Eine kritisch-reflexive Bestandsaufnahme
„Nicht mehr Holz fällen als nachwächst“ – 300 Jahre alt ist diese anschauliche Erklärung von Forstleuten für den Begriff von Nachhaltigkeit (vgl. Grober 2013) – eigentlich eine banale alte Weisheit.
Der Kapitalismus jedoch mit seiner „Zeit ist Geld“ und an Gewinnmaximierung orientierten Strategie, betreibt Raubbau an natürlichen und sozialen Ressourcen und erschöpft zunehmend Mensch und Natur. Die sozialen und ökologischen Kosten sind zu offensichtlich geworden, als dass sie gesellschaftlich wie politisch übergangen werden könnten. Als „Kind der Krise“ und Lösung ökologischer, sozialer und ökonomischer Probleme (vgl. Erenz 2013) gelangte der Begriff „Nachhaltigkeit“ seit 1980 in die öffentliche Diskussion und ist längst zu einem viel diskutierten gesellschaftlichen „Leitbegriff“ geworden – ein „sozialer Tatbestand“ (vgl. Durkheim 1984) und Gegenstand soziologischer Forschung.
Aus einer kritischen Debatte über zukünftige Forschung zu gesellschaftlichen Dimensionen von Nachhaltigkeit, die am seit 2016 bestehenden Lehrstuhl für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel der Universität Hamburg unter der Leitung Sighard Neckels und der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen stattfand, ist dieser kleine Band mit dem Titel „Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms“ entstanden. Zielstellung ist es, eine soziologische Gegenwartsdiagnose vorzulegen, und zwar nicht nur „über die Hintergründe ökologischer Krisen, sondern auch über den gegenwärtigen Gesellschaftswandel im Ganzen.“ (S. 7)
In dem Buch werden verschiedene Ansätze und Konzepte von Nachhaltigkeit sowohl normativer als auch deskriptiver Art vorgestellt. Zur Diskussion stehen einerseits unterschiedliche Nachhaltigkeitsentwicklungen, die sich als kapitalistischer Modernisierungsprozess verstehen, sowie andererseits wachstumskritische Ansätze hinsichtlich einer gesellschaftlichen Transformation jenseits der kapitalistischen Wirtschaftsweise.
Die insgesamt sieben Beiträge dieses Bandes skizzieren ein breites Spektrum ökonomischer, rechtlicher, politischer als auch sozialer, ökologischer und psychologischer Aspekte von Nachhaltigkeit und eröffnen damit den Leser*innen einen Blick auf die soziale Vielschichtigkeit dieses Begriffs.
U. a. werden Themen, wie „Finanzierung von Nachhaltigkeit“ als Instrument einer nachhaltigen Entwicklung, Zertifizierung, Prämierung und Klassifikation ökonomischer Akteure – zugleich Verursacher ökologischer Probleme und Gestalter eines nachhaltigen Wandels – sowie Nachhaltigkeitspraktiken in Form ökologischer Lebensstile als soziale Distinktion, die u. a. auch als Verstärker sozialer Ungleichheit und moralisierende Instanz ausgemacht werden, aufgegriffen. Ein weiteres Forschungsfeld beschäftigt sich mit Nachhaltigkeit als „Subjektivierungsprogramm“, indem Nachhaltigkeit einerseits als Aufgabe und Verantwortung des Subjekts, sich in seiner alltäglichen Lebensführung „nachhaltig zu verhalten und andererseits als Handlungsmodus des Einzelnen im Umgang mit sich selbst und seinem Körper, z. B. als Wellness-, Achtsamkeits- oder Resilienzprogramm, als Folge der „Vernutzung psychischer Gesundheit“ verstanden wird.
Der letzte Beitrag beschäftigt sich mit gesellschaftstheoretischen Entwürfen für alternative soziale Praktiken jenseits von wirtschaftlichem Wachstum, wie Postkapitalismus, Postwachstumsgesellschaft, Konvivialismus und Reale Utopien. In diesen Entwürfen wird Nachhaltigkeit normativ als soziales Transformationsprojekt zur Überwindung des Kapitalismus als Gesellschaftsform begriffen.
Die Autor*innen verstehen diese Veröffentlichung nicht nur als „Programmschrift“ des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels, sondern möchten zugleich Vorschläge geben, „in welcher grundlegenden analytischen Perspektive die Soziologie Nachhaltigkeit als gesellschaftliches Phänomen verhandeln sollte.“ (S. 8) Sie plädieren daher dafür, Nachhaltigkeit in der soziologischen Forschung als Problem zu begreifen und eine „problemorientierte und reflexive Position“ einzunehmen, die auch „die Widersprüchlichkeiten, Dilemmata und Paradoxien“ ins Blickfeld rückt. Denn nur so lassen sich auch neu entstehende ökologische, ökonomische und soziale Konflikte, soziale Ungleichheiten sowie Machtrelationen ausmachen (vgl. S. 13).
Dieses Buch ist nicht nur für soziologisch interessierte Wissenschaftler*innen gewinnbringend und äußerst interessant zu lesen, sondern auch für Praktiker*innen, die an einer aktiven Gestaltung einer nachhaltigen Gesellschaft interessiert sind. In den jeweils kurzen, aber prägnanten Beiträgen steckt sehr viel (Forschungs-)Potential, vor allem weil es mit seiner kritisch-reflexiven Perspektive auch den Blick auf sonst „blinde Flecken“ gesellschaftlicher Nachhaltigkeitsentwicklungen wirft.
Sighard, Neckel et al. (2018): Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms. Bielefeld: transcript Verlag.
Literatur:
Durkheim, Emile (1984): Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Erenz, Benedikt (2013): Nachhaltigkeit. Ein Begriff geht um die Welt. Interview mit Ulrich Grober. In: Die Zeit Nr. 17/2013. Online: https://www.zeit.de/2013/17/begriff-nachhaltigkeit-interview-ulrich-grober
Grober, Ulrich (2013): Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München: Antje Kunstmann.