Alexander (frz.: Alexandre) Grothendieck (1928-2014) wurde als Sohn einer deutschen Schriftstellerin und eines ukrainischen Anarchisten in Berlin geboren, die ihn 1933 in die Obhut von Pflegeeltern gaben, nach Frankreich flohen und sich später im Spanischen Bürgerkrieg engagierten; er traf sie erst 1939 in Frankreich wieder. 1940 wurden die Grothendiecks in einem Konzentrationslager interniert, aus dem Alexander 1942 entkam, während sein Vater in Auschwitz ermordet wurde. Seine weitere Schul- bzw. Studienzeit verbrachte er als Staatenloser in Frankreich, Brasilien und den USA.
Noch sehr jung widmete er sich ganz der Mathematik und wurde rasch einer der bedeutendsten Mathematiker des Zwanzigsten Jahrhunderts. Als Mitglied des berühmten Autorenkollektivs Bourbaki vertrat er eine ausgesprochen elitäre Auffassung von seinem Fach und der Wissenschaft im Allgemeinen. Erst der Vietnamkrieg erschütterte seine Konzeption von der „reinen“ Wissenschaft, nach der sich die wahrheitssuchenden Wissenschaftler/innen und allen voran die Mathematiker/innen nicht um die Folgen ihres Handelns zu kümmern brauchten. 1966 erhielt er die Fields-Medaille, den inoffiziellen Nobel-Preis für Mathematik, schenkte sie aber ein Jahr später der französischen Pro-Vietnam-Bewegung CVN. Ein Besuch der Universität Hanoi im November 1967 bekräftigte seine Bedenken: Der hochtechnologisierte Krieg dort mit seinem Kriegsgerät, den elektronischen Selbstzündern und chemischen Waffen stellte sich ihm als direkte Folge angewandter Wissenschaft dar, deren Akteure allerdings sich keiner Verantwortung bewusst sind. 1969 ist er Gründungsmitglied der internationalen Vereinigung kritischer Wissenschaftler namens Survivre (Überleben), von 1970 an die wichtigste Triebkraft der französischen Sektion der jetzt in Survivre et Vivre umbenannten Bewegung und ihrer gleichnamigen Zeitschrift. Hier entwickelt er die Ideen, die ihn zu einem der wichtigsten Vordenker der Décroissance-Bewegung machen sollten.
Die „große evolutionäre Krise“ besteht nach Grothendieck in der „außerordentlichen Beschleunigung der Zeit“ und der biologischen Evolution durch den Wissenszuwachs der Menschheit. Der Anspruch der Wissenschaft als alleinige Wahrheit (scientisme) und die „Verwissenschaftlichung“ der Gesellschaft lege alle Macht in die Hände von Experten, die ihrem Selbstverständnis zufolge allein in der Lage sind, die aktuellen Probleme zu definieren und – mit technologischen Mitteln – zu lösen. Alles alte Wissen verliere an Wert, denn die Wissenschaft gebe vor, besser zu wissen, wie man zu wohnen, zu kommunizieren, sich zu ernähren oder sich fortzubewegen habe. Grothendieck spricht von einer „imperialistischen Annexion“, die das Leben des Einzelnen kolonisiere und anderen Kulturen einen westlichen Lebensstil aufzwinge. Wie für Jacques Ellul sind Wissenschaft und Technik auch für ihn keineswegs neutral, und der von ihnen angetriebene und gerechtfertigte „Fortschritt“ führt in eine Vielzahl von Katastrophen. Vehement lehnt er die Vorstellung ab, das neue Wissen könne im bestehenden System demokratisiert und damit der Allgemeinheit nützlich gemacht werden und zeigt im Gegenteil auf, wie es bestehende Herrschaftsverhältnisse zementiert und verschärft. Für eine wirkliche Demokratisierung des Wissens müsste die Wissenschaft selbst neu orientiert, um nicht zu sagen – revolutioniert werden, wie er 1971 zusammen mit Denis Guedj formuliert:
- Die Ziele der Wissenschaft sollten ökologisch und menschlich ausgerichtet sein: dezentrale Energieversorgung, gesunde Ernährung, „leichte“ Technologien ohne oder mit geringem Ressourcenverbrauch, immer mit Blick auf den Erhalt des natürlichen Gleichgewichts.
- Es sollte nicht mehr streng zwischen rein rationalem Denken und anderen Erkenntnisformen wie Intuition, Sensibilität, Sinn für Schönheit und Harmonie, Sinn für Einheit mit und in der Natur getrennt werden, die Arbeit des Forschers wäre somit nicht mehr abgespalten von seinem sonstigen, eigentlichen Leben und Empfinden.
- Die Wissenschaft sollte auch in ihrer Organisation menschlicher werden. Expertentum und Zentralisierung verschwinden, da ein jeder in seinem Bereich ein Spezialist ist oder sein kann. „Der Schwerpunkt der Forschung verlagert sich vom Labor zum Feld, zum Teich, zur Werkstatt, zur Baustelle, zum Krankenbett etc., mit einer Entfaltung der kreativen Kräfte des Volkes im Ganzen.“ Denn:
- Die neue, postindustrielle Wissenschaft soll zum Entstehen einer neuen Zivilisation beitragen, in der das allen zugängliche Wissen ausschließlich dem Wohle der Menschheit dient.
Heutzutage ist Alexander Grothendieck, nicht zuletzt durch Wikipedia, allenfalls als genialer, aber irgendwann zum Mystizismus übergegangener Mathematiker bekannt. Unbekannt ist der Technologiekritiker, der Aktivist und nicht zuletzt der Mensch dieses Namens. Grothendieck hat ernst gemacht mit seinen Überzeugungen. Zur Zeit seines Sinneswandels um 1970 gab er seine universitäre Stellung auf, weil sein Institut IHES zu einem geringen Teil aus dem Militärhaushalt finanziert wurde. An der Seite Pierre Fourniers organisierte er die entstehende Anti-Atom-Bewegung; er kann als führende Kraft der kritischen Wissenschaftler/innen der Siebziger Jahre gelten und hat auch dafür gesorgt, dass ökologische Fragen in Le Monde und im Nouvel Observateur behandelt wurden. Wenn er auch in späteren Jahren immer zurückgezogener lebte, blieb er doch seinen pazifistischen Grundsätzen treu, anders als der große andere hochintelligente Mathematik-Aussteiger Theodor Kaczynski, der sich gegen das Herannahen der Zivilisation an sein Exil in der Wildnis mit Briefbomben wehrte, die ihm den Namen „Unabomber“ eintrugen. Man wünschte sich viel mehr Radikale vom Format Alexander Grothendiecks.
Bibliographie
Die wichtigsten einschlägigen Texte Grothendiecks sind in der von ihm mitbegründeten Zeitschrift Survivre et Vivre erschienen, vgl. den reich kommentierten Sammelband von Céline Pessis (Hg.): Survivre et Vivre. Ciritque de la science, naissance de l’écologie. Montreuil: L’Échappée 2014.
Biographie
Winfried Scharlau: Wer ist Alexander Grothendieck? www.scharlau-online.de
Yan Pradeau: Algèbre. Paris: Allia 2016.
Hervé Nisic: L’Espace d’un homme (Dokumentarfilm 2010, 52 Minuten)
Illustration © Valérie Paquereau