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Vom Mittel zum Zweck: Das Wachstumsnarrativ im Journalismus

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Wachstum ist die zentrale Bezugsgröße des Wirtschaftsjournalismus. Keine aktuelle wirtschaftsjournalistische Veröffentlichung kommt ohne den impliziten oder expliziten Rückbezug auf das Wachstumsparadigma aus. Wie kommt das?

Ferdinand Knauß hat in seiner wegweisenden Untersuchung „Wachstum über alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde“ die historische Entwicklung der journalistischen Wachstumsfokussierung untersucht. Knauß zufolge beginnt diese in den 1920er-Jahren im Umfeld der Debatte über die deutsche Reparationslast. Lagen entsprechende Daten vor dem Ersten Weltkrieg schlicht noch nicht vor, werden ab 1925 mit der Gründung des Instituts für Konjunkturforschung unter der Ägide des Reichswirtschaftsministeriums erstmals Zahlen zum deutschen Volkseinkommen erhoben. Mit der wissenschaftlichen „Entdeckung“ des Volkseinkommens und der Entwicklung statistischer Methoden zur Wachstumsmessung beginnt laut Knauß auch der moderne Wirtschaftsjournalismus. Auf der Basis offizieller Daten kann dieser erstmals fundiert über das abstrakte Phänomen des Wirtschaftswachstums berichten – und damit auch die eigene Bedeutung steigern. Spätestens die Veröffentlichung der ersten Volkseinkommensstatistik des Statistischen Reichsamts für 1931 markiert demnach den Abschied vom marginalisierten Handelsjournalismus der Vorkriegszeit.

Seinen Durchbruch erlebt das neoklassische Wachstumsparadigma nach dem Zweiten Weltkrieg. Während die ältere Ökonomenzunft der Historischen Schule Ende der 1940er-, Anfang der 1950er-Jahre noch kritisch auf die US-amerikanische Wachstumseuphorie blickt, verschreibt sich die jüngere deutsche Wirtschaftswissenschaft ganz dem neuen Konzept. Unter Wirtschaftsminister Ludwig Erhard wird das Wachstum der scheinbar neutralen, jedenfalls endlich messbaren Kennzahl des Sozialprodukts zum politischen Programm erhoben. Ein wachsender Kuchen soll die Not breiter Schichten lindern, „Wohlstand für alle“ ermöglichen und damit nicht zuletzt auch die Verteilungsfrage entschärfen. Wie Knauß anhand dreier Publikationen darlegt, verinnerlicht der Wirtschaftsjournalismus das Konzept des Sozialprodukts und seine Richtung, die Expansion, in den Nachkriegsjahren schnell. Taucht der Begriff Wirtschaftswachstum etwa in der Wochenzeitung „Zeit“ in den 1950er-Jahren nur 43 Mal auf, wird er in den 1960ern bereits 334 Mal genannt, 2000 bis 2009 ganze 1523 Mal. Mit Knauß ist der Wachstumsbegriff ein langlebiges „Über-Narrativ“, das von der überwältigenden Mehrheit der Wirtschaftsredakteure bis heute nicht hinterfragt wird. Die unendliche, anhand des Bruttosozialprodukts gemessene Wirtschaftsexpansion ist demnach ein Allheilmittel für politische, soziale, sogar ökologische Probleme, mithin der zentrale Fortschrittsindikator der Moderne.

Und tatsächlich war es ja auch der wachsende Massenwohlstand, der einen Ausweg wies aus den Krisen und Verteilungskonflikten des 20. Jahrhunderts. Die Ökonomie wurde zur Leitwissenschaft, von ihrem Expertenstatus profitierte auch der Wirtschaftsjournalismus. Anhand des Sozialprodukts konnten Wirtschaftsredakteure bessere Geschichten erzählen, was ihr Gewicht innerhalb der Redaktion weiter steigerte. Das änderte auch das Erscheinen des Berichts „Grenzen des Wachstums“ 1972 und die zunehmende Umweltproblematik in den 1980er-Jahren nicht. So wie die Mehrheit der Ökonomen und der politischen Parteien am neoklassischen Wachstumsparadigma festhält, so treu steht auch der Wirtschaftsjournalismus bis heute zu diesem Narrativ. Zu den wenigen „Abweichlern und Skeptikern“ zählt Knauß die „mittlerweile ausgestorbene Gruppe der letzten echten Ordoliberalen“ sowie „Feuilletonisten und Wissenschaftsjournalisten“ mit größerer Distanz zur Ökonomie und Politik. Als Ausweg schlägt er einen revidierten Wirtschaftsjournalismus vor, der „neue alte“, von tonangebenden Ökonomen verschmähte Erkenntnisquellen erschließt: Geschichte, Soziologie, Philosophie, Religionswissenschaft, Dichtung und bildende Kunst. Gefragt sei ein „feuilletonistischer Wirtschaftsjournalismus“, wie er sich etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ finde, so Knauß.

Um es kurz zu sagen: Ein feuilletonistischer Wirtschaftsjournalismus mag in einer Wochenzeitung, einem Monatsmagazin funktionieren – als Rezept für den aktuellen Wirtschaftsjournalismus bei Nachrichtenagenturen, Onlineportalen, Tageszeitungen und Rundfunksendern erscheint die Forderung als zu abstrakt. In diesem Umfeld müssen Wirtschaftsjournalistinnen und Wirtschaftsjournalisten täglich kleine wie große Wachstumsgeschichten bearbeiten und (schnellstmöglich) publizieren. Wie kann unter diesen Umständen ein Ausweg aus der „langen Gegenwart des Wachstumsparadigmas“ gelingen? Eine finale Antwort ist noch nicht in Sicht. Drei Thesen sollen aber im Folgenden zur Diskussion gestellt werden.

1. Wirtschaftswachstum ist das politisch und wissenschaftlich dominierende ökonomische Narrativ. Ein kritischer Wirtschaftsjournalismus negiert diesen Status nicht, thematisiert ihn aber explizit.

Da alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien (mit Ausnahme von Teilen der „Grünen“) und die überwältigende Mehrheit der deutschen und internationalen Ökonomen am neoklassischen Wachstumsparadigma festhalten, sollte ein kritischer Wirtschaftsjournalismus dessen Übermacht weder ignorieren noch plump abqualifizieren. Angesichts der Vielzahl von auf dem Wachstumsnarrativ basierender Meldungen gilt es vielmehr, sich auf eine journalistische Schlüsselqualifikation zu besinnen: der Frage Cui bono, wem zum Vorteil?

Wie das Clausewitz‘sche Handlungsmodell zeigt, lassen sich menschliche Handlungen in ihren Zweck, die Ziele und die gewählten Mittel unterteilen. Aus klassisch ordoliberaler Sicht liegt der übergeordnete Zweck des Wirtschaftens in der Sicherung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit. Das Ziel, also die Strategie, um diesen Zweck zu erreichen, ist Erhards „Wohlstand für alle“, der allen Bürgern ein Leben in ökonomischer Sicherheit ermöglicht. Das gewählte Mittel wiederum ist eine auf Wachstum ausgerichtete Politik, da allein ein höheres wirtschaftliches Niveau die prekären Lebensumstände und Verteilungskonflikte der Vergangenheit auflöst.

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten war dieses Narrativ realiter gerechtfertigt: Wirtschaftswachstum führte zu mehr Wohlstand, dieser führte zu mehr Freiheit. Die Gleichung gilt jedoch für die hochentwickelten Staaten spätestens seit den 1990er-Jahren nicht mehr: Wie die Glücksforschung gezeigt hat, hat sich der volkswirtschaftliche Output hierzulande seit 1990 mehr als verdoppelt – das Lebensglück der Menschen aber, ihre Freiheit vom Unglück, ist nicht weiter gestiegen. Ökonomen sollte der Befund nicht verwundern, ist der abnehmende Grenznutzen doch eine zentrale Erkenntnis der neoklassischen Marginalanalyse. Und doch halten sie in der Mehrheit am Wachstumsnarrativ fest, auch, weil es in den Nachkriegsjahrzehnten zu einer fulminanten Umdeutung gekommen ist: Wirtschaftswachstum ist vom funktionalen Mittel zum übergeordneten Zweck des Wirtschaftens aufgestiegen. Ein kritischer Wirtschaftsjournalismus thematisiert diesen Status, indem er Wachstumsgeschichten nicht reproduziert, sondern journalistisch hinterfragt. Und das ist gar nicht so schwierig.

2. Um das Wachstumsnarrativ wirtschaftsjournalistisch zu hinterfragen, ist der zitierte ökonomische Expertenkreis zu erweitern.

„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache.“ Dieser Satz der Reporterlegende Hanns Joachim Friedrichs ist mindestens so oft zitiert wie kritisiert worden, und enthält doch eine fundamentale Wahrheit. Egal, zu welchem Ergebnis er beim Erzählen einer Geschichte kommt: Guter Journalismus blickt auf das Ganze, holt abweichende Stimmen ein, bemüht sich um Objektivität. Das muss auch für den Wirtschaftsjournalismus gelten. Um Wachstumsgeschichten (etwa Erfolgsmeldungen über Zuwächse bei Produktion, Export oder Bruttoinlandsprodukt) zu hinterfragen, die ökonomische Zweckbestimmung also vom Kopf auf die Füße zu stellen, müssen die Folgen des Wachstums für den einzelnen Bürger, für die Gesellschaft und die Umwelt thematisiert werden. Im Wirtschaftsjournalismus geschieht das klassischerweise durch die Befragung eines wie auch immer ausgewiesenen Experten. Dieser verfügt über wissenschaftlich fundiertes Fachwissen und die Fähigkeit, Komplexität vereinfacht, aber nicht verfälscht darzustellen. Im Fall des Wachstumsnarrativs jedoch ist ein Grundproblem offensichtlich. Werden Wachstumsmeldungen nicht nur reproduziert, sondern eingeordnet, fragen die allermeisten Wirtschaftsjournalisten wie automatisiert den immer selben Expertenkreis an: wachstumsoptimistische neoklassische und keynesianische Ökonomen ausgewählter Forschungsinstitute. Dabei ginge es auch anders.

Um bei der Darstellung der Wirklichkeit im Sinne Hanns Joachim Friedrichs einen nötigen Kontrapunkt zu setzen, ist ein Hinzuziehen wachstumskritischer oder ökologischer Ökonomen überfällig. Nicht unbedingt nötig ist ein feuilletonistischer Rückgriff auf ausgestorbene „echte Ordoliberale“, Philosophen und Künstler. Dieser läuft vielmehr, so er denn von Zeit zu Zeit versucht wird, Gefahr, ein weiteres stereotypes Narrativ zu reproduzieren, – in diesem Fall ein journalistisches Klischee: den Kampf David gegen Goliath. Greifen Journalisten einmal wachstumskritische Stimmen auf, so zitieren sie meist nur wenige ausgewählte Ökonomen, oder gesellschaftliche „Aussteiger“, und exotisieren diese als Einzelkämpfer gegen das (wissenschaftliche und wirtschaftliche) System. Dies mag Eitelkeiten auf beiden Seiten schmeicheln, erweist dem eigenen Aufklärungsanspruch jedoch einen Bärendienst – und dient langfristig der Zementierung des Über-Narrativs eines Wachstums als allseits gewolltem Selbstzweck.

Ein kritischer Wirtschaftsjournalismus hingegen negiert Wachstumsgeschichten nicht oder heroisiert den punktuellen Widerstand, er bettet sie vielmehr ein. Dafür befragt er sehr viel häufiger als bisher neben den wachstumsoptimistischen Mainstream-Experten auch Vertreter der ökologischen und der wachstumskritischen Ökonomik. Deren Telefonnummern müssen allerdings in der Redaktion vorliegen; neben der Hol- existiert eine Bringschuld.

3. Um im medialen Mainstream anzukommen, müssen sich wachstumskritische Ökonomen aus der Komfortzone bewegen, politisch organisieren und ihre (populär-)wissenschaftliche Diskursmacht ausbauen.

Wie Ferdinand Knauß gezeigt hat, ist das Wachstumsnarrativ nicht durch Zufall im deutschen Wirtschaftsjournalismus angekommen. Ebenso wenig ist der Wachstumsoptimismus über Nacht zum dominanten ökonomischen Wissensregime geworden, gegen den Widerstand der Historischen Schule und anderer Strömungen. Das Wachstumsnarrativ brachte vielmehr drei im Diskurs überlegene Eigenschaften mit: Es verhieß wissenschaftliche Erkenntnis (Messung des Nationaleinkommens und seines Wachstums), versprach eine politische Vision (Auflösung von Not und Verteilungskonflikten durch ökonomische Expansion) und stützte sich auf die Organisation und den Durchsetzungswillen seiner Vertreter. Die Wachstumskritik hingegen hat bis heute nur die erste vorteilhafte Diskurseigenschaft in vollem Umfang entwickelt: Sie hat zentrale wissenschaftliche Erkenntnisse hervorgebracht hinsichtlich der negativen Folgen (und der ausbleibenden Vorteile) ungebremsten expansiven Wachstums.

Zur politischen Ausarbeitung der Postwachstumsgesellschaft, zur Frage nach der visionären Praxis, wurden zentrale Defizite des Gegen-Narrativs bereits in „Zwischen Utopie und Umsetzung: Die Wachstumskritik im politischen Diskurs“ herausgearbeitet. Auch nach 45 Jahren Debatte mangelt es demnach an der Entwicklung praktischer Politikkonzepte durch die wachstumskritische Ökonomik. Insbesondere die Ausführungen zum Mittel der Wahl, zur Policy-Ebene, bleiben unterkomplex. Dabei gilt im wissenschaftlichen, noch stärker im plakativen medialen Diskurs: Wer das Über-Narrativ kritisiert, muss Alternativen aufzeigen, die über einen wohlfeilen Aufruf zu asketischer Umkehr hinausgehen.

Damit die im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend an Boden gewinnende ökologische Ökonomik endlich auch Aufnahme durch den Wirtschaftsjournalismus erfährt, braucht es mehr als einen Hans-Werner Sinn der Wachstumskritik. Es braucht Organisation, Vernetzung, die Bildung schlagkräftiger Institute und Think Tanks, die über den reinen Umweltbezug hinausweisen und die Mainstream-Ökonomik direkt angehen. Freilich ist es psychologisch angenehm, sich als Einzelkämpfer zu stilisieren; ein revolutionärer Nimbus allein verändert aber nichts. Freilich ist es schwierig, gegen den wissenschaftlichen Mainstream medial durchzudringen. Dass es zu schaffen ist, zeigten die Vertreter des Wachstumsnarrativs, die sich ab 1925 ebenfalls gegen eine dominierende Meinung durchsetzten – und so den Wirtschaftsjournalismus revolutionierten.

Wie man am Netzwerk Plurale Ökonomik, an diesem Blog und anderen Initiativen erkennen kann, ist der Anfang gemacht. Nun muss das Gegen-Narrativ in den Wirtschaftsressorts ankommen. Hierbei hilft eine Gesetzmäßigkeit des medialen Diskurses: Journalisten sind Herdentiere. Als solche schwanken sie zwischen den kommoden Zwängen des herrschenden Wissensregimes und dem eigenen Aufklärungsanspruch, dem Lechzen nach Neuem. Wenn nichts älter ist als die Zeitung von gestern, dann ist die herkömmliche Wachstumserzählung nach einem halben Jahrhundert wirklich „durch“. Die Zeit für eine neue Geschichte ist reif.

1 Kommentare

  1. Uwe Schroeder sagt am 9. September 2017

    Dieser Artikel ist überreif. Für mich stellt sich die Frage, warum nicht spätestens „Grenzen des Wachstums“
    zu einem anhaltenden kritischen Diskurs geführt hat. Offensichtlich hat sich hier die “ Idee des Wachstums“ als zielführende Methode auch in Forschung, Lehre, Ausbildung zu einer Ideologie verfestigt.

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