Standpunkte

Mit Universalismus zu Postwachstum und Solidarität

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Bild: John Englart (Takver)/ Flickr via CC-by-SA

Postwachstum, Selbstrelativierung, Universalismus

Wie ich in meinem kürzlich erschienen Artikel „Postwachstum und Solidarität mit Geflüchteten“ aufgezeigt habe, geht ein substanzielles Demokratieverständnis, wie es die Mehrheit der Befürworter/innen einer Postwachstumsgesellschaft vertreten, vom Anspruch auf Gleichheit aller – einschließlich der Geflüchteten (!) –  aus. Es wendet sich damit gegen nationalistische und andere partikularistische Eingrenzungen des Rechts auf Teilnahme an der Gestaltung der Gesellschaft. Dieses Demokratieverständnis ist universalistisch! Das verlangt, zumal wenn es im Kontext einer (global gesehen in ihrer Gesamtheit privilegierten) Gesellschaft des globalen Nordens formuliert wird, nicht nur die Inklusion der bislang Ausgeschlossenen, sondern auch die Bereitschaft der Privilegierten zur „Selbstrelativierung“: Die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Lebensumstände und -standards infrage zu stellen, deren Selbstverständlichkeit zu hinterfragen.

Denn ein ernst gemeinter, global formulierter Anspruch auf Gleichheit erlaubt es nicht, darüber hinwegzusehen, dass und in welcher Weise die gewohnten und liebgewonnenen Umstände des eigenen Lebens auf Privilegien beruhen, die ohne ökologischen Kollaps des Planeten nicht allen Menschen auf der Welt zugänglich gemacht werden können. Er verlangt die Bereitschaft zur Infragestellung der eigenen Lebensweise und zu einem Dialog mit denen, die zu uns kommen und mit den Menschen des globalen Südens über die Maßstäbe eines zugleich guten und für alle erreichbaren Lebens. Solange eine Verständigung hierüber ausbleibt und solange spürbare Schritte hin zu weltweit vergleichbaren Lebensstandards nicht zumindest absehbar sind, wird weder die ökologische Katastrophe zu verhindern sein, noch werden die Menschen aufhören, sich aus hoffnungslosen Verhältnissen von Hunger, Unterdrückung und Gewalt dorthin aufzumachen, wo sie zumindest eine kleine Chance sehen, ihre Situation zu verbessern. Das Bewusstsein von der Notwendigkeit dieser Selbstrelativierung ist bisher unter Postwachstumsaktivist/innen sicher ausgeprägter als im viel breiteren Spektrum der Flüchtlingsunterstützer/innen – aber die Logik der Probleme, die sich an beiden Schauplätzen stellen, ist die gleiche, und wer sie (substanziell) demokratisch lösen möchte, wird nicht umhin können, sich diese Fragen zu stellen.

Weitgehend erspart bleibt das indes den Anhänger/innen eines formalistischen Demokratieverständnisses: Weil für sie „demokratische Problemlösung“ vor allem eine Verpflichtung nationaler Politikeliten auf die Interessen ihrer ebenso nationalen Wähler/innenbasis bedeutet, muss es ihnen nicht als Widerspruch erscheinen, Abschottung nach außen und nötigenfalls gewalttätige Zurückweisung der Ankommenden zu fordern – deren demokratische Rechte nämlich stehen aus dieser Sicht hier gar nicht zur Debatte, und wenn die Länder, aus denen sie kommen, diese nicht achteten, dann sei das ihr eigenes Problem. Daran hängt eine aus der Postwachstumsperspektive hoch problematische Theorie über gesellschaftlichen Fortschritt. Weil mit der Selbstbezeichnung als „Demokrat/in“ immer auch auf die Freiheits- und Gleichheitsversprechen der europäischen Aufklärung Bezug genommen wird, kann auch eine formalistisch-demokratische Position kaum umhin, eine Perspektive zu entwickeln, die letztlich auf gerechtere globale Verhältnisse hinausläuft. Die stellt man sich in dieser Logik so vor, dass irgendwann alle in den Genuss der gleichen Freiheiten und Annehmlichkeiten kommen werden, die in den „fortgeschrittenen“ Gesellschaften Europas und Nordamerikas „bereits“ selbstverständlich sind – und zwar, indem sich ihre Länder politisch und wirtschaftlich an diesen Gesellschaften orientieren und sich „entwickeln“, um zu ihnen aufzuholen. In der Wissenschaft nennt sich das „Modernisierungstheorie“, und es wird seit langem kritisiert, weil es die globalen Machtverhältnisse ignoriert und nicht zur Kenntnis nimmt, dass der Reichtum der Einen und die Armut der Anderen ursächlich zusammenhängen. Aus ökologischer Sicht aber ist diese Vorstellung nicht nur politisch abwegig, sondern das von ihr erklärte Ziel auch bio-physisch unerreichbar, weil die Verallgemeinerung des im globalen Norden üblichen Niveaus an Ressourcenverbrauch und Emissionen auf alle Menschen den sofortigen Kollaps des planetaren Ökosystems bedeuten würde. Substanziell-demokratisch gesehen ist „Entwicklung“ ein leeres Versprechen: Es führt kein Weg daran vorbei, sich gemeinsam Gedanken darüber zu machen, wie ein global für alle mögliches, also weniger ressourcen- und emissionsintensives gutes Leben aussehen kann. Das bedeutet eben auch den kritischen Blick auf die Selbstverständlichkeiten der eigenen Lebensumstände.

Ein solches selbstreflexives Infragestellen der eigenen Position ist im formalen Demokratieverständnis nicht vorgesehen. Weil „das Volk“ als Souverän gilt und die Ansprüche des Souveräns in keiner staatlichen Ordnung in Frage gestellt werden können, ist in Ländern, in denen die große Mehrheit der Wahlberechtigten von einem global nicht zu verallgemeinernden Lebensstil profitiert, der Chauvinismus in das politische System einprogrammiert: Wenn es als das „gute Recht“ der Leute gilt, SUVs zu fahren, täglich Fleisch zu essen und übers Wochenende zum Shopping nach London zu fliegen, dann wird sich keine Partei, die an ihrer formaldemokratischen Wählbarkeit interessiert ist, anders positionieren (die Forderung der Grünen nach einem „Veggie Day“ sei hier mahnendes Beispiel) – und folglich auch nicht umhin können, in der Konsequenz den Einsatz immer größerer Gewalt gegen die nach Europa kommenden Menschen mitzutragen.

Eine politische Ethik: Der Wille, jemand anders zu werden

Wer sich in lokalen Postwachstumsprojekten oder Solidaritätsinitiativen für Geflüchtete engagiert, geht damit den einen Weg, auf dem sich dieser Logik der Gewalt entgehen lässt, ohne sich ohnmächtig aus dem Raum des politischen Handelns zurückzuziehen. Der Ausgangspunkt ist die vorbehaltlose Anerkennung, dass Andere und die Natur ebenso Rechte genießen wie mensch selbst – dass sie das Recht haben, Rechte zu haben – und dass die eigenen Rechte und Möglichkeiten in diesen Rechten ihre Grenzen finden. Damit bedeutet der politische Anspruch auf demokratische kollektive Selbstorganisation für die Einzelnen auch eine ethische Herausforderung, weil das eigene alltägliche Handeln begründungs- und möglicherweise veränderungsbedürftig wird: Demokratisch zu handeln bedeutet auch, bereit zu sein, in der Auseinandersetzung mit anderen selbst zu jemand anderem zu werden. Demokratie ist Ort und Praxis gemeinsamen Lernens und kollektiver Selbst-Hervorbringung als politische Subjekte, der willentlichen Selbsterzeugung als Postwachstums-/nicht-rassistische/solidarische/“weltbürgerliche“ Subjekte. Angesichts der diversen autoritären und sozialtechnokratischen Projekte der Erzeugung von politisch oder wirtschaftlich wünschenswerten „neuen Menschen“, die die Welt bisher so gesehen hat – von den Bolschewiki bis zum neoliberalen „unternehmerischen Selbst“ – mag das für manche eher dystopisch klingen. Der Unterschied aber, und der ist wiederum einer ums Ganze, liegt darin, dass das nur mit Menschen möglich ist, die sich autonom dazu entschieden haben und keine zentralen Vorgaben akzeptieren, sondern sich immer wieder demokratisch darüber streiten, was sie werden wollen und können. Dem gegenüber stehen die vom demokratischen Formalismus geförderte Verweigerung von Selbstkritik und das Beharren auf der Berechtigung des Gewohnten und der eigenen erworbenen Orientierungen, das dafür blind bleibt, dass diese aus zutiefst herrschaftsförmigen und fremdbestimmten Bedingungen heraus erworben wurden.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Substanziell verstanden, meint „Demokratie“ den dynamischen praktischen Gestaltungs- und ständigen Aushandlungsprozess in einer vielfältigen, pluralen (Zivil-)Gesellschaft, der sich an einem universalistischen Verständnis der Freiheit und Gleichheit aller orientiert und in dem alles, inklusive der inneren Verfasstheit der an ihm teilnehmenden Menschen selbst, Gegenstand der Aushandlung ist. Rein formalistisch verstanden ist „Demokratie“ dagegen die Verwaltung einer streng abgegrenzten, homogenen Gemeinschaft durch von deren Mitgliedern gewählte Repräsentant/innen und nach statischen, einer abstrakten Rationalität folgenden Regeln.

Das Problem mit der politischen Öffentlichkeit

Der substanziell-demokratische Weg ist, das erübrigt sich beinahe zu sagen, der deutlich steinigere. Das wird, wie in den letzten Monaten deutlich zu sehen war, noch verschärft durch ein strukturelles Problem der Art und Weise, wie in formal demokratisch verfassten Gesellschaften Öffentlichkeit hergestellt wird. Weder die vielen solidarischen Helfer/innen der Geflüchteten noch die meisten Degrowth-Aktivist/innen sehen es nämlich als vordringliches Ziel an, in der politischen Öffentlichkeit besonders stark wahrnehmbar zu sein – und zwar, weil sie aus ihrem lokalen, substanziell-demokratischen Handeln heraus gar nicht davon ausgehen, dass es wichtig wäre, Einfluss auf organisiert-politische „Entscheidungsträger/innen“ zu nehmen: Entscheidungen über die sie betreffenden Dinge treffen die Betroffenen schließlich selbst. Das ist natürlich ein zentraler Unterschied zu Pegida, AfD und Co.: Gerade weil diese „die Politik(er)“ für alles verantwortlich machen, sehen sie sich auch berufen, ihre „Meinungen“ in alle erreichbaren „öffentlichen“ Kommunikationskanäle möglichst laut hinauszuposaunen. Das allerdings ist deshalb ein Problem, weil diese Taktik des lauten Schreiens der Logik der Massenmedien viel mehr entspricht als das kontinuierliche und ausdauernde, aber wenig spektakuläre demokratische Engagement vieler zivilgesellschaftlich aktiver Leute. Weil dieses sich eben weniger demonstrativ-öffentlich in großsprecherischen Erklärungen und Kundgebungen auf zentralen Plätzen äußert als durch räumlich verstreutes praktisches Tun mit langem Atem, wird es von den Nachrichtenredaktionen, für die es immer neu, spektakulär und aufregend sein muss, nach kurzer Zeit nicht mehr als berichtenswert wahrgenommen. Und so kommt es dann, dass trotz einer nach wie vor anhaltenden beispiellosen Solidaritäts- und praktischen Hilfebereitschaft in großen Teilen der Bevölkerung schon seit Monaten fälschlich behauptet werden kann, der kurze „Sommer der Solidarität“ sei nun vorbei und „die Stimmung kippe“. Das stimmt nicht. Richtig ist, dass die einen unter dem leeren Slogan der „Demokratie“ lauter nach Abschottung und Ausgrenzung schreien, während die anderen unbeirrt weiter Demokratie machen.

In einen wirklichen Konflikt hinsichtlich der Frage des Umgangs mit Geflüchteten sind dagegen Angela Merkel und ihre Gefolgschaft geraten. Bis vor kurzem stand gerade sie für eine formaldemokratische Politik par excellence: Wer sie wählte, bekam eine möglichst reibungslose politische Verwaltung und konnte erwarten, nicht „unnötig“ mit politischen Dingen belästigt zu werden. Mit der Entscheidung, hunderttausende Menschen nicht gewaltsam abzuweisen und sie damit als unübersehbare Realität in die entpolitisierte Welt ihrer Wähler/innenschaft hineinbrechen zu lassen, hat die Kanzlerin dieses Stillhalteabkommen verletzt. Nun kam sie nicht umhin, einen scheinbaren 180°-Schwenk zu vollziehen und an exakt das entgegengesetzte Verständnis von Demokratie zu appellieren – was nichts anderes ist als ein Eingeständnis der Schwäche des Staates und seiner Institutionen und die Anerkennung der simplen Tatsache, dass es verrückt ist, zu glauben, man könne die Realität für immer draußen halten und die Menschen tatsächlich am Kommen hindern. Dieser Konflikt aber ist ihrer, nicht der der an der Basis Aktiven, und es tut wahrlich nicht Not, sich darüber stellvertretend den Kopf zu zerbrechen.

Prof. Dr. Dennis Eversberg Soziologie mit dem Schwerpunkt Umweltsoziologie an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Zuvor leitete er die Nachwuchsgruppe "Mentalitäten im Fluss. Vorstellungswelten in modernen bio-kreislaufbasierten Gesellschaften" am Institut für Soziologie der FSU Jena. Von 2012-2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena und forschte unter anderem zur Degrowth-Bewegung.

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