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“Beyond Growth“ Konferenz 2023 Brüssel

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Das fossile Wachstumsmodell ist obsolet – steht Europa vor einem Paradigmenwechsel?

 

Vom 15. bis 17. Mai 2023 fanden sich auf Einladung 20 Europäischer Parlamentarier*innen circa 7000 Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen (on- und offline) im Europäischen Parlament zusammen, um auf der Beyond Growth 2023 Konferenz die nachhaltige Zukunft Europas abseits des Wachstumsparadigmas zu debattieren. Im Vergleich zur Post Growth Conference 2018 profitierte die Konferenz 2023 von deutlich mehr Unterstützung durch die EU-Institutionen, einem breiten Programm mit hochkarätigen Speakern und vibrierender Stimmung im Plenarsaal durch ein großes, engagiertes Publikum.  

Aus unserer Perspektive als Konferenzteilnehmer fühlte sich die Veranstaltung dadurch durchaus historisch an, als Art coming-of-age der Postwachstumscommunity, Meilenstein in der anstehenden Transformation und kollektiver Motivator daran mitzuwirken. Der Shift von Kritik, Utopie und Nische zu anschlussfähigen Transformationsvorschlägen, der seit einiger Zeit heraufbeschworen wird, wurde hier deutlich unterstrichen. Im Vergleich zur gelebten Euphorie fielen gesellschaftliche Resonanz und Medienecho jedoch erstaunlich gering aus – wenn man vom umstrittenen Artikels des Economists absieht, der die Konferenz hauptsächlich für ihre Überhöhung der “ökologische Belange” und “sozialen Ungerechtigkeit” diskreditiert.  

Dabei war die Einstimmigkeit der wissenschaftlichen Fundierung und darauf aufbauenden gemeinsamen Zielvorstellung durchaus beeindruckend: Gefordert wird ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das nachhaltig das Wohlergehen aller innerhalb planetarer Grenzen ermöglicht, kurz Sustainable Wellbeing. Wie die oft zitierte Quantifizierung von Kate Raworth’s Donut zeigt, ergibt sich in Zeiten des massiven ökologischen Overshoots die Aufgabe, den europäischen Fußabdruck massiv zu reduzieren und gleichzeitig (globale) soziale Ungleichheiten auszugleichen, um Grundbedürfnisse aller zu erfüllen – eine Gestaltungsaufgabe über Skalen und Handlungsfelder hinweg. Vor diesem Hintergrund wurde die Bandbreite der Transformationsfelder deutlich, zu dem der Postwachsdiskurs beitragen muss und kann. Postwachstum zeigte sich dadurch nicht als Nische, sondern als Querschnittsthema, das von Nachhaltigkeitsforscher*innen aller Couleur mitgedacht werden kann. 

Dass aggregiertes Wirtschaftswachstum in einer solchen Zukunft wohl unwahrscheinlich ist, beziehungsweise bestehende Wachstumszwänge und –treiber einer sozial-ökologischen Transformation im Wege stehen, wurde eindrucksvoll von Timothée Parrique aufgezeigt. Die aktuelle Entkopplungsraten des Globalen Nordens als Beweis für die Machbarkeit Grünen Wachstums herzunehmen, sei wie eine Diät zu feiern, in der 200 Gramm abgenommen wurde. Davon, alle Umweltbelastungen absolut, ausreichend schnell und anhaltend vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln, um in planetaren Grenzen zu wirtschaften, ist Europa sehr weit entfernt. Das “Märchen des Grünen Wachstums als makroökonomisches Greenwashing” zu entlarven, zeigt die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels auf.  

Dieser Paradigmenwechsel muss sich insbesondere in den makroökonomischen (Governance-)Modellen wiederfinden. Große Einigkeit herrschte, dass neben oder anstelle des BIP breitere Sets von Wohlfahrtsindikatoren gestellt werden, die es aber des Weiteren auch politikwirksam zu institutionalisieren und priorisieren gilt. Als nachhaltigere Zielgrößen für sozio-ökonomische Entwicklung bieten sich ökonomische Resilienz (Jakob Hafele), soziale Gerechtigkeit (Dan O’Neill) und Zusammenhalt (Sandrine Dixson-Declève) an. Dass es an Indikatorensystemen nicht mangelt, zeigt die WISE-Database; als Positivbeispiel für Implementierung steht hier die Allianz der Wellbeing Economy Governments (WEGo), zu denen Deutschland bislang nicht gehört. 

IPCC-Autorinnen Yamina Saheb und Julia Steinberger argumentierten eindrucksvoll, dass wir es uns nicht mehr leisten können, die Potentiale von Suffizienzpolitik für Ressourcenreduktion und Wohlergehen ungenutzt zu lassen. Suffizienz fokussiert hierbei nicht die individuelle Konsumentscheidung, sondern die Förderung von (Infrastruktur-)Systemen, die die ressourcen-arme Erfüllung von grundlegenden Bedürfnissen wir Energie, Mobilität oder Wohnen ermöglichen. Commons-orientierte Ansätze sowie öffentliche Bereitstellung sind dabei besonders vielversprechend, wie der Ansatz der Universal Basic Services unterstreicht, insbesondere wenn Luxuskonsum gleichzeitig reguliert wird.  

Für eine gerechte Transformation müssen aber gleichzeitig bestehende Machtverhältnisse und ausbeutende Strukturen in den Blick genommen und überwunden werden (Brokow-Loga et al., 2022).  So machten sich Giorgios Kallis und Farhana Sultana für eine globale Perspektive innerhalb der Degrowth-Debatten stark und traten im Kanon mit aktivistischen Stimmen für den aktiven Einbezug von Stimmen und Forderungen Globalen Südens ein. Tim Jackson unterstrich die Bedeutung feministischer Ansätze und insbesondere der Care-Ökonomie, die als “unsichtbares Herz” in das Zentrum der Postwachstumstransformation gestellt werden muss.   

Bezüglich der Frage, ob diese Problemstellungen und alternative Politikansätze in Policy-Kreisen angekommen sind, zeigte die Veranstaltung ein gemischtes Bild. Zunächst ist anzumerken, dass im Vergleich zur letzten Postwachstumskonferenz 2018 eine vielfach umfangreichere Beteiligung der EU-Institutionen gab. Beachtlich war auch die Rede der Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen, die unmissverständlich das Ende des fossilen Wachstumsmodell verkündete. Die Vorträge der Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola sowie des Wirtschaftskommissars Paolo Gentiloni wurden hingegen mit Skepsis im Raum empfangen: Wachstum sei zwingend notwendig, um die Ressourcen für die grüne Transformation zu stellen. Zur Debatte über diese Diskrepanz kam es jedoch leider nicht, da die Reden entweder aufgezeichnet waren oder die Repräsentant*innen nicht bis zum Ende der Veranstaltung blieben. Gleichzeitig zeigte sich, dass es auch in den Europäischen Institutionen Suchbewegungen nach alternativen Paradigmen im post-fossilen Zeitalter gibt; hierbei sollte sich der Postwachstumsansatz als Ergänzung und Alternative zum präferierten “neuen Wachstumsmodell” des Green Deals anbieten. 

Am letzten Tag bekam die Konferenz dann doch noch einen notwendigen politischen Spin. Bereits zuvor hatte Olivia Lazard zu denken gegeben, dass die größten Treiber des Expansionismus und Extraktivismus momentan im geopolitischen Wettbewerb und Unsicherheit liegen. Ann Pettifor fügte hinzu, dass die bestehenden Visionen schön und gut seien, innerhalb der Konferenz jedoch eine Auseinandersetzung mit den widerstrebenden finanziellen und politischen Mächten der 1%, inklusive fossiler Akteure, fehlte. Als Gegenentwurf, auch zum frontalen Format der Konferenz, stand im Abschlusspanel ein ermächtigender Protest einiger Aktivist*innen, die die Kraft kollektiven Handelns spürbar machte. Unter Standing Ovations endete die Veranstaltung mit dem gegenseitigen Versprechen, die angestoßenen Debatten in das eigene Wirkungsfeld weiterzutragen.  

So gesellte sich, in den Worten des großartigen Gastgebers Philippe Lambert, zum Gefühl der Schwere der Aufgabe und der Ungeduld ob des schwindenden Zeitfensters am Ende auch ein Gefühl der Hoffnung, welches durch kollektives Handeln mit Gleichgesinnten erwächst. Wer daran teilhaben möchte sei eingeladen, die hier angerissenen Diskussionen auf beyond-growth-2023.eu nachzuschauen und im gemeinsamen Slack-Kanal weiterzudiskutieren.  

Doch auch wenn viele wichtige und spannende Themen zum ersten Mal im demokratischen Mittelpunkt der EU besprochen werden konnten, bleibt eine notwendige kritische Perspektive bei all der entstandenen Euphorie nicht aus. Fragen der Machtasymmetrien, der historischen Verantwortung gegenüber dem Globalen Süden und von wem grundsätzlich Zukünfte gestaltet werden, wurden nur marginal betrachtet. Trotz einiger Beiträge von Menschen des Globalen Südens wurde deutlich, dass auch Degrowth-Bewegungen eine Zukunftsgestaltung für die Welt primär im Globalen Norden verorten. Mit Blick auf den Reichtum von wachstumskritischen Ansätzen aus dem Globalen Süden hätte ein Pluriverser Transformationsansatz, wie von Giorgos Kallis gefordert, vermehrt in das Zentrum der Aushandlungen gestellt werden können. 

Innerhalb der Konferenz wurden antikapitalistische Argumente in den Debatten deutlich, daraus politisch abgeleitete Veränderungsprozesse beziehen sich jedoch zumeist auf reformistische, institutionelle Veränderungen und weniger auf konstitutionelle. Vor dem Hintergrund des Austragungsorts im Europäischen Parlament scheint das nicht verwunderlich. Aufgrund der Verschränkung von Kapitalismus und repräsentativer Demokratie drängt sich eine Auseinandersetzung über systemische Veränderungen der politischen Entscheidungsfindung für die Positionierung der Degrowth-Bewegungen auf.  

Während über Notwendigkeit und Richtung des Paradigmenwechsels in der Konferenz größtenteils Einigkeit herrschte, so wurden Diskrepanzen in Reichweite und Gestaltung der Transformation in diesem Spirit größtenteils ausgeklammert. Die primär sozial-ökologische Betrachtungsweise, wie z.B. der Wellbeing Economy, könnte einer machtkritischen und (radikal-)demokratischen Deliberation unterzogen werden, um die eigene politische Positionierung der Degrowth-Bewegung stärken und daraus neue Vernetzungsoptionen generieren zu können. Von einer solchen produktiven Auseinandersetzung zwischen gesellschaftspolitischer Anschlussfähigkeit und Systemkritik könnte das “movement of movements” positiv gestärkt werden. 

Jannis Niethammer ist im Bereich Justice, Equity and Democracy des ICLEI Europasekretariats tätig. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Integration von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit in städtischen Transformationsprojekten. Zuvor studierte er M.Sc. Environmental Governance an der Universität Freiburg und arbeitete als studentischer Mitarbeiter im Bereich "Umweltökonomie und Umweltpolitik" des IÖW insbesondere zu Postwachstumsthemen.

Malte Terzer ist studentischer Mitarbeiter am IÖW und hat zuvor Politikwissenschaften und Soziologie an der Goethe Universität Frankfurt am Main studiert. Derzeit ist er im M.A. Zukunftsforschung der FU Berlin eingeschrieben. Er beschäftigt sich mit Post-Kapitalismus und radikaler Transformationstrategie.

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