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Postwachstum meets Gender (I)

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Die akute Krisenhaftigkeit des gegenwärtigen Kapitalismus gibt den Debatten und Aktivitäten rund um eine Gesellschaft frei von Wachstumszwang Aufwind. Den Debatten über das Wie einer sozial-ökologischen Transformation fehlt aber bislang eine differenzierte Gender-Analyse – auf theoretischer wie empirischer Ebene.

Dem widmeten wir uns in je eigenen qualitativ-empirischen Forschungsprojekten im Rahmen der interdisziplinären Forschungswerkstatt „Praxen des Postwachstums“, die unter Anleitung von Prof. Dr. Christine Bauhardt 2015 – 2016 am Fachgebiet Gender und Globalisierung der Humboldt Universität zu Berlin durchgeführt wurde. Einen Höhepunkt der Forschungswerkstatt stellte das Symposium „Ein gutes Leben für alle? Postwachstum meets Gender“ dar, welches von Maren Birkenstock, Carla Wember und uns organisiert wurde und am 19. Juli 2016 mit rund 60 Teilnehmer*innen stattfand.  Im Fokus des Symposiums stand die Frage nach den vergeschlechtlichten Verhältnissen in gegenwärtigen Praxen des Postwachstums und wie eine geschlechtergerechte, queere Postwachstumsgesellschaft aussehen könnte.

Demokratische Beteiligung geschlechtergerecht gestalten. Aber wie?

Sabine Carl besuchte im Sommer 2015 Organisator*innen und Beteiligte des Projektes „Lebensenergie für das Dorf“ in der Uckermark (Brandenburg). In den insgesamt sechs Leitfaden-gestützten Einzel- und Gruppeninterviews fokussierte sie darauf, wie die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse vor Ort das Projekt prägten und welche Auswirkungen diese Prägungen auf die entstandenen Postwachstumspraxen innerhalb der Teilprojekte Gemeinschaftsgarten, Dorfwerkstatt und Mehrgenerationenspielplatz hatten.

Eingang zum Mehrgenerationenspielplatz mit Hinweisschild auf Projekt und Förderinstanzen

Mehrgenerationenspielplatz. Foto: Sabine Carl.

Das Projekt war durch die Organisator*innen geprägt von einer zweifachen Zielstellung:

  1. mehr soziale Gerechtigkeit durch Integration Langzeiterwerbsloser und
  2. gemeinschaftsbildende Gestaltung des „schrumpfenden“ Dorfes.

Carl konnte feststellen, dass zwar teilweise eine Erhöhung der Beteiligung von Frauen* mit Sorge-Verantwortung erreicht wurde, was einer Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit entspricht. Da diese aber an der Norm der Erwerbsarbeit (als Reaktion auf Langzeiterwerbslosigkeit) orientiert war und eine in-Frage-Stellung der Feminisierung von unbezahlter Reproduktions-Arbeit (Care) ausblieb, wurden ungleiche Beteiligungschancen nicht vollends aufgehoben. Weiter zählt zu Carls Ergebnissen, dass eine vergeschlechtlichte Arbeitsteilung sowie androzentrische Bewertung von Tätigkeiten das Projekt prägten. Eine ungleiche Gewichtung der Projekte und deren unterschiedliche Etablierung waren die Folge (Dorfwerkstatt und Spielplatz als Bauprojekte wurden engagierter betrieben, als der Gemeinschaftsgarten).

Ungleiche Beteiligungschancen beschäftigten auch Carla Wember und Sarah Klemm auf dem Symposium, die über die Praxis Solidarischer Landwirtschaft am Beispiel einer Berliner Initiative sprachen. Sie stellten fest, dass intransparente Entscheidungsstrukturen und fehlende breite Mitbestimmungsmöglichkeiten, sowie ein maskulinisiert-dominantes Redeverhalten (Doing Gender) ungleiche Beteiligungschancen nicht nur im Hinblick auf Geschlecht, sondern auch im Hinblick auf Klasse, ‚Race‘ und weitere intersektionale Strukturkategorien bewirkten. Da diese Strukturen von allen hervorgebracht und genutzt würden, sei es auch wichtig, dass alle an ihrer Transformation mitarbeiteten.

Care-Arbeit geschlechtergerecht verteilen – eine utopische Alternative?

Mike Korsonewski besuchte im November 2015 die Kommune Niederkaufungen. Dort waren neben den Care-alltäglichen Praxen der linkspolitischen Lebensgemeinschaft, die über 80 Menschen umfasst, besonders die Arbeitsorganisation und die Pflege im kommune-eigenen Kollektivbetrieb der Tagespflege Lossetal im Fokus der fünf geführten Interviews und der teilnehmenden Beobachtung.

Tagespflege Lossetal, Lizenz: Archiv Kommune Niederkaufungen

Die Kommune Niederkaufungen besteht seit Mitte der 1980er Jahre. Über die Jahrzehnte wurden in der feministisch-kapitalismuskritischen Kommune Alltagspraxen ausprobiert und etabliert, die die Aufwertung und Sichtbarmachung sowie die Umverteilung von Care-Arbeit auf möglichst alle Mitglieder der Gemeinschaft ermöglichen sollen. Die dafür etablierten zeitaufwendigen und mit Bildungshürden belegten Konsensverfahren können gleichsam Ausschlüsse reproduzieren und dennoch auf Hierarchien und Missverhältnisse hinweisen: So seien immer wieder heteronormative kleinfamiliäre Arrangements zu beobachten, die meist Frauen* an der Beteiligung hinderten. Aufgrund des Aufwands der Konsensverfahren habe sich zudem eine Blockadehaltung herausgebildet, die bestimmte Themen auf Eis legt. Die kollektive Tagespflege Lossetal der Kommune gilt als Aushängeschild für bedürfnisorientierte Pflege und für feministische Arbeitsorganisation. Dies geschieht in Einbezug der Pflegeempfangenden, der Angehörigen und weiterer Akteur*innen wie den Kranken- und Pflegekassen, Medizinischer Pflegedienst der Krankenkassen (MDK) usf., so dass ein Handlungsspielraum zum wechselseitigen Lehren und Lernen entsteht.

Auf dem Symposium diskutierten neben Mike Korsonewski Dieter Schmidt und Mike Laufenberg über queere Pflegepraxen und die Notwendigkeit der Verbindung queer-feministischer und wachstumskritischer Bewegungen. Dieter Schmidt erläuterte anhand des Lebensort Vielfalt – einer Hausgemeinschaft inklusive Pflege-WG für dementiell erkrankte schwule und bisexuelle Männer*, wie Pflege nicht nur queer, sondern auch sozial gerechter gestaltet werden kann. Das bewirke zugleich eine Aufweichung geschlechtlicher Arbeitsteilung, da für die WG vor allem (schwule) Männer* mit einem ähnlichen Erfahrungshintergrund wie die Pflegebedürftigen tätig sind. Inhaltlich ähnelt die Pflegearbeit in der WG in vielerlei Hinsicht jener der Tagespflege Lossetal. Mike Laufenberg betonte u.a., dass es wichtig sei, Geschlechtergerechtigkeit und Wachstumskritik zusammenzudenken, um das volle emanzipatorische Potenzial beider Anliegen entfalten zu können.

Von der Diskussion dieser Ergebnisse im Rahmen des Vortrags „Ein gutes Leben für alle? Postwachstum meets Gender“ in Köln werden wir in einem gesonderten Beitrag berichten.

 

Beitragsbild: Quelle: USGS Bee Inventory and Monitoring Lab auf flickr.com (https://www.flickr.com/photos/usgsbiml/8405820653/), Lizenz: Public Domain Mark 1.0. Hinweis: Das Original wurde graphisch nachbearbeitet.

Sabine Carl hat Kulturwissenschaften in Hildesheim und London, sowie Gender Studies in Berlin studiert. Sie engagiert sich im Netzwerk Care Revolution und GeNaWerk – Netzwerk für Gender und Nachhaltigkeit und bereitet derzeit ihre Promotion zu Postwachstum und Geschlecht vor. // Mike Korsonewski hat (North) American Studies sowie Gender Studies in Berlin und Brighton (UK) studiert. Neben dem Engagement im Netzwerk Care Revolution und bei GeNaWerk – Netzwerk für Gender und Nachhaltigkeit, ist er Kollektivist bei der Wanderausstellung EDEWA – Einkaufsgenossenschaft antirassistischen Widerstandes.

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