Bei einer Konferenz in London im Herbst 2008 hörte ich die „Global Players“ der Tourismus-Industrie erstmals über Wertewandel, neue Kennzahlen und Wachstum nach innen diskutierten. Als sich Ende 2008 die Ereignisse auf den Weltfinanzmärkten überschlugen, dachte ich viel über das Gehörte nach. Was sagen Bilanz-Kennzahlen wirklich über unser Familienunternehmen aus?
Wie soll es uns in Zeiten der radikalen Veränderungen (auch der Gäste- und Mitarbeitermärkte) gelingen, qualitativ statt quantitativ zu wachsen?
Schon vor vielen Jahren sprach mein Vater von der „zweiten Bilanz“: der familiären Bilanz. Wie steht es um die Qualität der Beziehungen, um die psychische und physische Gesundheit der Unternehmerfamilie, der Mitarbeiter und ihrer Familien? Der Tourismus mit unregelmäßigen Dienstzeiten ist bekanntlich eine große Herausforderung für jede Familie. Wie steht es um den Frauenanteil, wie ist die Wiedereinsteiger-Quote nach Familiengründung?
Seit drei Generationen setzen wir im Hotel Hochschober mit unserem sozialen Engagement Maßstäbe. Wenn allerdings durch die hohen freiwilligen Zusatzleistungen die Mitarbeiterkosten steigen und wir keine guten Kennzahlen vorweisen können, gibt uns die Bank ein schlechteres Rating. Somit beziehen wir teurere Geldmittel für die extrem kapitalintensiven Investitionen, die ein Hotelbetrieb mit sich bringt. Ein Teufelskreis, der mich ernsthaft an unserem System zweifeln ließ.
Bis ich im Herbst 2010 Christian Felber über die Gemeinwohl Ökonomie referieren hörte. Sofort hat mich die Idee fasziniert, dass soziales Engagement ebenso wie verantwortungsvoller Umgang mit den Energie-Ressourcen belohnt statt bestraft werden sollte. In vieler Hinsicht deckt sich dieser Ansatz mit dem, was für meine Großeltern, Eltern, für meinen Mann und mich entscheidend ist: gelingende Beziehungen als Basis des persönlichen und unternehmerischen Erfolges, Verantwortung für die Umwelt und nachfolgende Generationen sowie Verantwortung gegenüber unseren Gästen im Sinne der „Produkte“ und Dienstleistungen, die wir entwickeln und anbieten.
Derzeit erarbeiten wir im Hotel Hochschober unsere Gemeinwohl-Bilanz. Die Beschäftigung mit völlig neuen Kennzahlen wie der maximal zulässigen „Gehaltspreitzung“ oder der „gerechten Verteilung des Arbeitsvolumens“ fordert uns. Wir nehmen ganz neue Aspekte unseres unternehmerischen Handelns wahr. Besonders positiv finde ich den Prozess der Evaluierung, weil wir intensiv von Anderen lernen können. „Best practice“ Beispiele geben uns Zuversicht und zeigen auf, dass es sehr wohl eine Alternative zum quantitativen und materiellen Wachstum gibt.
Karin Leeb, geschäftsführende Gesellschafterin des Hotels Hochschober auf der Turracher Höhe, Kärnten/Österreich