst ergab (Krüger 2022a).

In der Medienbranche wie in der Kommunikationswissenschaft steht eine breite Debatte über Legitimität und Qualitätskriterien eines Transformativen Journalismus indes noch aus. Ich selbst habe ihn vor dem Theorie-Hintergrund der „Multilevel-Perspektive auf Systemtransformation“ der Nachhaltigkeitsforscher Frank Geels und Johan Schot modelliert und seine Unabhängigkeit von Machtstrukturen betont, nachzulesen im aktuellen Sammelband von „KLIMA° vor acht“ (Krüger 2022b). Die Kollegen Michael Brüggemann, Jannis Frech und Torsten Schäfer haben empirische Anzeichen für Transformativen Journalismus in der Medienbranche gesammelt und in vier Dimensionen unterteilt (Brüggemann et al. 2021). Der Transformative Journalismus ist also schon da, er ist nur ungleich verteilt. Die Öffentlichkeit sollte sich nun darüber klarwerden, ob sie einen Nachhaltigkeits-Booster von Seiten des Journalismus will – und den vielleicht sogar mit medienpolitischen Mitteln zu fördern bereit ist.

 

Literatur:

Brüggemann, Michael; Frech, Jannis; Schäfer, Torsten (2021). Transformative journalisms: How the ecological crisis is transforming journalism. In: Anders Hansen (Hrsg.): The Routledge Handbook of Environment and Communication (2., überarbeitete Auflage). New York: Routledge. Preprint: https://doi.org/10.31219/osf.io/mqv5w

Krüger, Uwe; Beiler, Markus; Gläßgen, Thilko; Kees, Michael; Küstermann, Maximilian (2022): Neutral Observers or Advocates for Societal Transformation? Role Orientations of Constructive Journalists in Germany. Media and Communication, 10 (3), S. 64-77, https://doi.org/10.17645/mac.v10i3.5300 (Open Access)

Krüger, Uwe (2022a): Ohne „Moralkeule“ sachlich berichten. Vieles spricht für einen Klima-Wandel im Journalismus. M – Menschen machen Medien, Juni, S. 10–12, https://mmm.verdi.de/beruf/ohne-moralkeule-sachlich-berichten-82197

Krüger, Uwe (2022b): Transformativer Journalismus: Ein neues Berichterstattungsmuster für das Anthropozän. In: KLIMA° vor acht e.V. (Hrsg.): Medien in der Klimakrise. München: oekom, S. 161–171

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