Von den meisten Ökonomen wird zwar wirtschaftliches Wachstum immer noch als Ausweg aus Verteilungskonflikten gesehen. Spätestens seit der Nahrungsmittelkrise 2008 wird allerdings immer deutlicher, dass Wachstum Verteilungsprobleme auch verschärfen kann.
Dies betrifft jedoch vor allem solche Länder, die anders als wir, am Anfang der Wertschöpfungskette stehen und deren Wirtschaft zu einem großen Teil auf „Urproduktion“ basiert. Diese Länder liegen zumeist in Afrika, Südamerika und (Südost-) Asien.
Globales Leid
Ca. eine Milliarde Menschen hungern oder sind unterernährt. Jedes Jahr stirbt eine unbekannte, aber mit großer Sicherheit zweistellige Millionenanzahl von Menschen an den Folgen. Jeden Tag allein sind es vermutlich mehrere Tausend Kinder. Der allergrößte Teil der Betroffenen leidet – anders als unsere Medien mit Berichten über Naturkatastrophen etc. suggerieren – still vor sich hin, an so genannten „strukturellem Hunger“. Die Schwerpunkte liegen dabei keineswegs in kargen Gebieten mit unfruchtbarem Land, Wassermangel etc.. Der strukturelle Hunger findet vielmehr in fruchtbaren Gegenden mit gutem Land statt. Die eigentliche Ursache ist der fehlende Zugang zu Land (inklusive Wasser).
Das Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung führte in den letzten Jahrzehnten sukzessive zu einem immer weiteren Auseinanderklaffen zwischen Angebot und Nachfrage nach fruchtbarem Land. Die Weltbevölkerung wird voraussichtlich bis 2050 auf über 9 Milliarden Menschen wachsen. Derzeit nimmt sie täglich um rund 200.000 Menschen zu. Allein für diese wäre bei einem durchschnittlichen Bedarf von 0,74 ha Weide- und Ackerland pro Kopf und Tag eine zusätzliche Fläche in der Größenordnung von New York erforderlich. Allerdings können die Anbauflächen der Welt kaum mehr erweitert werden. Pro Kopf gerechnet halbierten sie sich sogar während der letzten 50 Jahre. Die Intensivlandwirtschaft kommt an die Grenzen der Produktivitätssteigerung. Durch Bodendegradierung geht jede Woche fruchtbares Land in der Größenordnung Tokios verloren. Gleichzeitig zieht die Nachfrage nach Land immer weiter an. Einerseits ändern sich die Konsumgewohnheiten in „erfolgreicheren“ Schwellenländern, allen voran China. Mehr Nachfrage nach Fleisch bedeutet jedoch höheren Bedarf an Land. Vor allem asiatische (allen voran China) und arabische Länder betreiben mittlerweile eine neokolonialistische Politik, die auf die Sicherung der Rohstoffbasis an der Quelle abzielt. Auch der Agrotreibstoffboom drückt auf die Fläche und tritt in Konkurrenz zum Anbau von Nahrungsmitteln. Auch westliche Fonds investieren in Agrobusiness, um angesichts des krisengeschüttelten Finanzsystems eine sichere und „nachhaltige“ Anlagealternative zu bieten.
Wie Flächensicherung geschieht
Die Sicherung der Flächen findet meistens über großflächige Konzessionen statt, die oft viele Tausend Hektar betragen. Die zu zahlenden Landpachten sind lächerlich niedrig (oft ist keine Pacht fällig), Sozial- und Umweltstandards werden bei der Zuweisung kaum beachtet. Die Zuweisung geschieht oft in einem intransparenten Prozess von zentralen Stellen an politische Günstlinge oder an ausländische Unternehmen, die sich die Entscheidungsträger regelmäßig mit „milden Gaben“ gewogen machen. Die ansässige Bevölkerung, die zumeist über keinen formalisierten Landtitel verfügt, zieht dabei regelmäßig den Kürzeren (Loehr, D., Das Scheitern der Bodenprivatisierung – Zum überfälligen Kurswechsel in der Entwicklungspolitik (2011)).
Für die heimischen Eliten spielt Land zudem als Anlagealternative eine große Rolle, da der Kapitalmarkt schwach ist. Auch ihr Geld drängt die weniger zahlungskräftige Bevölkerung buchstäblich an den Rand. In Ländern wie Kambodscha oder Brasilien fällt ein Teil der Landlosen in die Peripherie ein, wo Urwald abgeholzt wird. Ein anderer Teil der Migranten flüchtet sich in die Slums der Städte.
Internationale Organisationen und Flächensicherung
Wie verhalten sich Weltbank und die staatliche Entwicklungshilfe? Sie verfolgen mit der herrschenden ökonomischen Lehre einen Ansatz, der auf die Vergabe individualisierter und formalisierter Eigentumstitel hinausläuft. Andere, tradierte Formen des Zusammenlebens, die über informelle Rechte geregelt waren, werden hingegen als minderwertig betrachtet (Loehr, D., Das Scheitern der Bodenprivatisierung – Zum überfälligen Kurswechsel in der Entwicklungspolitik (2011)).
Kommt es zu Konflikten, so wissen sich die Eliten und ausländischen Konzerne auf dem Parkett des formalisierten Rechts elegant zu bewegen – anders als die weitgehend nicht des Lesens und Schreibens kundige Bevölkerung. Deren Rechtswege sind nicht nur mangels finanzieller Mittel verschlossen – auch die Gerichte sind oft korrupt. Ist das Land „kommodifiziert“, kann man es zudem leichter verkaufen, z.B. im Falle von Erkrankungen von Familienmitgliedern – keine Seltenheit in Ländern ohne ein funktionierendes Sozialversicherungssystem. So folgte die Konzentration von Grundbesitz der Einführung der Agenda von Weltbank & Co. auf den Fuß.
Die beschriebenen Fehlentwicklungen betreffen jedoch nicht nur individualisiertes Privateigentum, sondern auch staatlich gewährte Konzessionen. Ökonomisch gesehen handelt es sich in beiden Fällen um kapitalisierte, individualisierte und formalisierte Nutzungsrechte an Land. Sie stellen einen Freifahrtschein für so genanntes „Rent Seeking“ dar: Ökonomische Sondervorteile werden von den Eliten auf Kosten schwach organisierter Gruppen erzielt. Diese Sondervorteile bestehen in der Vereinnahmung der so genannten „Bodenrente“ (also des ökonomischen Pachtwertes von Land) und Bodenwertzuwächsen. Die Kosten der „Inwertsetzung“ (z.B. öffentliche, oft durch Entwicklungsgelder finanzierte Infrastruktur) als auch Verzichtskosten (z.B. den Verlust der Lebensgrundlage) tragen andere. Dies widerspricht augenscheinlich der Ideologie von Weltbank & Co., nach der bei Privateigentum gerade wegen der Kopplung von Nutzen und Kosten Fehlentwicklungen vermieden werden (Loehr, D., Capitalization by formalization? – Challenging the current paradigm of land reforms. Land Use Policy (2012), doi:10.1016/j.landusepol.2012.01.001).
Das Rent Seeking ist auch der Grund für die Gefangennahme des Staates (State Capture). Die politischen Entscheider werden an der Beute beteiligt, wenn sie sich wohlwollend verhalten. Weltbank & Co. konterkarieren hiermit ihre eigenen, zum Teil durchaus positiv zu bewertenden Anstrengungen in anderen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit (Gesundheitspolitik, Aufbau einer funktionierenden Verwaltung etc.).
Es ist an der Zeit, die institutionellen Fundamente der Wachstumsökonomien genauer zu betrachten.
12 Jahre später!
Lieber Dirk Löhr,
mich interessiert ihre Sicht zur Perspektive von Ulrike Herrmann.
Teilen Sie uns diese mit?
Viele Grüße Frank -old student- BRUST
[…] Eine unsichtbare Hand grabscht nach dem Land, im Blog “Postwachstum” am 27.3.2012 […]
Bei all der richtigen und wichtigen Analyse durch den Text: für mich stellt sich da die Frage nach den Alternativen. Wenn gleichzeitig privat- als auch staatswirtschaftliche Eigentumsformen (zu Recht!) diskreditiert werden, bleiben laut Ostrom nur die Commons – sprich die selbstverwalteten Formen des Wirtschaftens, in denen Menschen als Gemeinschaft um und von Ressourcen leben.
Allerdings spricht sich Ostrom dezidiert für formalisierte Eigentumsformen aus, um im konkreten Fall Verantwortlichkeit beim Einzelnen und der Gemeinschaft zu sichern. Nicht um die Bodenrente zu vereinnahmen, sondern Zuständigkeit und Teilnahme zu fördern. Ich verstehe die Forderungen von Ihnen, Herr Loehr, stark verbunden mit Ostroms Commons-Ansatz. Aber indem Sie Formen „tradierten Zusammenlebens, die über informelle Rechte geregelt waren“ fordern, klingt das unbestimmt so, also ob sie Teile der von ihr gestellten Bedingungen nach festem Eigentum ablehnen.
Die Forderung nach Benennung von Alternativen ist nur allzu berechtigt. Leider konnte ich in der gebotenen Kürze des Beitrags nicht alle Aspekte behandeln. Daher darf ich nun ein paar Punkte ergänzen: Grundsätzlich gilt, dass „one-size-fits-all“-Lösungen abzulehnen sind. Ansonsten liefe man in dieselbe Falle wie die Befürworter des Privatisierungsparadigmas.
Der Schlüssel für die Misere ist m.E. aber die Erkenntnis, dass – anders als es in den Lehrbüchern steht – kapitalisierte Nutzungsrechte, egal in welcher Eigentumsform, der Kern von Rent-Seeking und State-Capture-Phänomenen darstellt. Bodenrenten und Bodenwertzuwächse werden von den Eliten privatisiert, die damit zusammenhängenden Aufwendungen und Verzichtskosten auf schwach organisierte Gruppen externalisiert. Auch und gerade Privateigentum an Grund und Boden führt zu keiner Kopplung von Nutzen und Kosten – im Gegensatz zu der vorherrschenden ökonomischen Meinung. Gleiches gilt für Konzessionen, die an politische Günstlinge oder an die Agroindustrie „verschenkt“ werden. Eine wichtige Maßnahme wäre daher die „Entkapitalisierung“ der Nutzungsrechte am Boden, durch Überführung der Bodenrente und des Bodenwertes in die Hände der Allgemeinheit. Dies kann durch adäquate Besteuerung oder durch einen marktgerecht festgesetzten Pachtzins geschehen (was in den besagten Ländern bislang niemals geschah).
Entwicklungszusammenarbeit bezüglich „Good Governance“ ist vergebens, wenn über kapitalisierte Nutzungsrechte (sei es Privateigentum oder Konzessionen) an anderer Stelle Freifahrtscheine für Rent-Seeking-Aktivitäten ausgeteilt werden. Die offizielle Entwicklungsarbeit konterkariert auf dem Landsektor ihre eigenen Anstrengungen, indem sie – in Anlehnung an Hernando de Soto – eine Politik kapitalisierter Nutzungsrechte (egal ob privat oder durch staatlich vergebene Konzessionen) verfolgt. Die herrschenden Machtverhältnisse in den betreffenden Ländern werden hierdurch verfestigt.
Neben der Entkapitalisierung (durch Kopplung von Nutzen und Kosten) ist auch die Bewahrung der Vielgestaltigkeit sozialer und ökologischer Formen von zentraler Bedeutung. Insbesondere Formen mit einer geringen einzelwirtschaftlicher Effizienz (geringe Bodenrenten und Bodenwerte), aber hohen positiven externen Effekten bedürfen des Schutzes. Gleiches gilt für die vielfältigen Nutzungsformen des Bodens jenseits der wirtschaftlichen Verwertung (z.B. spirituelle Bedeutung des Bodens). Dies betrifft nicht zuletzt indigene Völker, die noch unter der Ägide von Customary Rights leben, jenseits von Kommodifizierung und Profiten. Hier kommen also die Commons ins Spiel. Die Formalisierung gemeinschaftlicher und kommunaler Landtitel ist von größter Bedeutung. Im Rahmen solcher kollektiver Titel können ja durchaus Customary Rights leben und sich entwickeln. Allerdings kann der Schutz solcher Formen nur gewährt werden, wenn nicht Sonderinteressen auf der Jagd nach Bodenrenten und Bodenwertzuwächsen den Staat gefangen nehmen können. Notwendig hierfür ist auch eine neutrale Landnutzungsplanung, welche die vielfältigen, auch widerstreitenden Nutzungsinteressen in Einklang bringt, ohne dass fortlaufend die Eliten mit ihren ökonomischen Interessen dominieren.
In der Richtung stimme ich also mit Ostrom überein. Allerdings steht – auch bei Ostrom – viel zu wenig bislang die zentrale Rolle von (Land-) Rent Seeking von einheimischen Eliten und ausländischen Konzernen im Blick. Dies gilt auch und gerade für die offizielle Entwicklungszusammenarbeit, die hier in vielen Fällen durchaus einen Hebel für Veränderungen in der Hand hätte. Diesen Hebel anzusetzen setzt aber die Bereitschaft voraus, auch die Fundamente der Macht ins Wanken zu bringen.