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Who cares in Europe?

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Seit der Gründung der EU ist Geschlechtergerechtigkeit in europäischen Dokumenten formuliert und Teil politischer Kampagnen und Strategien. Der Fokus liegt dabei seit jeher hauptsächlich auf dem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und gerechten Gehältern. Die für die EU relevante Größe ist dabei die weibliche Beschäftigungsrate. Obwohl die Lohngleichheit und der Arbeitsmarktzugang für Frauen nicht minder wichtig sind, sind sie Ausdruck dafür, dass Wachstumsparadigmen Begründung für soziale Ziele sind. Von universeller Geschlechtergerechtigkeit sind wir noch weit entfernt.

Ökonomische Gleichberechtigung führt nicht zum Ziel

Vor allem zeigt die zunehmende Zahl an berufstätigen Müttern das Missverhältnis auf, das auch darauf basiert, dass oftmals noch traditionelle Rollenmodelle in europäischen Haushalten vorherrschen: Wo mehr Frauen arbeiten gehen, übernehmen Männer noch selten viele Aufgaben im eigenen Haushalt. Wo mehr Mütter berufstätig sind, schafft die Politik nicht genug Unterstützungsmaßnahmen im Sinne von Betreuungsplätzen oder einem neuen Rollenbild für Männer. Dies führt nicht selten zu sogenannten „care gaps“ in europäischen Haushalten und zu einer Doppelbelastung für die Frauen. Da die Geschlechterpolitik in Europa so einseitig auf weibliche Beschäftigung fokussiert ist und gleichzeitig Männer noch nicht genug Betreuungsaufgaben übernehmen, wird verhindert, dass Frauen und Männer eine Wahlfreiheit bezüglich Betreuungsarbeiten oder Lohnerwerbstätigkeit haben. Echte Gleichberechtigung fordert aber genau diese Wahlfreiheit ein.

Um diesen blinden Fleck in der europäischen Sozialpolitik zu füllen, sollte der Fokus einer Geschlechterpolitik vielmehr auf unbezahlte Arbeit, wie Betreuung („care“) und damit verbundenen Rollenbildern, gelegt werden.

Universal Care Model – unbezahlte Arbeit anerkennen

Nancy Fraser bietet hierfür ein normatives theoretisches Modell, das von einem Recht jedes Menschen auf Betreuung ausgeht und menschliche Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Den Markt im Polanyischen Sinne sozial einzubetten und die unbezahlte Arbeit beider Geschlechter als Äquivalente zur Erwerbstätigkeit anzuerkennen, wäre dann der erste Schritt. Die darauf folgende Umgestaltung von Beschäftigung, die sich daran orientieren würde, dass jede/r Erwerbstätige auch Betreuungsverpflichtungen hat, kann eine echte Wahlfreiheit für beide Geschlechter verwirklichen. Dafür würde eine Vollzeitbeschäftigung eine niedrigere Wochenstundenzahl bedeuten und mit mehr Betreuungsplätzen und flexibleren Betreuungszeiten einhergehen. Betreuungszeiten im eigenen Haushalt würden so finanziell aufgewertet und kämen auch im Sozialversicherungssystem zum Ausdruck. Wenn Betreuung in den Mittelpunkt einer politischen Gleichberechtigungsstrategie rückt, ist dies ein Argument dafür, Existenzsicherung durch ein Grundeinkommen auch ohne echte Lohnarbeit zu unterstützen. Beide Geschlechter in die Betreuung einzubeziehen, kann dann auch zu einem Aufbruch vorherrschender Rollenbilder führen.

Baustein für eine Postwachstumsgesellschaft

In Europa lässt diese „care revolution“ noch auf sich warten und Geschlechtergerechtigkeit bleibt so dem Wachstumszwang unterlegen. Menschliche Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen und das Wachstumsparadigma durch soziale Ziele zu ersetzen, scheint ein zu großer Kostenfaktor zu sein. Um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, müssen politische Strategien in den sozialen Kontext eingebettet und unabhängig von traditionellen Geschlechterrollen aufgebaut werden. „Care“ in den Mittelpunkt zu stellen, kann ein Baustein für eine Postwachstumsgesellschaft sein. Eine Gesellschaft, die auf einer Idee aufbaut, sich von Wachstumszwängen zu befreien, kann so auch zu einer Gesellschaft werden, in der unbezahlte Arbeit gewürdigt und soziale Gerechtigkeit zum obersten Ziel erklärt wird.

Nina Prehm ist Volontärin in der Öffentlichkeitsarbeit am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung. Sie hat Politik (B.A.) und im Master Political Economy of European Integration studiert. Ihr Interessenschwerpunkt sind Auswirkungen des globalen Wirtschaftssystems auf Geschlechtergerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt.

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