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Postwachstum, quo vadis?

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„Warum ist Wirtschaftswachstum, selbst »grünes Wachstum«, ökologisch nicht nachhaltig? Wie können Gesellschaften gedacht werden, in denen mit weniger Rohstoffverbrauch ein gutes Leben für alle Menschen erreicht wird? Sind die Volkswirtschaften in Ländern des globalen Nordens zu groß? Wie können die Grundstrukturen moderner Gesellschaften so verändert werden, dass sie ohne Wirtschaftswachstum stabil sind? Ist weiteres Wirtschaftswachstum in reichen Ländern überhaupt wünschenswert? Und was bedeuten diese Fragen für unsere Vorstellungen eines guten Lebens?“

In ihrem Buch „Degrowth/Postwachstum zur Einführung“ (2019), erschienen im Junius Verlag, wagen Andrea Vetter und Matthias Schmelzer erstmals eine systematische Einführung in das dynamische Feld vielfältiger und teils widersprüchlicher Strömungen und Positionen rund um die Schlagworte „Décroissance“, „Degrowth“ oder eben „Postwachstum“.

Die Autor/innen stellen darin sieben Stränge der Gesellschafts- und Wachstumskritik vor, identifizieren verschiedene Strömungen innerhalb der Postwachstums-Bewegung und konstatieren:

„Trotz dieser verschiedenen Ausrichtungen der Strömungen gibt es zentrale Gemeinsamkeiten, die so etwas wie den Kern der Postwachstumsperspektive darstellen. Ausgehend von bisherigen Definitionen (siehe Kap. 4.1.) und unserer eigenen systematisierenden Analyse existierender Strömungen schlagen wir vor, diese als drei Zieldimensionen von Postwachstum zu fassen, die es in einem demokratischen Transformationsprozess zu erreichen gilt:

  1. Globale ökologische Gerechtigkeit: Eine Postwachstumsgesellschaft sorgt langfristig weltweit für den Erhalt der ökologischen Grundlagen für ein gutes Leben. Sie externalisiert nicht ihre Kosten in Raum und Zeit – sie ist nachhaltig und global verallgemeinerbar. Dabei wird in der Postwachstumsdebatte davon ausgegangen, dass die dafür notwendige radikale Verringerung des Durchsatzes an Materie, Energie und Emissionen in Gesellschaften des globalen Nordens nur durch eine Reduktion der Wirtschaftsleistung und einen tiefgreifenden Umbau von Produktion und Konsum möglich ist. Auch wenn es oft so verstanden wird: Wirtschaftliche Schrumpfung ist nicht das Ziel von Postwachstum, und ebenso wenig ist Postwachstum das Gegenteil von Wachstum. Die Reduktion von Produktion und Konsum ist vielmehr eine notwendige Konsequenz der Tatsache, dass es unmöglich ist, Wirtschaftswachstum von Materialdurchsatz – also dem Verbrauch von Rohstoffen und Energie – ausreichend zu entkoppeln. Die Wachstumsrücknahme muss dabei differenziert geschehen: Es geht um das selektive Wachstum – einige sagen lieber das Prosperieren oder »Blühen« – bestimmter zukunftsfähiger, sozialer und ökologischer Sektoren sowie Aktivitäten und den gleichzeitigen Rückbau jener Bereiche gesellschaftlicher Aktivität, die dies nicht sind (D’Alisa et al. 2016). Insgesamt zielt Postwachstum damit auf eine Deprivilegierung derjenigen ab, seien dies Menschen im globalen Norden oder die zunehmend an solchen Lebensweisen teilnehmenden Eliten des globalen Südens, die aufgrund der imperialen und nicht verallgemeinerbaren Lebensweise aktuell auf Kosten anderer leben.
  2. Gutes Leben: Ziel einer Postwachstumsgesellschaft ist es, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Selbstbestimmung zu stärken und unter Bedingungen eines veränderten Stoffwechsels ein gutes Leben für alle Menschen zu ermöglichen. Unter welchen Bedingungen kann Reduktion so gelingen, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die in den letzten Jahrhunderten erkämpft worden sind, erhalten und ausgebaut werden? Dass diese Frage nach den Möglichkeiten einer »reduktiven Moderne« (Sommer/Welzer 2014) ausgesprochen komplex ist und weitreichende Auswirkungen hat, liegt auf der Hand. Dies gilt vor allem, wenn man berücksichtigt, wie umfassend die Produktions- und Lebensweise, die derzeit in den Industrieländern auch den sozialen Errungenschaften von der Demokratie bis hin zum Sozialstaat zugrunde liegt, mit Wirtschaftswachstum, mit gewaltförmiger Expansion, Herrschaft und Naturzerstörung verwoben und daher strukturell nicht-nachhaltig ist (Kap. 2 und 3). Postwachstumsvorschläge beschäftigen sich daher zum einen damit, wie ohne Wachstum soziale Gerechtigkeit gestärkt werden kann – durch Politiken der radikalen Umverteilung von Einkommen, Vermögen und Arbeit sowie durch eine für alle zugängliche umfassende Daseinsvorsorge. Zum anderen wird die Vertiefung demokratischer Prozesse angestrebt und die Ausweitung des Raums demokratischer Mitbestimmung in Richtung einer Vergesellschaftung zentraler Wirtschaftsbereiche und Wirtschaftsdemokratie angesprochen. Und schließlich geht es um die Suche nach einem umfassenden Verständnis eines guten und gelingenden Lebens, von dem das materielle Wohlbefinden nur ein Teil ist. Konzepte aus Postwachstumsdiskussionen dazu sind Zeitwohlstand, Konvivialität als positives Aufeinander-bezogen-Sein und Resonanz als »antworten de« Selbst- und Weltbeziehung.
  3. Wachstumsunabhängigkeit: Die Institutionen und Infrastrukturen einer Postwachstumsgesellschaft werden so umgestaltet, dass sie nicht auf Wirtschaftswachstum und Steigerung angewiesen sind und diese auch nicht erzeugen. Denn Wachstumsgesellschaften sind strukturell wachstumsabhängig. Innerhalb von Wachstumsgesellschaften führt die Reduktion der Wirtschaftsaktivität – diskutiert als Rezession, Stagnation oder Depression – zu sozialen Kürzungen, Verarmung und weiteren Begleiterscheinungen kapitalistischer Krisen. Aber Postwachstum heißt gerade nicht – auch wenn dies oft missverständlich so interpretiert wird –, die Wirtschaft innerhalb der bestehenden wachstumsabhängigen Strukturen und Verteilungsverhältnisse zu schrumpfen. Vielmehr geht es um strukturelle gesellschaftliche Veränderungen, um die Überwindung der Wachstumsgesellschaft. Wachstumsabhängigkeiten wurden dabei in der Postwachstumsdiskussion der letzten Jahre vor allem auf vier Ebenen identifiziert und entsprechende Vorschläge zu deren Überwindung diskutiert: materielle Infrastrukturen und technische Systeme; gesellschaftliche Institutionen; mentale Infrastrukturen; und schließlich das Wirtschaftssystem als ganzes. Wachstumsunabhängigkeit heißt, dass die Gesellschaft nicht auf Wachstum und Steigerung angewiesen ist, um ihre zentralen Strukturen und ihre Funktionsweise zu reproduzieren. Wachstumsunabhängigkeit ist damit eine grundlegende Bedingung für gesellschaftliche Autonomie.

Dies, so unser Vorschlag, sind die drei Kernanliegen der Postwachstumsperspektive. Sie ermöglichen es auch, unterschiedliche Postwachstumsströmungen danach zu unterscheiden, wie stark sie einen oder mehrere dieser Punkte betonen oder eher vernachlässigen. Wir halten alle drei für zentral.“

Aus: Schmelzer, M.; Vetter, A. (2019): Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.

Die vollständige Leseprobe ist hier erhältlich.

 

Anstehende Veranstaltungen zum Buch:

Flensburg, 12. September 2019, 19 Uhr, Universität Flensburg

Wuppertal, 12. September 2019, Wuppertal-Institut

Berlin, 19. September 2019, 18 Uhr, Prinzessinengärten, Café Décroissance, mit Gregor Hagedorn (Scientists for Future) und N.N. (Fridays for Future)

Jena, 25. September 2019, 13 Uhr, Friedrich-Schiller-Universität Jena, mit Stephan Lessenich (LMU München) und Barbara Muraca (University of Oregon)

Zürich, 3. Oktober 2019, 18.30 Uhr, Universität Zürich, mit Mathias Binswanger (angefragt)

Lüneburg, 23. Oktober, 18 Uhr, Universität Lüneburg

 

Weitere Informationen finden Sie hier.

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