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Was Ernährung mit Postwachstum zu tun hat

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Was hat das Ernährungssystem mit Postwachstum zu tun?

Die Postwachstumsbewegung folgt einer Reihe von ökologischen und politischen Prinzipien, die nicht nur das Wirtschaftswachstum im Speziellen sondern auch weiter gefasstes Wachstumsdenken in Frage stellt. Ernährung und Lebensmittel stehen jedoch selten im Fokus dieser Debatte, obwohl das Essen eine der grundlegendsten Tätigkeiten der Menschen darstellt.

Ernährungssysteme umfassen alle Akteur*innen und Aktivitäten, die die Produktion, Verarbeitung, Beschaffung, Verzehr und Entsorgung von Lebensmitteln betreffen: vom Feld bis auf den Tisch. Das weltweite Ernährungssystem ist derzeit geprägt durch Wachstumsdenken in Form von propagierter Produktivität und Effizienz durch biologisch-technologischen Fortschritt, steht also im Gegensatz zu Postwachstumsansätzen. Die Produktionsweise von Lebensmitteln ist in unserer heutigen, spätkapitalistischen Gesellschaft dominiert von industriellen Akteur*innen, bei denen häufig das Gewinnstreben im Vordergrund steht.

Auch die landwirtschaftliche Erzeugung ist oft auf die Maximierung von Profit ausgelegt, was auch am Strukturwandel der Landwirtschaft der letzten Jahrzehnte deutlich wird. Eine große Anzahl eher kleiner Betriebe sind in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts einer kleinen Anzahl großer Betriebe heutzutage gewichen. Diese Entwicklungen wurden unter anderem durch entsprechende politische Maßnahmen forciert, wie zum Beispiel die gemeinsame europäische Agrarpolitik, welche oft den Wachstumsgedanken und die industrielle Produktion favorisieren.

Der Wandel des Ernährungssystems, und damit einhergehend der dazugehörigen Lebensmittelproduktion, ist geprägt durch einen steigenden Einfluss von Lebensmittelkonzernen und einer größer werdenden Palette an hoch verarbeiteten Lebensmitteln. In diesem agro-industriellen System ist häufig nicht die adäquate Versorgung breiter Bevölkerungsgruppen von zentraler Bedeutung, sondern erneut das Profitstreben und die Maximierung des Gewinns weniger großer Unternehmen.

Den Defiziten des Ernährungssystems entgegensteuern

Das heutige agro-industrielle Ernährungssystem weist einige Probleme auf. Aus ökonomischer Sicht kann man prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen von Landwirt*innen, Saisonarbeiter*innen und Menschen in der verarbeitenden Industrie feststellen. Aus sozialer Sicht mangelt es an einem fairen Zugang zu ausreichend (gesundheitsförderlichen und sicheren) Lebensmitteln. Weltweit werden zudem etwa 30% der Lebensmittel verschwendet oder gehen entlang der Wertschöpfungskette verloren. Aus ökologischer Perspektive ist das Ernährungssystem geprägt durch negative Umwelteinflüsse wie zum Beispiel überdüngte Böden, verschmutztes (Grund-)Wasser aber auch mangelnden Tierschutz und Verlusten in der Artenvielfalt.

Einer wachsenden Anzahl Menschen missfallen diese Defizite des derzeitigen industriellen Ernährungssystems. Verbraucher*innen engagieren sich vermehrt in lokalen Initiativen, die zum Andersdenken des Ernährungssystems anregen. Diese verfolgen neben ökonomischen Zielen auch nicht-ökonomische Absichten und versuchen die stark reduzierten sozialen Beziehungen einzelner Akteur*innen neu in das Wirtschaften einzubetten und ökologische Konsequenzen mitzudenken. Populäre Beispiele solcher Initiativen umfassen die solidarische Landwirtschaft, das Urban oder Community Gardening, Marktschwärmer oder Ernährungsräte, die sich in immer mehr deutschen Städten etablieren, um vor Ort Politik zu gestalten.

Die verschiedensten Initiativen werden häufig als alternative Ernährungssysteme zusammengefasst und versuchen die Lebensmittelproduktion (vom Acker auf den Teller) wieder in kulturelle, soziale, regionale und ökologische Bindungen einzubetten. Viele dieser Initiativen greifen ökologische und politische Aspekte der Postwachstumsdebatte auf. Beispiele sind u.a. die Stärkung der Demokratie durch Ernährungsräte, der Autonomie durch Urban Gardening oder Solidarischer Landwirtschaft, der Gerechtigkeit durch höhere Preise für Landwirt*innen durch kürzere Wertschöpfungsketten z.B. bei Marktschwärmereien. Eine Vielzahl gesellschaftlicher Probleme erfordert nicht einen einzigen Lösungsansatz, sondern viele alternative Wege der Zielerreichung.

Lösungsansätze für ein nachhaltiges, diverses Ernährungssystem

Es besteht bereits eine Fülle von Lösungsansätzen, um das Ernährungssystem nachhaltiger und regenerativer zu gestalten. Beispiele lassen sich in Initiativen finden wie zum Beispiel der Ernährungs- bzw. Saatgutsouveränität oder in Bewegungen, die lokale, kurze Lebensmittelketten fordern. Eine gemeinsame zentrale Komponente ist Wirtschaft und Gesellschaft wieder miteinander zu verbinden. Lokale Lösungsansätze betten die Landwirtschaft in die Kulturlandschaft und natürliche Gegebenheiten wie Bodenqualität, Wasserangebot und Klima ein. Weiterhin spielen hier traditionelle und an die Gegebenheiten angepasste Sorten eine Rolle, die mit einem geringeren Einsatz von Dünger, Herbiziden sowie Pestiziden einhergehen können. Mit einer solchen Landwirtschaft sollen keine Massen für den Weltmarkt produziert werden, die auf agrarischer Monokultur beruhen. Die Marktlogik der Effizienz und maximaler Produktivität kann und soll hierbei (oft) nicht umgesetzt werden.

In einer Landwirtschaft, die sich an den Ideen des Postwachstums orientiert, kommt Diversität eine wichtige Rolle zu. Vielfalt lässt sich dabei nicht nur auf dem Hof bzw. als Biodiversität auf dem Acker identifizieren. Diversität kann auch vom Teller zurück zu politischen Rahmenbedingungen gedacht werden. Hier sind diverse Ernährungsgewohnheiten zu nennen, die angepasst sind an das Angebot in der jeweiligen Region; diverse Ernährungskulturen (z.B. Zubereitungsmethoden oder Methoden der Haltbarmachung vom Einmachen hin zum Fermentieren); diverse Formen des Austauschs (nicht immer rein marktbezogen) und diverse Governance Ansätze (auch bottom-up in lokalen Initiativen, z.B. in Ernährungsräten). Inwiefern und in welcher Form eine Vielfalt in diesen Bereichen zu nachhaltigeren und regenerativen lokalen Ernährungssystemen führt, wird aktuell in der FOOdIVERSE Studie untersucht.

 

Literatur:

Umweltbundesamt (2021): Biodiversitätsverlust in der Agrarlandschaft, abrufbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/themen/boden-landwirtschaft/umweltbelastungen-der-landwirtschaft/gefaehrdung-der-biodiversitaet, 01.12.2021. Zuletzt geprüft am 24.01.2022.

Barlösius, Eva (2016): Soziologie des Essens.

Nelson, Anitra & Fernwood, Ferne (2020): Food for degrowth – perspectives and practices.

 

Weitere Informationen zum Projekt:

Das FOOdIVERSE Projekt beschäftigt sich mit lokalen, nachhaltigen und ökologischen Ernährungssystemen in fünf europäischen Ländern: Norwegen, Großbritannien, Polen, Italien und Deutschland. Systematisch wird in dem Projekt die Vielfalt von Ernährungskultur und Ernährungsgewohnheiten, Lebensmittelversorgungsketten sowie von politischen Rahmenbedingungen und Interventionen hinsichtlich ihres Beitrages zu einer nachhaltigen Ernährungsversorgung untersucht. Ziel des Projektes ist es zu analysieren, was ein vielfältiges Konsum-, Versorgungs- und Produktionssystem im Lebensmittelbereich in den jeweiligen Regionen auszeichnet. Akteur*innen unterschiedlicher Bereiche des Ernährungssystems, aus der Landwirtschaft über die Verarbeitung bis zum Vertrieb und Verbrauch, treten im Rahmen des Projektes in Reallaboren in Dialog miteinander und entwickeln Ideen und Innovationen zur Förderung eines widerstandfähigeren Ernährungssystems.

Bärbel Mahr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Ernährungssoziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Nach dem Studium der Ökotrophologie an der Universität Bonn arbeitete sie in der Klinischen Forschung und im Lebensmitteleinzelhandel. Ihr großes Interesse liegt an der Erforschung, wie Ernährungssysteme nachhaltiger gestaltet werden können und wie die Transformation dorthin gelingen kann. Stefan Wahlen ist Professor für Ernährungssoziologie an der Justus-Liebig-Universität Giessen. Er studierte Ökotrophologie an der Universität Bonn und promovierte im Fach Verbraucherökonomik an der Universität Helsinki (Finnland). Im Anschluss war er am Lehrstuhl für Konsumsoziologie der Universität Wageningen (Niederlande) tätig. Seine Forschung widmet sich zum Einen der Ernährungskultur und Ernährungsweisen im Sinne eines „doing food“ sowie zum Anderen den organisationalen und sozio-politischen Dimensionen der Ernährung wie beispielsweise dem Einfluss von sozialen Bewegungen.

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